Neue "grüne" Wachstumsgläubigkeit?

WWF Living Planet Report 2010, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

19. Mai 2011
Konrad Ott

Sortiert man die politischen Positionen, die sich mit den Fragen befassen, denen sich die neu eingesetzte Enquete Kommission „Wachstum Wohlstand Lebensqualität“ widmet, so kristallisieren sich zunächst folgende vier Positionen heraus:


1.  Wertkonservative Wachstumskritik, wie sie gegenwärtig die Gruppe um Meinhard Miegel vertritt. Es handelt sich hier um einen populären sozialen Konservatismus, wie er im 19 Jh. von W.H. Riehl vertreten wurde und der sich gegenwärtig u. a. auch in den Schriften von Paul Nolte und Konrad Adam findet. Die Lebenszufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten und die Massenloyalität zum politischen System der parlamentarischen Demokratie sollen im demographischen Wandel bei niedrigen BIP-Wachstumsraten und bei weiterhin bestehenden ökonomischen Ungleichheiten erhalten und gestärkt werden. Meinhard Miegel hat hierzu ein 4-Felder-Schema von Wohlfahrt entwickelt, dass die einseitige Orientierung am BIP-Wachstum ersetzen soll und Umweltgüter und soziale Inklusion berücksichtigt. Gemäß dieser Position sollen Kirchen, Ehrenämter, Familien, Freundschaften, Nachbarschaft, Vereine und Verbände als Institutionen einer substantiellen Sittlichkeit gestärkt werden und Bindungen stiften, die von vielen Menschen als wertvoller erfahren werden als Zuwächse an Einkommen und Vermögen. Diese Position kann sich etliche Befunde der neueren Glücksforschung aneignen.

2. Konzepte eines „Green New Deal“, wie sie von etlichen think tanks entwickelt worden sind. Es handelt sich hier zumeist um Varianten eines „grünen“ Keynesianismus in Verbindung mit „starken“, also nicht bloß inkrementellen Umweltinnovationen, die zu einer absoluten Reduzierung a) des materiellen Inputs in den Metabolismus der industriellen Produktion und b) zu einer Senkung seines Schadstoff-Outputs führen sollen. Der herkömmliche Begriff des BIP-Wachstums verschiebt sich hier in Richtung auf ein Konzepts von systemkonformer, aber umfassender Innovations- bzw. Investitionstätigkeit hin zu einem "grünen" Kapitalstock. Gestärkt werden soll auch der Schutz kollektiver Güter und Infrastrukturen. Im Rückblick auf die vergangenen Erfolgsgeschichten des technischen Umweltschutzes zeigt sich dieser Position zufolge, dass Umweltpolitik (Luftreinhaltung, Naherholung, Lärmschutz etc.) immer auch Momente von Sozialpolitik beinhaltet hat. Prominent vertreten wird dieser Ansatz von Ernst U. von Weizsäcker, Josef Huber und Martin Jänicke.

3.  Ansätze eines „Green Social Contract“, der politische, kulturelle und institutionelle Veränderungen als den „Motor“ begreift, der hinter den wünschenswerten umwelttechnologischen Innovationen liegt (Schneidewind 2011). Diese noch (zu) wenig ausgearbeiteten Ansätze stellen die Wichtigkeit technologischer Innovationen nicht in Frage, begreifen aber neue Institutionen bzw. Regelwerke, die das Wirtschaften im Sinne einer Idee ‚starker‘ Nachhaltigkeit regulieren können sollten, nicht nur als flankierende Maßnahmen technologischer Innovationen, sondern als den politischen Kern eines umfassenden Reformprozesses. Die Schnittmenge mit  „Green New Deal Positionen“ ist hoch; der Kern dieser Position sind jedoch politische Debatten und demokratische Aushandlungsprozesse zwischen Zivilgesellschaft, intermediären Akteuren und dem politischen System, in denen die integrative Kraft der Nachhaltigkeitsidee politisch spezifiziert wird. Das BIP verliert hier seine Bedeutung als Mess- und Kenngröße gesellschaftlicher Wohlfahrt und wird herabgestuft zu einem Indikator wirtschaftlicher Aktivität. Die Reformen der Regelwerke gehen von Handlungsfeldern der Umweltpolitik aus, greifen aber sukzessive auf andere Politikfelder über (Mobilität, Gesundheit, Arbeit, Steuern). Schritte in diese Richtung finden sich in den Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) aus den Jahren 2000 bis 2008), bei Franz Josef Radermacher (2002) sowie in eigenen Arbeiten (Ott & Döring 2007, 2008).

4. Neue Linke / Degrowth. Hier handelt es sich um ein Ensemble in sich heterogener Ansätze, deren Gemeinsamkeiten in einer Ablehnung von Wachstumsstrategien einschließlich von Rebound-Effekten, einer Krisendiagnose hochmoderner Industriegesellschaften und, vor allem, in Forderungen nach deutlicher Verkürzung der Arbeitszeit, nach Umverteilung von Einkommen und Vermögen, nach Begrenzung sozialer Ungleichheit, nach umfassender sozialer Absicherung, nach „ökosozialem“ Umbau usw. bestehen. Hier trifft man auch auf die These, dass die Akkumulationslogik des Kapitalismus unvereinbar mit einer nachhaltigen Entwicklung sei. Diese Position verfügt über eine attraktive Vokabelmannschaft („ökosozial“, „gerecht“, „emanzipatorisch“,  „armutsfest“, „echte statt formale Freiheit“, „partizipative Demokratie“ usw.) und sie kann sich auf politische Theoretiker und Philosophen berufen (Marcuse, Castoriadis, Gorz, Latouche, Martinez-Alier, Bonauiti, Hard/Negri, Agamben, Badiou u.a.).

Diese sicherlich etwas holzschnittartige Übersicht des Spektrums schien bis vor kurzem einigermaßen vollständig zu sein. Nun aber haben Ralf Fücks und Peter Sloterdijk in ihren Artikeln in „böll Thema 2/2011: Grenzen des Wachstums – Wachstum der Grenzen“ eine neue Position skizziert, die in aller Vorläufigkeit als eine visionäre Variante von „Green New Deal“ bezeichnet werden könnte. Die Schwäche von herkömmlichen „Green New Deal“ Ansätzen ist es ja, dass sie zwar mit vielen Daten aus dem Bereichen der Umweltindustrien und der -politik unterfüttert werden können (Berechnung des prozentualen Anteils von Umweltinnovationen in keynesianischen Programmen nach der Finanzkrise, Forschungen zur Diffusion von Umweltpolitiken, Abgrenzung von „End-of-Pipe“-Investitionen zu integrierten Umweltinnovationen, Wirkung von Einspeisevergütungen usw.), aber doch häufig ökonomielastig, technokratisch und damit wenig inspirierend wirken. Mit dem Ladenhüter des „qualitativen Wachstums“ und mit der „Erbsenzählerei“ der Umweltstatistiken weckt man im keine politischen Leidenschaften. Der „Green New Deal“ wird nun von Fücks und Sloterdijk radikalisiert und bekommt dabei zugleich philosophischen Esprit eingehaucht. Nennen wir diese neue Position „Vision Green Growth“. Ich gehe davon aus, dass beide Artikel im Zusammenhang betrachtet werden sollten, da sie im Ergebnis deutliche Parallelen und Affinitäten aufweisen und ihnen der Rekurs auf technikphilosophische Konzepte gemeinsam ist.  

Ralf Fücks greift in seinem Artikel über "Das Wachstum der Grenzen" auf Ernst Blochs Ideen zu einer sog. Allianztechnik zurück, wie sie Bloch im „Prinzip Hoffnung“ entwickelte. Unzweifelhaft entstammen Blochs Ideen der Tradition des Marxismus, der generell davon ausging, dass in einer post-kapitalistischen Gesellschaft die technischen Produktivkräfte noch einmal immens geseigert und auch qualitativ verändert werden könnten und sollten. Die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums sollten aus den hemmenden Widersprüchen des Spätkapitalismus befreit werden und üppiger fließen. Richtig ist, dass Bloch außer auf die romantische Naturphilosophie Schellings auch auf techno-utopische Ideen von Francis Bacon zurückgreift, wonach noch unendlich viele Erfindungen darauf warten, zum Wohle der Menschheit aus den Möglichkeiten befreit zu werden, die in der Natur latent vorhanden sind. Es ist daran zu erinnern, dass Hans Jonas in seinem „Prinzip Verantwortung“ Ernst Blochs marxistischen Technikutopismus scharf kritisiert hat (Jonas 1979).

Festzuhalten ist, dass durch Fücks Artikel die „Vision Green Growth"  eine respektable philosophische Ahnengalerie erhält (Bacon, Schelling, Marx, Bloch), durch die sie aus dem Milieu der „Zähler“ in den Reigen der (großen) „Erzählungen“ gerückt wird. Fücks avisiert „grüne“ Formen einer solchen Allianztechnik, für die die Bionik paradigmatisch ist und durch die die Weltwirtschaft innerhalb sicherer ökologischen Leitplanken gehalten werden kann und soll. Dies ist eine honorige Position, die allerdings durch den Artikel von Peter Sloterdijk („Wie groß ist ‚groß‘?“) noch einmal übersteigert wird.

Wie immer man über Sloterdijks Art zu philosophieren generell denken mag,  ist es fair zu sagen, dass Sloterdijk über Umweltfragen wortreich zu parlieren versteht, aber nie seriös auf diesem Gebiet geforscht hat. Es ist zudem nicht unfair, daran zu erinnern, dass Sloterdijk vor nicht allzu langer Zeit mit dem Gedanken eines Steuerstreiks der Begüterten gegen die Auswüchse des Sozialstaates geliebäugelt hat. Nach Ausführungen zu Buckminster Fullers Metapher vom „Raumschiff Erde“ und den seit den 1980er Jahren beliebten Assoziationen zwischen religiösen Erweckungsbewegungen und der, vereinfacht gesagt, Ökologiebewegung,  konstruiert Sloterdijk (2011) eine Art von Gigantomachie, d.h. „ein Ringen zwischen Expansionismus und Minimalismus“. Die minimalistische Seite dieser Gigantomachie wird mit abfälligen Bezeichnungen wie „meteorologischer Sozialismus“ und „ökologischer Puritanismus“ tituliert und mit dem Schreckgespenst des „ökologischen Kriegsrechtes“ in Verbindung gebracht. Für Nietzscheaner (und Sloterdijk darf man unter die Nietzscheaner rechnen) ist eine egalitaristische Suffizienzethik natürlich eine neue Variante einer Ressentimentmoral, die sich gegen all das wendet, was die Vornehmen sich als Luxus gönnen (dürfen).

Die Minimalisten könnten zwar mit ihrer Forderung nach einer Verzichtsethik angesichts ökologischer Grenzen recht haben, attraktiv ist ihr Programm für Sloterdijk sicherlich nicht. Sloterdijks Ehrgeiz geht nun dahin, zu zeigen, warum die Minimalisten letztlich auch nicht recht haben. Nur in „erster Lesung“ ist diese Ethik der Mäßigung alternativlos; auf den zweiten Blick hingegen wird ihre Haltlosigkeit offenkundig. Sloterdijk nennt hierfür drei Gründe. Erstens widerspricht sie den „Einsichten in die Triebkräfte der höheren Kulturen“, die auf eine „Liaison“ zwischen Selbsterhaltung und -steigerung angelegt sind. Dies ist eine essentialistische Kulturtheorie. Warum höhere Kulturen ohne eine solche Liaison, warum also ein kulturell hochstehender steady state nicht einmal denkmöglich sein soll, bleibt allerdings unklar. Und kulturelle Steigerung ist begrifflich nicht mit wirtschaftlichem Wachstum gleichzusetzen. Zweitens wird prognostisch angenommen, dass „die Menschen in den reichen Nationen“ ihren Wohlstand verteidigen werden. Dies ist nicht nur eine Prognose, wenn man weiß, dass Sloterdijk in anderen politischen Schriften dafür plädiert hat, dass die Erfolgreichen und Begüterten ihren Reichtum verteidigen dürfen. Wenn also Hoffnungen auf tiefgreifende kulturelle und politische Reformen aussichtslos sind, muss aus der Natur mehr herausgeholt werden, wenngleich gewiss intelligenter und kreativer als derzeitig.

Entscheidend für die „Vision Green Growth“ ist daher der dritte Punkt. Sloterdijk stellt die „monadologische“ Deutung der Erde als einer fixen Singularität in Frage. Das bekannte Bild vom Planeten Erde im All ist irreführend, weil es diese Singularitätsvorstellung fixiert. Die Idee, dass die Menschheit nur genau einen Planeten Erde als Wohnstatt hat, dessen Ressourcen  begrenzt und endlich sind, ist der Grundfehler der „Minimalisten“. Sloterdijk: „Bisher hat noch niemand bestimmt, was der Erdkörper vermag.“ In diesem lapidaren Satz werden alle Studien der letzten Jahrzehnte über Grenzen und Knappheit natürlicher Ressourcen (bzgl. Wälder, Böden, Trinkwasser, Klimasystem, Biodiversität, Urbanisierungsfolgen, Fischbestände, Schadstoffeinträge usw.), in denen solche Bestimmungen bezüglich einzelner Komponenten des biosphärischen Naturhaushaltes versucht wurden, beiseite gewischt und zur Makulatur erklärt. Der Diskurs über die Grenzen des Wachstums wird von Sloterdijk radikal entwertet. Stattdessen wird auf einem extremen Abstraktionsniveau gesagt, dass noch ungeahnte Entwicklungen möglich sind, wenn denn nur Geo- und Biosphäre durch eine intelligente und kreative Techno- und Noosphäre weiterentwickelt werden.

Aber wenn niemand weiß, was der Erdkörper vermag, wieso weiß Sloterdijk, was und wie viel noch möglich ist? Aus einem argumentum ad ignorantiam („wir wissen noch nicht“) lässt sich nichts Bestimmtes ableiten. Wenn die Leistungskapazität des Erdkörpers unbestimmt ist, könnte sie auch weit geringer sein als wir annehmen. Der anschließende Satz: „Es ist nicht a priori ausgeschlossen, dass hierdurch Effekte auftreten, die einer Multiplikation der Erde gleichkommen“ ist trivialerweise wahr. An diesem Punkt muss man philosophisch einhaken dürfen, denn Sloterdijk gilt ja als Philosoph. Da es sich um mögliche technische und empirische Entwicklungen handelt, die in Kantscher Terminologie a posteriori sind, d.h. in den Bereich der Erfahrungserkenntnis fallen, kann freilich nicht vor aller Erfahrung (d.h. a priori) ausgeschlossen werden, dass sich dieses oder jenes ereignen oder ergeben könnte. Der Satz klingt zwar gelehrt, ist aber nicht besser als der Satz, dass das Gesetz der Schwerkraft die Staatsform der Demokratie nicht ausschließt. Ausgerechnet diese Aussage findet sich als Klappentext auf der Rückseite des Heftes „böll Thema“. Aus „a priori nicht ausgeschlossen“ und „Bisher hat noch niemand bestimmt, was der Erdkörper vermag“ in Verbindung mit Sätzen wie dem, dass die Technik ihr letztes Wort noch nicht gesprochen habe (wer hat dies je behauptet?), folgt natürlich nicht, dass die technischen Entwicklungen, die einem Wachstum der Grenzen gleichkämen, sich tatsächlich einstellen werden. Die rhetorische Melange aus trivialen Richtigkeiten, auf die Sloterdijk sich jederzeit zurückziehen kann, mit verbaler Suggestionskraft soll die Vision eines „Hybridplaneten“ stützen, auf dem, wie es zuletzt heißt, „mehr möglich sein wird“. In der Sprache der Philosophie nennt man eine solche Argumentationsführung eine Erschleichung.

Ungeachtet vieler Krisendiagnosen brauchen wir offenbar nur den großen Hebel des technischen Fortschritts von Ausbeutung auf Koproduktion umzulegen, um uns (wie vielen von uns Erdenbürgern?) auf einem multiplikativ erweiterten Hybridplaneten weiter den Genüssen von Steigerung, Verschwendung, Luxus, Expressivität usw. hingeben. Wo bei Fücks noch der Gedanke an ein humanes Überleben aller Menschen präsent ist, geht es bei Sloterdijk in erster Linie um die Fortsetzung des Modus Vivendi der Wohlstandskulturen. Das ist nicht viel anders und nicht besser als das Diktum von Präsident Bush Senior, dass der US-amerikanische way of life nicht zur Debatte stehe.

Dieser Position fehlt zudem jeglicher Kontakt zu realer umwelttechnologischer Entwicklung. Wer sich einmal gründlicher mit Offshore-Windparken, der Einführung von Mikro-Irrigation, mit den Optionen der „grünen“ Gentechnik, mit CCS, mit Photovoltaik, mit Biomasse-Erzeugung und mit den Potentialen der Bionik usw. beschäftigt hat, dem dürfte die Alternative zwischen Hetero- und Homöotechnik als abstrakt und grobschlächtig erscheinen. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass sich ein Großdenker wie Sloterdijk in die Niederungen realer Technologieentwicklung hineinbegeben wird. Stattdessen wird gönnerhaft bemerkt, die kreativeren Köpfe der Umweltbewegung seien auch schon auf ähnliche Ideen gestoßen. Sloterdijk übersieht, dass die Protagonisten von „Faktor 4“ mittlerweile Zweifel an ihren Berechnungen haben, da die Rebound-Effekte eher unterschätzt worden sind.

Sloterdijks biomimetische Homöotechnik und Fücks Allianztechnik zielen jedenfalls in die gleiche Richtung. Der gedoppelte Titel von „böll Thema“ ist daher wohl tatsächlich so zu verstehen, dass den herkömmlichen Positionen „Grenzen des Wachstums“ nun im Kontext grüner Positionierungen eine konträre Position beigefügt wird, die das Wachstum der Grenzen befördern möchte und die bei Sloterdijk die alte Wachstums- und Technikgläubigkeit in eine fadenscheiniges „grünes“ Vokabular hüllt. Die eingangs skizzierten Positionen müssten nunmehr um eine fünfte Position erweitert werden:
 
1.   wertkonservative Wachstumskritik
2.   Green New Deal
3.   Vision Green Growth
4.   Green Social Contract
5.   Degrowth/Neue Linke.

Ob „Vision Green Growth“ nicht nur eine Erweiterung, sondern eine wirkliche Bereicherung der Diskussionslandschaft ist, wäre nun genauer zu erörtern. Zu erörtern wäre auch, was „Vision Green Growth“ von Ökonomen wie Julian Simon unterscheidet, für die es keine Grenzen des Wachstums geben konnte und durfte. Zudem wären die philosophischen Hintergründe dieser neuen Position genauer auszuleuchten.

Eine Schlussbemerkung sei erlaubt: Es wäre eine Vereinfachung, würde man diese idealtypischen Position unmittelbar parteipolitisch zuordnen, wenngleich gewisse Affinitäten nicht zu übersehen sind. Die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ muss diese Debatte unter ihrem eigenen Dach austragen, da sich Mitglieder der Partei von den unterschiedlichen Positionen und deren möglichen Kombinationen angesprochen fühlen dürften. Wertkonservative finden sich in unserer Partei bekanntlich ebenso wie Anhänger der Degrowth-Bewegung. Von der Stuttgarter Staatskanzlei bis zum Berliner Attac-Kongress gibt es viele diskursive Spielräume.

Die Position von „Vision Green Growth“ ist für die Partei von Bündnis 90/Die Grünen die ungewöhnlichste, da sie zumindest in den Formulierungen Sloterdijks die Auffassung von einer politisch veränderbaren Kultur und natürlichen Grenzen umkehrt zu einer Position, die die Grundlagen von höherer Kultur essentialistisch fixiert, die natürlichen Grenzen technologisch überwinden und den wirtschaftlichen Ertrag des Erdkörpers multiplizieren möchte. Genau darin liegt die Provokation seines Artikels. Wir sollten diese Provokation annehmen und sie - wie die neue Debatte über Wachstum, politische Regulierung und Lebensqualität generell - als Chance für die konzeptionelle, programmatische und strategische Ausrichtung der Partei von Bündnis 90/Die Grünen begreifen.


Literatur:
Bloch, E. (1978). Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände. Frankfurt/Main.
Fücks, R. (2011): Das Wachstum der Grenzen, in: böll Thema 2/2011, S. 4-6.
Jonas, H. (1979): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main.
Ott, K., Döring, R. (2007): Soziale Nachhaltigkeit: Suffizienz zwischen Lebensstilen und politischer Ökonomie, in: Jahrbuch Ökologische Ökonomik, Bd. 5, Marburg, S. 35-72.
Ott, K., Döring, R. (2008): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. 2. Auflage Marburg.
Radermacher, F.J. (2002): Balance oder Zerstörung. Wien.
Schneidewind, U. (2011): Nachhaltige Entwicklung - wo stehen wir? In: UNESCO heute. 2/2011, S. 7-10.
Sloterdijk, P. (2011): Wie groß ist 'groß'? in: böll Thema 2/2011, S. 12-16.

Konrad Ott ist Professor für Umweltethik am Philosophischen Institut der Universität Greifswald

Böll.Thema 2/2011

Grenzen des Wachstums. Wachstum der Grenzen.

Dieses Heft erörtert die Utopie einer „ökologischen“ Moderne aus unterschiedlichen Perspektiven. Peter Sloterdijk z.B. diskutiert die Alternativen eines auf Selbstbeschränkung zielenden grünen Puritanismus und einer Erweiterung der Grenzen der Natur durch eine Verschmelzung der Biosphäre mit der Technosphäre. Weitere Beiträge beziehen sich auf die weltweite Jagd nach Rohstoffen, die Lektionen aus der atomaren Katastrophe in Japan und auf die Diskussion um Wachstumsverzicht.

Buch

Wohlstand ohne Wachstum: Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt

Der britische Ökonom Tim Jackson skizziert in seinem Buch die Vision einer Postwachstumsökonomie, in der die Quellen für Wohlergehen und bleibenden Wohlstand erneuert und gestärkt werden.