Jahresversammlung der Grünen Akademie 16./ 17. Januar 2009
Von Torsten Arndt
Die Vereidigungszeremonie des neuen US-Präsidenten Barack Obama hat demonstriert, welch zentrale Rolle der Freiheitsbegriff in der politischen Rhetorik westlicher Demokratien spielen kann. In Deutschland wird die Freiheit im politischen Diskurs nur noch selten so emphatisch beschworen. Das Jahr 2009 bietet mit dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes und dem 20. Jahrestag des Mauerfalls gleich zwei Anlässe, um über Ursachen und mögliche Folgen dieser Zurückhaltung nachzudenken. Die Grüne Akademie nahm die Gelegenheit ihrer Jahresversammlung wahr und diskutierte am 16. und 17. Januar in der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin über das Wesen politischer Freiheit.
Gibt es Freiheit ohne den Staat?
"Der Sinn von Politik ist Freiheit." – Der berühmte Satz der deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt diente als Leitgedanke der Jahresversammlung und wurde vom Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß sofort kritisch hinterfragt. Preuß stellte fest, dass Arendt die Freiheit von der griechischen "Polis" herleite und Politik als Selbstorganisation der Bürger verstehe. Die zentrale Rolle des Staates in der modernen Massendemokratie werde von Arendt dagegen sträflich vernachlässigt. Ihr Freiheitsbegriff sei idealtypisch zu verstehen und als analytisches Instrument eher ungeeignet.
Mit seiner Kritik rückte Preuß gleich zu Beginn der Debatte das Verhältnis zwischen Staat und Bürger in den Mittelpunkt der Diskussion. Der Fehdehandschuh wurde sofort aufgegriffen. Bernd Ladwig, Juniorprofessor für politische Theorie an der FU Berlin, verteidigte Hanna Arendt mit der Feststellung, dass auch die moderne Gesellschaft zuallererst als Vereinigung politisch autonomer Individuen verstanden werden müsse. Der freie Wille dieser Bürger, nicht der Staat sei gesellschaftsbildend.Politikwissenschaftler Lothar Probst ergänzte, dass Arendts Verständnis von Freiheit auch aus historischer Perspektive modern sei, da sie auf die revolutionäre Erkämpfung der Freiheit "von unten" setze. Ein überzeugendes Beispiel für Arendts Aktualität sei die friedliche Revolution in der DDR, in der die Freiheit durch die Bevölkerung gegen den Staat errungen worden sei.
Wie frei war die DDR?
In der DDR-Verfassung hat es eine Reihe von Freiheitsrechten gegeben, die zu einer gewissen "Gleichheit" der Bürger geführt haben. Der einstige DDR-Bürgerrechtler Jens Reich ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass dies keine Rechtfertigung für DDR-Nostalgie sein könne. Politische Freiheit, wie sie in den Idealen der französischen und amerikanischen Revolution zum Ausdruck kommt, sei in der DDR nur außerhalb des autoritären Parteistaats möglich gewesen. Die "Freiheit" in der DDR-Verfassung sei Lippenbekenntnis geblieben und habe dem Zweck gedient, die Herrschaft der SED zu legitimieren und die Bürger zu entmündigen. Die Bürgerrechtsbewegung, die sich erfolgreich dagegen auflehnte, sei die größte deutsche Freiheitsbewegung gewesen. Etwas melancholisch stellte Reich fest, dass auf den Sieg 1989 die "Niederlage" der Bürgerrechtler durch die schnelle Wiedervereinigung nach Art.23 des Grundgesetzes gefolgt sei. Zur Freiheit gehöre es letztlich auch, die freie Entscheidung anderer zu ertragen.
Die Doppelrolle des Staates im Grundgesetz
Der Untergang der DDR bedeutet nicht, dass auch das Spannungsverhältnis zwischen Bürgern und Staat verschwunden ist. Freiheit wird in der breiten Öffentlichkeit bis heute zuallererst als Abwehrrecht gegen staatliche Zugriffe auf die private Existenz verstanden. Das Grundgesetz trägt dem Rechnung, indem es in Art.2 die allgemeine Handlungsfreiheit garantiert. In den weiteren Artikeln legt das Grundgesetz darüber hinaus zahlreiche gesellschaftliche Freiheitsrechte fest. Ulrich K. Preuß zufolge handelt es sich dabei um Rechte, die in ihrer kollektiven Ausübung den Charakter der demokratischen Gesellschaft prägen.
Im Hinblick auf die Freiheit schaffe das Grundgesetz auf diese Weise zwei Paradoxien, so Preuß. Zum einen trete der Staat sowohl als Bedrohung als auch als Beschützer und Garant der Freiheitsrechte der Bürger auf. Zum andern entstehe ein Spannungsverhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit: Persönliche Rechte können in gewissen Fällen eingeschränkt werden, um die gesellschaftlichen Freiheitsrechte zu sichern. Als Beispiel für einen derartigen Eingriff des Gesetzgebers nannte Preuß das Atomrecht, mit dem der Staat das Recht der Bürger auf körperliche Unversehrtheit schützen will.
Staat versus Zivilgesellschaft?
Das Grundgesetz kann nur den Rahmen der Freiheit setzen, konkret bestimmt wird sie in der politischen Praxis. Die Mitglieder der Grünen Akademie bemühten sich deshalb um eine Verortung der Freiheit in der grünen Politik. Viele waren sich darin einig, dass Freiheit heute eng mit den verfügbaren Handlungsoptionen der Bürger zusammen hängt. Die Doppelrolle des Staates als "Bedrohung" und "Garant" der Freiheit ließ sich auch hier nicht verdrängen. Peter Siller, Scientific Manager des Exzellenzclusters "Formation of Normative Orders" an der Universität Frankfurt/M., beklagte, dass zu viele Grüne den Staat als Gegner der Zivilgesellschaft betrachteten, gegen den es die Freiheit zu sichern gelte. Tatsächlich gehe es heute viel häufiger darum, Freiheit mit Hilfe und innerhalb der staatlichen Institutionen zu verteidigen. Joscha Schmierer, freier Publizist und politischer Berater, ergänzte, dass der Staat nicht auf die Exekutive reduziert werden dürfe. Auch das Parlament und die Gerichte gehörten dazu. Eine Beschränkung individueller Freiheitsrechte, z.B. im Kampf gegen den Klimawandel, sei durchaus legitim, wenn sie das Ergebnis eines transparenten legislativen Entscheidungsprozesses ist.
Zwischen Pragmatismus und "Öko-Diktatur"
Die Gefahr, die von der staatlichen Sicherung gesellschaftlicher Freiheit ausgeht, wurde in der Debatte der Grünen Akademie als "Paternalismus" bezeichnet. Bernd Ladwig kritisierte einige grüne Initiativen, die die Freiheit der Bürger durch immer mehr wohlgemeinte Vorschriften einzuschränken drohen. Dies komme bei vielen als Bevormundung an. Den Bürgern müsse weiterhin ermöglicht werden, sich auf die eigene Vernunft zu verlassen. Dass die Grünen hier nicht immer prinzipienfest argumentieren, zeigt sich Ladwig zufolge an den unterschiedlichen Standpunkten zur Patientenverfügung und zum Abtreibungsrecht.
Krista Sager reagierte auf die Kritik Bernd Ladwigs mit dem Hinweis, dass es in der Politik nicht immer möglich sei, Prinzipien widerspruchsfrei umzusetzen. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen verwies auf das skandinavische Familienrecht, das sehr viel paternalistischer organisiert sei als das deutsche. Im Bemühen um die Verringerung der Kinderarmut erzielten die Nordeuropäer dafür weit bessere Ergebnisse.
Die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um die Freiheit dieser und künftiger Generationen zu sichern, stellt sich auch beim Problem des Klimawandels. So wird das von der EU geplante Glühbirnenverbot von der FDP bereits als Beginn einer "Öko-Diktatur" gebrandmarkt. Peter Siller und Rebecca Harms, grüne Spitzenkandidatin für die Europawahl, stellten fest, dass derartige Kampagnen nur möglich seien, da das grüne Freiheitsverständnis bisher viel zu selten im ökologischen Diskurs auftauche. Staatliche Regulierung im Kampf gegen den Klimawandel sollte nicht länger als Freiheitsverlust gelten, sondern müsste offensiv als Sicherung künftiger Freiheit begründet werden.
Freiheit als Last
Freiheit als Vermehrung von Handlungsoptionen – diese Vorstellung muss nach Ansicht von Regina Kreide auch beinhalten, dass die Bürger ihre Handlungsoptionen erkennen und nutzen können. Die Vertretungsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Gießen betonte, dass das Problem nicht nur aus der Perspektive sozialpolitischer Umverteilung verstanden werden dürfe. Der Politikwissenschaftler Helmut Wiesenthal stimmte zu und plädierte für umfassende Reformen im Bildungswesen. Durch die Vermittlung von freiheitlichen Grundfertigkeiten und einer vernünftigen Reflexionsfähigkeit sollen künftige Generationen gezielt in die Lage versetzt werden, selbstbewusst mit der wachsenden Unsicherheit ihrer Lebenslagen umzugehen.
Der Möglichkeit von Freiheit wurde von einigen Akademiemitgliedern eine explizite Pflicht zur Freiheit zur Seite gestellt. In der Sozialpolitik müsse dies bedeuten, sich offen gegen Fürsorgeansprüche der Bürger auszusprechen. Rebecca Harms warnte in einer Entgegnung allerdings davor, eine staatliche Vernachlässigung der Stabilität und Sicherheit der Gesellschaft zu propagieren. In der Ukraine gebe es heute alle wichtigen Freiheitsrechte - der Staat drohe angesichts von wirtschaftlicher Krise und Armut trotzdem zu kollabieren.
Viele Versammlungsteilnehmer beklagten, dass sich in der Bevölkerung immer noch zu wenig Widerstand gegen sicherheitspolitisch begründete Freiheitsverluste rege. Es ist in der Tat etwas erschreckend, wenn das Bundesverfassungsgericht immer wieder als "letzte Bastion" gegen den schrittweisen Abbau der Bürgerrechte herhalten muss. Um den Bürgern wieder ein stärkeres Bewusstsein der eigenen Verantwortung für das politische Gemeinwesen zu vermitteln, dachte Willfried Maier, Philosoph und Senator a.D., über die Einführung einer Pflicht zur Bürgerarbeit als Ersatz für die faktisch abgeschaffte Wehrpflicht nach. Der Vorschlag stieß in der Versammlung auf Skepsis. Es wird sich zeigen, ob die USA unter Barack Obama auch hier inspirierend wirken: Der neue US-Präsident ist mit einer anspruchsvollen "Service-Agenda" zur Belebung des staatsbürgerlichen Engagements in seine erste Amtszeit gestartet.