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Ägypten nach der Revolution: Auftakt zum Wahlmarathon

"Marsch der Millionen": Demonstranten auf dem Tahrir-Platz am 22. November 2011. Bild: gemeinfrei, Autor: Y. Weeks, Original: WikimediaCommons.

28. November 2011
Joachim Paul

Zehn Monate nach Beginn der Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die Hosni Mubaraks Rücktritt erzwungen haben, beginnen die ersten Mehrparteienwahlen in Ägypten. Für viele Beobachter stellen diese Wahlen einen Wendepunkt in der modernen Geschichte des Landes dar und einen wichtigen Schritt in der Übergangsphase von einer autoritären Militärdiktatur zu einem demokratischeren System. 

Unter Mubarak waren Wahlen bestenfalls ein Ventil, um steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu kanalisieren und die Opposition zu neutralisieren. Doch die Euphorie der ersten Revolutionsmonate ist einer breiten Skepsis gewichen. Damals galt der Oberste Militärrat als Hüter der Revolution und als Schutzschild der Demonstranten, die von den inneren Sicherheitsdiensten, bezahlten Schlägertrupps sowie der extrem unbeliebten Polizei angegriffen wurden. Noch im Februar und März wurde bei politischen Veranstaltungen und Treffen routinemäßig dem „Militär des Volkes“ für seine Rolle gedankt. Die Situation heute sieht anders aus. Die Revolution blieb an der Oberfläche und ist unvollendet. Der Militärrat hat das Notstandsrecht, mit dem Mubarak die legale Opposition ausgehebelt hat, verlängert und erweitert. Er ist in den letzten zehn Tagen dem wiederkehrenden Protest auf dem Tahrir-Platz mit brutaler Gewalt entgegen getreten. 41 Menschen verloren ihr Leben , über 2000 wurden verletzt. Statt die zivile Justiz zu stärken, fanden seit Februar 12.000 Verhandlungen vor Militärgerichten statt oder sind anhängig. Kritiker des Militärrats wurden seit Juni eingeschüchtert, verhaftet, sowie in Gefängnissen misshandelt. Am 30. Oktober wurde der bekannte ägyptische Blogger Alaa Abd al Fattah, der noch Anfang Oktober die arabische Blogger Konferenz in Tunis mit organisierte, wegen seiner Kritik an dem gewaltsamen Vorgehen des Militärs gegen überwiegend christliche Demonstranten vor dem Maspero Gebäudeam 9. Oktober, verhaftet.

Auch die zweite Säule der ägyptischen Protestbewegung, die unabhängigen Gewerkschaften und Arbeitervereinigungen wurde in ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit stark eingeschränkt. Streiks wurden verboten und Proteste untersagt. 

In dieser Atmosphäre scheint bestenfalls unklar, ob die Wahlen ein politisches System hervorbringen können, dass in der Lage sein wird, demokratische Kontrolle über die Sicherheitskräfte auszuüben. Das Wahlsystem ist an verwirrender Komplexität kaum zu überbieten. 

Die Einzelheiten legen die Überlegung nahe, dass hier demokratische Kontrolle durch autoritäre Bürokratie erstickt werden soll.

Die Wahlen zu den beiden Häusern des ägyptischen Parlaments erstrecken sich vom 28. November bis zum 11. März, gefolgt von den Präsidentschaftswahlen. Letztere hat Feldmarschall Tantawi in seiner Reaktion auf die Tahrir-Proteste angekündigt. 

Die ca. 50 Millionen Wahlberechtigten wählen 498 der 508 Sitze des Unterhauses. Zehn Sitze werden vom Militärrat bestimmt. 332 Abgeordnete werden durch Wahllisten in 46 Wahlkreisen ermittelt, während weitere 166 durch Direktwahl in 83 Wahlkreisen festgesetzt werden. 

Die Abstimmung findet in drei jeweils zweitägigen Wahlphasen statt. Die Wahlphasen sind nach Regierungsbezirken getrennt. So wählen z.B. Kairo, Alexandria und Assiut am 28.-29. November, mit Stichwahlen für die Direktkandidaten. Am 5.-6. Dezember wählen Ismailiya und Assuan, am 14.-15. Dezember Sinai, sowie Minya am 3.-4. Januar. Eine Woche später finden jeweils die Stichwahlen statt. Die Wahl des Oberhauses soll nach dem gleichen System vom 29. Januar bis zum 11. März erfolgen. Von den 270 Sitzen des Oberhauses werden 190 gewählt und 80 durch den Militärrat bestimmt. 

Bisher ist kein Termin für die Bekanntgabe der Wahlergebnisse festgesetzt, die erste Sitzung des Unterhauses soll am 17. März stattfinden.

Laut ägyptischem Wahlgesetz müssen die Wahlen in Anwesenheit von Justizbeamten stattfinden. Der Militärrat hat schon zu Beginn des Transformationsprozesses die Anwesenheit ausländischer Wahlbeobachter abgelehnt und den Wahlmarathon mit einer nur begrenzten Zahl ägyptischer Beobachter gerechtfertigt. Im Vergleich dazu hat es Tunesien geschafft, die Wahl zu der verfassungsgebenden Versammlung an einem Tag und in Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter ohne größere Zwischenfälle durchzuführen. Allein dieser Vergleich offenbart die enormen strukturellen Unterschiede zwischen den beiden arabischen Transformationsländern. 

Rolle des Militärrats

Der Militärrat hat in den letzten Tagen auf die Proteste und die Forderung nach der Übergabe der politischen Macht an zivile Institutionen durch die Entlassung der Regierung Essam Sharaf reagiert, ohne weitere Zugeständnisse zu machen. Gleichzeitig hat er die Bildung einer Nationalen Einheitsregierung ins Spiel gebracht, auf die im Falle ihrer Ernennung Befugnisse des Militärrats übertragen werden könnten. Gegenwärtig vereint der Militärrat, dem 20 Mitglieder angehören, weitgehende legislative und exekutive Macht, deren genaue Definition in den widersprüchlichen Entwicklungen nicht genau auszumachen ist. Welche Befugnisse eine nationale Einheitsregierung haben könnte und ob die Tahrir-Bewegung genügend politischen Druck mobilisieren kann, um sie tatsächlich einzurichten, bleibt fraglich. Als mögliche Chefs einer neuen Nationalen Einheitsregierung werden die beiden Präsidentschaftskandidaten Muhammad al Baradei, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde und Abd al Moneim al Fattouh, ehemaliges Mitglied des Lenkungsgremiums der Muslimbrüder, diskutiert. Unklar ist, welche Rolle der soeben durch den Militärrat ernannte neue Premierminister Karim al Ganzuri einzunehmen vermag.

Angesichts der ungewissen politischen Situation am Beginn der viermonatigen Wahlperiode für die zwei Kammern eines Parlaments, von dem wohl niemand mit Bestimmtheit voraussagen sagen kann, wie viel politische Bedeutung es haben wird, erscheint es sinnvoll das breite politische Spektrum im Hinblick auf ihre Position zu der politischen Rolle des Militärs zu betrachten. 

Hier wird deutlich, dass die politische Partei der Muslimbrüder, die "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" zusammen mit den konservativen Beharrungskräften an dem Militärrat festhalten und trotz des monströsen Wahlsystems auf die Übernahme politischer Macht durch den Transformationsprozess setzt. Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, die Gruppe der Muslimbruderjugend und die Demokratieaktivisten der Bewegung 6. April hingegen fordern die sofortige Übertragung politischer Befugnisse des Militärrats an eine befähigte zivile Regierung. 

Der Militärrat wird die Konfusion des Transformationsprozesses und die Unklarheiten des konstitutionellen Prozesses nutzen, um seine Befugnisse und Privilegien festzuschreiben und effektive Kontrolle einer gewählten Regierung über seinen Apparat so gering wie möglich zu halten.

Joachim Paul

ist seit 2012 Leiter des Regionalbüros Tunis der Heinrich-Böll-Stiftung. Davor leitete er das Regionalbüro Arabischer Naher Osten in Ramallah und war für UNICEF Spezialist für Humanitäre Programme u. a. in Gaza, Nordwest Pakistan und Nord Sri Lanka.

Dossier

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Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews: