Repräsentative, partizipatorische und aleatorische Demokratie

Die Grünen triumphieren in Umfragen, aber sie resignieren bei Fragen der Demokratiereform. Neue politische Akteure wie die Piratenpartei repräsentieren aktuell das Interesse für das Thema. Überlegungen zu Reformen der Demokratie, die auch für institutionelle Reformen innovativ sein könnten. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Demokratie.

Den Anlass für meine folgenden Überlegungen gab mir die Beobachtung einer merkwürdigen Dissonanz in der Wahrnehmung der Grünen. Die Grünen triumphieren in Umfragen, aber sie resignieren bei Fragen der Demokratiereform. Meines Erachtens sind die Grünen seit längerer Zeit demokratiepolitisch ortlos geworden und es sind eher sich politisch neu organisierende Akteure wie die ‚Piratenpartei’, die aktuell das Interesse für Demokratiereformen repräsentieren. Mit meinem Überlegungen möchte ich dazu beitragen, dass die Grünen/Bündnis 90 beim Thema Demokratiereform wieder etwas mehr Schwung bekommen.

Theoretisch unterscheiden wir bisher zwei Prinzipien: das repräsentative und das partizipative Prinzip. Sie als Dichotomie zu denken ist demokratiepolitisch längst unproduktiv geworden. Es ist erforderlich, über Brückenprinzipien nachzudenken – wozu ich im Folgenden einen Vorschlag machen möchte, der auch für institutionelle Reformen innovativ sein könnte. Ich gliedere meinen Beitrag in fünf Teile:

Erstens: Ein kurzer Blick auf alte und neue Begründungsmuster der repräsentativen Demokratie.

Zweitens: Probleme der Demokratie heute. Drittens möchte ich auf die morgige Diskussion vorgreifen und zwei kritische Beobachtungen zum Thema der partizipativen, direkten Demokratie vortragen. Viertens: Vorstellung der aleatorischen Demokratietheorie als Konzept. Fünftens: Zwei Reformvorschläge auf der Ebene der Europäischen Union.

Die klassischen Begründungsmuster der repräsentativen Demokratie

Die argumentativen Grundlagen, auf denen die Theorie der repräsentativen Demokratie aufruht, sind aus heutiger Sicht vergleichsweise alt. Sie stammen von ‚Vor-Denkern’ der kommenden politischen Entwicklungen, die ihre Traktate im 18. und 19. Jahrhundert verfasst hatten, und sie haben sich seitdem in ihrem argumentativen Kern kaum verändert.

Wichtig ist dabei, dass die repräsentative Demokratie von Seiten ihrer Befürworter – beispielsweise in der US-amerikanischen Verfassungsdebatte, im Nachklang der französischen Revolution oder im englischen und deutschen Linksliberalismus des 19. Jahrhunderts – nie als bloßer Ersatz für eine vermeintlich wirkliche Demokratie, bei der sich alle Bürger versammeln, verstanden wurde. Nach der ‚Ersatz-Doktrin’ besteht das ideale Original der Demokratie darin, dass sich die Bürger auch tatsächlich versammeln, um gemeinsam zu diskutieren und zu entscheiden. Nur die Tatsache, dass sich in dem größeren Territorium einer modernen Gesellschaft nicht mehr alle Bürger unmittelbar versammeln können, macht die Wahl von Vertretern nötig. ‚Besser’ sei aber natürlich das Original, weshalb man versucht, den gewählten Repräsentanten möglichst eng umrissene Aufträge von ihrer Wählerbasis mit auf den Weg zu geben.

Ganz anders argumentierten diejenigen, die die repräsentative Demokratie als einen politischen Ordnungstypus eigener Art verfochten. Für sie war die repräsentative Demokratie kein aus pragmatischen Gründen eingegangener Kompromiss mit den territorialen Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft, sondern sie war eine eigenständige und eine bessere Variante der Demokratie. Für diese Behauptung brachten sie vier Argumente in Anschlag:

 

  1. Eliten-Argument: Die Ausgangsüberlegung dieses Argument lautete, dass es bei der Wahl von Repräsentanten logischerweise zu einem Wettbewerb von mehreren Kandidaten kommen wird. Diesen Wettbewerb, so die Überlegung, gewinnt der Kandidat, der in den Augen der Wähler am besten für das Amt geeignet ist. Das sei derjenige, dem es gelungen ist, sich in den Wahlkampfdebatten oder später im politischen Amt am besten zu bewähren. Die repräsentative Demokratie erzeugt auf diese Weise demokratisch legitimierte Eliten (ein klassischer Vertreter dieses Arguments ist John Stuart Mill).

  2. Arbeitsteilungs-Argument. Das zweite Argument geht von der Beobachtung aus, dass sich die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausbildende moderne Gesellschaft zu einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft entwickelt hat. Nach dieser Logik soll auch Politik funktionieren. So wie es trainierter Spezialisten bedarf, um gute Schuhe, Dampfmaschinen oder Nano-Partikel-Beschichtungen herzustellen, so kann auch der immer komplizierter werdende politische Entscheidungsbetrieb nicht mehr von Gelegenheitspolitikern, sondern allein von echten Profis, die sich voll und ganz der Politik widmen, gemanagt werden (ein klassischer Vertreter dieses Arguments ist der französische Liberale Abbé Sieyès).

  3. Beratungs-Argument. Drittens wurde für den Vorrang der repräsentativen Demokratie ins Feld geführt, dass nur in einer nicht zu großen Versammlung von Menschen – entweder dem Plenum des Parlaments oder in seinen noch sehr viel kleineren Unterausschüssen – die Chance besteht, dass es zu einem besonnenen und fairen Austausch von Sachargumenten kommt. Die repräsentative Demokratie, so lautet die Schlussfolgerung, produziert aus diesem Grund klügere Entscheidungen als die große Versammlungsdemokratie oder die direkte Abstimmung durch die Bürger (ein klassischer Vertreter dieses Arguments ist der Franzose Alexis Tocqueville).

  4. Minderheitenschutz-Argument. Ein viertes Argument beruht auf einer Art politiktheoretischer Wahrscheinlichkeitsrechung. Sie besagt, dass in einer Versammlung von Repräsentanten, die aus einem großen und damit in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sehr heterogenem Einzugsbereich stammen, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese Repräsentanten auch eine größere Sensibilität für die Bedeutung des Minderheitenschutzes entwickeln und sich entsprechend mehr für die Rechte Einzelner einsetzen (klassische Vertreter dieses Arguments sind die Autoren der Federalist Papers in der amerikanischen Revolution).

Zusammengenommen bilden diese vier Argumentationsfiguren den Begründungskern der repräsentativen Demokratietheorie bis heute. Meine These ist, dass sich an diesem Argumentationsrepertoire bis heute nichts geändert hat. Auch das neue Buch von Pierre Rosanvallon ist im Kern durch diese Argumente gespeist, auch wenn er das institutionell anders übersetzt. Und ob nun Peter Graf Kielmansegg auf der eher liberal-konservativen Seite oder David Plotke und Nadia Urbinati aus der republikanisch-linken Richtung - sie bedienen sich alle aus diesem alten Argumentationshaushalt. Was grundsätzlich nichts Schlechtes ist, aber dann zum Problem wird, wenn sich die Erfahrungen, die wir mit der repräsentativen Demokratie machen, nicht mehr mit den hochgesteckten Erwartungen decken.

Probleme der Demokratie heute

Denn nach den Erfahrungen mit der Praxis von repräsentativen Demokratien haben alle vier Argumente mittlerweile Einiges an Glanz und Überzeugungskraft verloren. Zu den demokratischen Eliten gehören in Abweichung von der Theorie häufig nicht die Personen, die am besten für ihr politisches Amt geeignet wären, sondern solche, die beim Erringen von Plätzen für aussichtsreiche Kandidaturen in politischen Parteien die Geschicktesten waren und im modernen, über Massenmedien betriebenen Wahlkampf die meisten Sympathiepunkte gewinnen. Auch hat die Logik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mittlerweile die Arbeit von Parlamenten soweit durchdrungen, dass selbst Themen von allergrößter Wichtigkeit (wie die Krise des Finanzmarktkapitalismus und die damit verbundene Frage nach der Einrichtung von Rettungsschirmen für die Länder der Euro-Zone) innerhalb der Parlamentsfraktionen nur von einem kleinen Kreis von Fachpolitikern und ihren außerparlamentarischen Beratern entschieden werden, denen sich dann die anderen Abgeordneten (in der Regel fast ohne Ausnahme) im Rahmen der Fraktionsdisziplin blind anschließen. Zugleich ist die Beratungsfunktion der Repräsentativversammlung in Verruf geraten. Heutige Parlamentsdebatten dienen weniger der gemeinsamen politischen Willensbildung, sondern in erster Linie – und das ist natürlich auch eine ganz wichtige Funktion – der öffentlichwirksamen Darlegung von unterschiedlichen politischen Positionen der im Parlament vertretenen Parteien. Und schließlich ist der Schutz von Minderheitenrechten immer weniger eine Angelegenheit von Repräsentativversammlungen geworden, sondern ist in den Aufgabenbereich von Verfassungsgerichten gerückt, die ihn vielfach sogar gegen Gesetzesbeschlüsse von Parlamenten verteidigen mussten.

Nehmen wir noch einmal das Eliteargument und das Personalproblem - Politik als Beruf – genauer in den Blick und schauen uns die empirische Rekrutierungsforschung zu diesem Aspekt an. Wer geht heute in die Politik? Weniger, wie von den frühen Theoretikern formuliert, eine Elite im Sinne der Besten der gesamten Gesellschaft, sondern eher als Akteure in einem Subsystem funktionaler Differenzierung. Politik ist heute ein Job wie viele andere Tätigkeiten auch. Mit spezifischen Problemen, Vorteilen, nachteilen und Sorgen. Menschen gehen heute relativ früh professionell in die Politik (es gibt in diesem Zusammenhang den etwas schreienden Kalauer: Kreißsaal - Hörsaal – Plenarsaal).

Wenn man sich die Daten der Landtagsabgeordneten, Bundestagsabgeordneten ansieht, dann stellt man fest, dass es hier in den letzten Jahrzehnten einige markante berufssoziologische Veränderungen gibt. Darüber gibt es mittlerweile eine relativ gute Forschung die feststellt, dass es eine ‚politische Klasse’ - ich meine diesen Begriff nicht negativ – gibt, die sich zunehmend aus Hochschulabsolventen juristischer und sozialwissenschaftlicher Fächer rekrutiert. Berufspolitiker fast aller Couleur, aller Parteien entwickeln gemeinsame Interessen (z.B. bei der Bezahlung und Versorgung) und haben einen Hang zu einer gewissen Kartellbildung. So war das damals bei den Theoretikern eigentlich nicht gedacht. Sie dachten: Da geht jemand, der ein guter Apotheker ist, eine Weile in die Politik, geht dann zurück und wird vielleicht sogar noch ein besserer Apotheker. Eigentlich dachte man auch: die Besten aus allen Bereichen machen die Politik – es war nicht gedacht, dass ein Subsystem entsteht. Die damit verbundene Frage lautet: Menschen welchen Persönlichkeitstypus gehen heute in die Politik? Charakterlich braucht man eine gewisse Extrovertiertheit. Man muss eine bestimmte Persönlichkeit haben, um in einer Partei voranzukommen, um sich in der Regierungs- beziehungsweise Oppositionsarbeit durchzusetzen, um in Talkshows zu brillieren. Und man muss leidensfähig sein und braucht Frustrationstoleranz. Das Persönlichkeitsprofil, das heute notwendig ist, um als Politiker erfolgreich zu sein, umfasst möglicherweise nicht zwingend vorrangig politische Problemlösungskompetenz.

Ich möchte diese Befunde nicht im Einzelnen weiter durchgehen und möchte sie vor allem nicht populistisch. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass wir die vier vorhin aufgelisteten klassischen Argumentationsfamilien für die repräsentative Demokratie haben, und dass möglicherweise nicht nur für das Elitenargument, sondern auch für das Arbeitsteilungsargument, das Minderheitenschutzargument und das Deliberationsargument heute Problemlagen aufgetreten sind, die die alten Argumente möglicherweise etwas schwächer werden lassen. Zusammengenommen lautet meine These an dieser Stelle: Auch wenn keines der vier traditionellen Argumente für die repräsentative Demokratie heute völlig obsolet geworden ist, so lässt sich nach unseren Erfahrungen mit der Praxis einer auf Wahlen basierenden repräsentativen Demokratie keines von ihnen mehr ohne Abstrich aufrechterhalten.

Legitimationsprobleme bisheriger Reformvorschläge

Die Reformvorschläge, die als Antworten auf die angedeuteten Probleme, präsentiert werden, lassen sich danach sortieren, aus welcher Richtung die Reparatur erfolgen soll. Der Politikwissenschaftler Claus Offe hat in diesem Zusammenhang zwischen drei Richtungspfeilen von Reformbemühungen unterschieden. Einmal ‚von unten’, indem man die Einflussmöglichkeiten der Bürger stärkt, etwa durch die Etablierung der direkten Demokratie, durch neue Verfahren der Bürgerbeteiligung, durch Kampagnen für politisch motivierte Konsumentenentscheidungen oder mit Hilfe des Internet, wie es seit Herbst letzten Jahres die unter jüngeren Wählern immer beliebter werdende Piratenpartei mit ihrer ‚Liquid Democracy’ versucht. Ein anderer reformpolitischer Richtungspfeil setzt ‚von oben’ an und zielt darauf ab, verantwortliche Gremien zu stärken, die aus dem politischen Dauerkonflikt herausgehalten werden. Zu dieser Strategie gehört beispielsweise die Einrichtung oder Stärkung von Verfassungsgerichten, Zentralbanken, Bewertungsagenturen, ausgelagerten Kommissionen mit weit reichender Entscheidungskompetenz oder eines Ökologischen Rates, der die Rechte zukünftiger Generationen und der Natur sichern helfen soll (wie ihn u.a. Tine Stein vorgeschlagen hat). Drittens schließlich gibt es eine Reihe an Reformvorschlägen, die gleichsam ‚seitwärts’ zwischen den politischen Institutionen ansetzen. Dazu zählen unter anderen Überlegungen zur besseren Beteiligung von Bürgerinitiativen und Verbänden, zu Änderungen im Parteiwesen oder als großes Dauerthema der bundesdeutschen Politik die (erneute) Föderalismusreform.

Nun gehört es ohne Zweifel zur Tradition der Grünen/Bündnis 90, dass sich ihre Mitgleider und Anhänger vor allem für solche Reformvorhaben interessieren und begeistern lassen, die ‚von unten’ ansetzen. Dazu gehören unter der Überschrift ‚direkte Demokratie’ in erster Linie Referenden, aber auch andere neue Formen von Bürgerbeteiligungen sowie Protestkundgebungen oder politischer Konsumboykott. Im Folgenden möchte ich beispielhaft für diese Aktionsformen wenigstens kurz auf Referenden eingehen, denn sie werden in den öffentlichen Diskussionen zum Reformbedarf unserer Demokratie am häufigsten geradezu als Königsweg angesehen.

Referenden, darunter verstehe ich die direkte Abstimmung der Bürger über einzelne Sachthemen, gibt es in vielfältigen Formen und sie haben in modernen Demokratien – die USA und die Schweiz sind die bekanntesten Beispiele – mittlerweile eine längere Tradition. In der Bundesrepublik Deutschland finden wir sie sowohl auf kommunaler wie auf Länderebene. Vielfach gefordert wird ihre Einrichtung auch für die Ebene des Bundes sowie auch für das Politische System der Europäischen Union.

Aus der politikwissenschaftlichen Forschung kennen wir nicht nur die Vorzüge, welche die Abhaltung von Referenden bieten. Sicher, die alten Vorwürfe und Bedenken, etwa dass Referenden in erster Linie Demagogen begünstigen würden oder dass rechtspopulistisches Gedankengut auf diese Weise zur besseren Durchsetzung gelange, sind in dieser Allgemeinheit längst widerlegt. Aber es gibt doch einige andere Effekte und Nebenwirkungen dieser Art von ‚Politik von unten’, bei denen ich vermute, dass sie von vielen ihrer Anhänger gar nicht beabsichtigt sind.

Aus Zeitgründen möchte ich nur zwei dieser Nebenwirkungen kurz auflisten. Die erste ist die soziale Trennung. Die grundlegende Idee des Referendums besteht darin, dass die Bevölkerung direkt und unmittelbar über ein Thema entscheiden soll, und zwar ohne die Zwischenschaltung von parteipolitischen, wirtschaftlichen oder anderen Interessen. An diese Erwartung schließt sich die folgende Frage an: Inwieweit entscheidet ‚die Bevölkerung’ tatsächlich bei einem solchen Referendum? Eine ganze Reihe von empirischen Forschungen über die tatsächliche Teilnahme an Referenden – sei es auf kommunaler, regionaler oder auch nationaler Ebene – kommen (bis auf ganz wenige besonders gelagerte Fälle) in einem Befund überein: Die Beteiligung der Bürger an solchen Abstimmungen ist deutlich geringer als ihre Beteiligung an allgemeinen Wahlen. Noch etwas anderes sticht bei den Befunden ins Auge: Die Angehörigen unterer Schichten der Gesellschaft bleiben solchen Abstimmungen deutlich überproportional fern. Durchgängig gilt für Referenden folgende Regel: Je geringer die Beteiligung daran ist, desto größer ist dieser soziale Trennungseffekt zu beobachten. Besonders augenfällig wurde dies in Deutschland zuletzt bei der Abstimmung über die Hamburger Schulpolitik, bei der 21 % der Bürger eine parlamentarisch gefällte Entscheidung revidiert haben. Es ist nicht die gesamte Bevölkerung, die sich an Referenden beteiligt, sondern es sind in der Regel solche Bürger, die zu den obersten beiden Dritteln der Gesellschaft gehören.

Der beschriebene soziale Trennungseffekt gilt im Übrigen in noch größerem Maße für andere politische Beteiligungsformen. So sinkt der Anteil der Bereitschaft der Bürger mit geringerem Einkommen und geringerem Bildungsgrad sich über Wählen und Abstimmen hinaus an anderen Former politischer Aktivität zu beteiligen (Abzeichen tragen, Petition unterschreiben, Mitarbeit in Partei, Produkt boykottieren, Teilnahme an Demonstration) in weitaus größerem Maße, als unter den besser Verdienenden und besser Gebildeten. Dieses Phänomen findet sich auch in solchen neuen Formen der Bürgerbeteiligung wie Bürgerforen, Konsensuskonferenzen oder Mediation. Auch hier, stärker noch als bei allgemeinen Wahlen, sind die Institutionen der viel beschworenen Bürgergesellschaft in erster Linie ein Tummelfeld von akademischen Mittelschichten und nicht von bildungsfernen Sozialgruppen. Im neuen Heft „Mittelweg“ (vom Mai 2010) findet sich diesbezüglich eine Analyse und zuvor gab es eine Göttinger Studie zu dieser Frage. In der neuen Göttinger Studie finden sich folgende Zahlen: Wenn man sich die Protestpopulation gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 anschaut, so sind das im Prinzip die klassischen grünen Klientel. Es sind Bürger, die zu 80, 90 Prozent Grün wählen und die ein deutlich höheres Bildungsniveau haben als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die These, dass bei Stuttgart 21 diejenigen auf der Straße stünden, die vorher CDU gewählt und darüber jetzt ein Erweckungserlebnis hätten, stimmt empirisch einfach nicht.

Die ‚aktive Bürgergesellschaft’ vergrößert die soziale Schere zwischen gesellschaftlich Erfolgreichen und dem sozialen Unten. Dies zeigt auch eine Studie von Armin Schäfer (Max Planck Institut für Gesellschaftswissenschaften, Köln). Beginnen wir mit der Wahl. Beim Wählen ist der gemessene Anteil derjenigen, die über höhere Bildung verfügen gegenüber den weniger gebildeten um 4% sozial verzerrt. Damit sind Wahlen die am meisten ‚egalitären’ Formen politischen Handeln. Denn die soziale Verzerrung ist bei allen anderen politischen Beteiligungsformen deutlich höher: Nehmen wir die Unterschriftenliste. Hier sind es bereits 43 Prozent. Die Bürgerinitiative: Hier sind es 59 Prozent. Der Konsumentenboykott: 63 Prozent. Die Demonstration: 80 Prozent. Der engagierte Online-Protest (mit oder ohne Piraten): 83 Prozent.

Das bedeutet mit anderen Worten: in allen diesen anderen - früher als ‚nichtkonventionell’ bezeichneten - Protest- und Beteiligungsformen ist der Verzerrungsindex hinsichtlich des Bildungsgrades sehr viel markanter als beim Wählen.

Ein zweites Problem in diesem Zusammenhang ist die Thematisierungsfähigkeit. Referenden werden nicht einfach von ‚der Bevölkerung’ initiiert, sondern es bedarf dafür aktiver Menschen, die eine solche Volksabstimmung in Gang setzen. Dies sind beispielsweise Aktivisten aus Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen, den Kirchen und Glaubensgemeinschaften oder aus wirtschaftlichen Interessengruppen, zuweilen sind es auch politische Parteien oder sogar die Regierung. In jedem Fall sind es ressourcenstarke Akteure, die häufig zur Mittelschicht oder höheren sozialen Schichten gehören und über ein gehobenes Maß an Organisations- und Kampagnenfähigkeit verfügen. In den USA haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene professionelle Firmen gegründet, die von der ersten Unterschriftensammlung über die Werbekampagne bis zur endgültigen Stimmeneinsammlung einen ‚full-service’ für finanzstarke Akteure auf dem politischen Markt anbieten. Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern, wenn man von Forschern im Fach Politikwissenschaft des Weiteren erfährt, dass Referendumsentscheidungen zu finanz- und sozialpolitischen Fragen (gut belegt ist dies für die USA und die Schweiz) vor allem den Interessen der sozial besser gestellten Hälfte der Gesellschaft zugute gekommen sind. Diejenigen hingegen, die auf staatlich finanzierte Transferleistungen stärker angewiesen sind – sei es in den Bereichen von Bildung, Gesundheit oder Arbeitsmarktpolitik –, haben bei Referenden in der Regel das Nachsehen.

Im Ergebnis setzen diese Effekte eine von vielen Befürwortern von Referenden sicher nicht beabsichtigte politische Exklusions-Spirale in Gang: An Referenden beteiligen sich vor allem die oberen Zwei-Drittel der Bevölkerung, die dann häufig zu Entscheidungen gegen die Interessen des unteres Drittels ausfallen, wodurch deren prekäre Situation weiter verfestigt wird. Die Hoffnung, durch mehr direkte Demokratie zu mehr und zu besserer Demokratie zu gelangen, trügt. Die direkte Demokratie – für die Grünen ist dies meine These, die ich Ihnen ganz unverblümt sagen möchte – ist nach einer gründlichen Interpretation der entsprechenden Sozialdaten als ein politisches Projekt der gut ausgebildeten Mittelschichten zu erkennen.

Abhilfe ist nicht leicht möglich, da die neuen Formen der Bürgerbeteiligung von ihrer Freiwilligkeit und von der Freude, das zu machen, leben und zehren. Hier sehe ich ein Problem für die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen, die so zustande gekommen sind. Es wird hier eine Lücke aufgerissen, die meines Erachtens entweder dadurch gefüllt werden kann, dass bestimmte Bürger sich weiterhin nicht beteiligen oder aber, dass sie bei allgemeinen Wahlen Politikangebote annehmen, die vermeintlich ihre Interessen stärker füllen. Das heißt, es reißt eine Lücke für rechtspopulistische Parteien auf. Auch das ist ein altes Problem, und insbesondere mit Blick auf die demokratiepolitische Idee, diese neuen Bürgerbeteiligungsformen noch stärker zu fördern, erlangt das Problem neue und größere Brisanz für die Grünen.

Das Konzept der aleatorischen Demokratietheorie

Angesichts der geschilderten Probleme möchte ich deshalb einen weiteren möglichen Reformpfad nennen und damit eine dritte Variante ins Spiel bringen: die aleatorische Demokratietheorie.

Der Ausdruck: ‚Aleatorisch’ leitet sich vom lateinischen Wort ‚alea = der Würfel’ ab und meint ‚nach einem Zufallsverfahren entstanden’. Für die Lateiner unter uns hat das Wort im Übrigen noch eine Doppelbedeutung: Es heißt auch „Wagnis“. Aber das möchte ich hier gar nicht so laut herausposaunen, denn ich möchte ja Werbung machen für die aleatorische Demokratietheorie und nicht gleich mit dem Wagnis anfangen.

Aleatorik und aleatorische Verfahren kennen wir z.B. aus der Musik: Mozart, Cage, Stockhausen. Auch aus der Dichtung von Novalis bis Dada. Mich interessiert aber natürlich die Aleatorik in der Politik. Was kann man unter einer Politischen Theorie der Aleatorik verstehen? Nun, sie versucht, das Moment des Ungewissen, das Moment des Zufalls, als eine Verfahrenskomponente in der Politik systematisch und produktiv in ihre Überlegungen aufzunehmen. Das heißt, der Zufall, das Ungewisse wird hier nicht primär negativ unter der Bedrohungsperspektive betrachtet (bei der Wahrscheinlichkeitsrechung über Atomunfälle haben wir diesen Fall von Risiko-Kommunikation). In solchen Fällen ist das Unsichere das, was wir aus guten Gründen vermeiden wollen.

In der Aleatorik wird demgegenüber das Ungewisse nach seinem produktiven Potenzial gefragt. Damit sind wir auch gleich bei der Frage der künstlichen und technischen Herstellung von Zufallsentscheidungen. Diese haben eine lange Tradition im Handeln der Menschen. Man kann Hölzchen ziehen, würfeln oder losen. Auch in der Politik hat das Losen eine lange Tradition. In der Athenischen Demokratie wurden fast alle Ämter mit Hilfe von Marmorapparaturen ausgelost (es existierten nur sehr wenige Wahlämter). Doch der Athen-Bezug verengt den politischen Gebrauch des Losens ganz häufig auf seine ausschließlich radikaldemokratische Nutzbarmachung. Denn genau diese Engführung möchte ich im Zusammenhang mit dem Thema ‚Legitimationspolitik im Wandel’ vermeiden. Denn die Einschaltung des Instruments Zufall kann in vielen Bereichen helfen, Dinge zu optimieren, zum Beispiel bei der Verteilung von Gütern: wie die Verteilung von Schulplätzen in Neuseeland oder in England, oder von Studienplätzen für Medizin in Holland nach gewichteten Lotterien. Aleatorik kann in der Politik prinzipiell ganz Verschiedenes leisten: Sie kann Partizipation erhöhen (wenn die Teilnehmer ausgelost werden), sie kann an anderen Stellen für Effizienz sorgen (wenn schnell per Los entschieden wird), sie kann als ein Antikorruptivum wirken (wenn der Zufall die Ämterpositionen neu mischt). Die aleatorische Demokratietheorie zehrt von der Multifunktionalität des Losens.

Lassen Sie mich zunächst einige Beispiele nennen, bei denen das Losen bereits als Legitimationshilfe in der Politik eingesetzt wird.

Ein Beispiel ist die Diätenkommission im US-Staat Washington. Es war dort ein populistisches Dauerthema, dass die Politiker zu viel verdienen. Diejenigen, die die USA und ihr Politiker-Bashing kennen, wissen, wie schwierig es für die politische Klasse ist, sich von dem Vorwurf freizumachen, sie würde nur absahnen wollen. 1986 wurde nach einer großen Debatte dann die Verfassung des Staates Washington geändert, und seit über 20 Jahren gibt es dort eine Kommission, die aus zwölf Personen zusammengesetzt ist. Sieben sind aus den Bürgern Washingtons hineingelost, fünf sind Experten in Steuerrechtsfragen, Experten in Fragen von Bezahlungen in großen Firmen und Ähnlichem. Die ‚Lospersonen’ haben also eine Mehrheit. Seit 1986 werden im Staate Washington die Gehaltszahlungen für den gesamten öffentlichen Sektor, inklusive Parlamentarier, von dieser Halb-Los-Kammer festgelegt (wenn dort die Diäten festgesetzt werden, werden sie nicht nur für Parlamentarier festgesetzt, sondern für den gesamten Bereich der Exekutive). Im Ergebnis hat sich die Bezahlung übrigens nicht großartig verändert, und sie ist auch nicht viel anders als in anderen US-Staaten. Warum also betreibt man das Ganze? Man macht es, weil es den zweiten Effekt hat, dass die Glaubwürdigkeit der Sachentscheidung viel stärker akzeptiert wird, wenn Bürger wissen, dass andere Bürger wie sie, die einfach nur hineingelost worden sind, mitdiskutieren, mit überlegen, und mitentscheiden können und ihnen ihre Entscheidungsgründe darlegen.

Mein anderes Beispiel stammt aus China. China hat ein autoritäres, diktatorisches politisches System, ein politisches System, das sich in den letzten Jahren nicht wesentlich reformiert hat. Zwar wurden gewisse rechtsstaatliche Momente im Verwaltungsbereich und im ökonomischen Bereich gestärkt, nicht aber die Bereiche, die aus menschenrechtlicher und demokratiepolitischer Sicht relevant sind. Dennoch gibt es zumindest auf kommunaler Ebene einige interessante Experimente.

Worum geht es? In China haben viele Kommunen ein Problem, von dem deutsche Kommunalpolitiker nicht einmal mehr zu träumen wagen: Was soll man mit den immensen Gewerbesteuerüberschüssen anfangen? Wo sollen sie kommunal sinnvoll ausgegeben werden? Man kann das Geld so verteilen, wie in China häufig Politik gemacht wird: die Partei plus einige Experten setzen sich zusammen und entscheiden für dieses oder das: einen Kindergarten, eine Umgehungsstraße, Umweltschutz etc. Tatsächlich aber gibt es auch einige Kommunen, in denen Bürger ausgelost werden, die die Hausaufgabe bekommen, in gemeinsamen Versammlungen darüber nachzudenken, wie die Überschüsse am sinnvollsten investiert werden können. Diese Verfahren haben einen systemfunktionalen Aspekt für die Diktatur, das Einparteiensystem, denn die andere Alternative zu diesem Verfahren wäre eine öffentliche Diskussion darüber. Die aber könnte unabsehbare Folgen haben: vielleicht würden sich auch Parteien gründen, was sofort zu Friktionen und Auseinandersetzung führen würde. Stattdessen hat man diese Entscheidungen an ein ausgelostes Gremium gleichsam outgesourct mit dem doppelten Effekt, dass (1) Entscheidungen getroffen werden, bei denen die Bürger mitreden können, und dass es (2) systemfunktional für den Bestand des Regimes ist. Französische Kollegen von mir forschen zusammen mit einigen chinesischen Kollegen, wie offen die Beratungen in diesen kommunalen Loskammern verlaufen. Soweit wie ich den Forschungsstand von ihnen kenne, sind die Diskussionen überraschend offen: Es wird mit unterschiedlichen Ansichten diskutiert und von der Partei wird, zumindest in den Kommunen, von denen ich gehört habe, nicht weiter versucht, Einfluss zu nehmen. Möglicherweise gibt es längerfristige spill-over-Effekte solcher Verfahren und sie tragen, entgegen der Funktionalisierungsabsicht der lokalen Parteieliten, zu Entstehung einer demnokratischen politischen Kultur vor Ort bei. Auf jeden fall lohnt es sich, diese Verfahren weiter zu beobachten.

In Europa und den USA haben solche Losgremien mittlerweile eine Tradition von fast 2 Jahrzehnten Mittlerweile sind Hunderte solcher Gremien sind analysiert und erforscht worden. Man stellt fest, dass es eine soziale Selektivität gibt, wenn auch lange nicht so stark wie bei gewählten Gremien. Das ist nicht wirklich überraschend, denn die Mitwirkung bei diesen Pilotprojekten ist ja freiwillig und keine Pflicht. Zu den befunden gehört auch, dass sich bestimmte Befürchtungen, die im Vorfeld geäußert wurden, nicht bewahrheiteten: So die Sorge, dass diejenigen, die professionell reden können, gleich die ganze Versammlung dominieren; empirische Untersuchungen zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Wenn sie die Teilnehmenden sich in kleine Gruppen aufteilen, wird facettenreich diskutiert und beraten. Es wird in diesen Losgremien auch weniger polarisiert als in gewählten Veranstaltungen, wo meistens klar ist, dass man eine bestimmte Klientel repräsentiert.

Das Aleatorische möchte ich nicht als die Alternative darstellen. Es soll die repräsentative Demokratie ergänzen, und zwar da, wo es sinnvoll ist. Ich glaube, dass es häufiger sinnvoll ist, als wir denken.

Zwei Reformvorschläge auf der Ebene der Europäischen Union

Ich möchte nun zwei Reformvorschläge nennen, die ich vor allem mit Blick auf die Legitimation im Wandel an die Aleatorik ankoppeln möchte. Beide Beispiele beziehen sich auf die Ebene der Europäischen Union. Die bisherigen Vorschläge zur Behebung des europäischen Demokratiedefizits – Parlamentarisierung, Output-Legitimation und Präsidentialisierung – bewegen sich weitgehend im Rahmen nationalstaatlicher Muster. Doch eine Demokratisierung der EU benötigt zusätzlich neue institutionelle Formen. An dieser Stelle der Debatte über die EU setzt das Plädoyer für das Los ein. Denn der richtig dosierte Einbau von Losverfahren in das Regierungssystem der EU verfügt über Reformpotentiale, die unabhängig voneinander sowohl die Effizienz-Legitimation (1) als auch die Repräsentativitäts-Legitimation (2) der politischen Institutionen der EU erhöhen können.

Beginnen wir mit dem Kriterium der Effizienzerhöhung. Michael Hein und ich haben vorgeschlagen, die EU-Kommission auf 15 Mitglieder einschließlich des Kommissionspräsidenten zu verkleinern – so, wie es im Übrigen bereits der 2005 gescheiterte Verfassungsvertrag vorgesehen hatte. Die politische Ratio dieser Reduktion besteht darin, eine schlagkräftige und effiziente Kommission zu formieren. Die Kompetenzen ihrer Mitglieder hätten dann einen angemessenen Umfang und litten nicht mehr unter dem derzeitigen Regime der Zuständigkeitszersplitterung. Die alle fünf Jahre vorzunehmende Verteilung der 15 Kommissionsplätze auf die (27 oder mehr) Mitgliedsstaaten sollte jedoch nicht ausgehandelt, sondern durch eine gewichtete Lotterie entschieden werden. Mit diesem einfachen Verfahren würde allen Ländern Fairness garantiert. Als Kriterium für die Losgewichtung diente die Bevölkerungszahl der Staaten, wobei wir für die Berechnung der genauen Quoten vorschlagen, analog zum Europäischen Parlament das Prinzip der degressiven Proportionalität anzuwenden. Dieses durch den Lissabonner Vertrag zur Verkleinerung des Parlaments eingeführte Prinzip sieht eine leichte Unterrepräsentation der großen Mitgliedsländer (um maximal 23 Prozent) und demgegenüber eine deutliche Überrepräsentation der kleinsten Mitglieder (um bis zu knapp 900 Prozent) vor. Damit wird erreicht, dass die kleinen und kleinsten Mitgliedsstaaten eine nennenswerte bzw. überhaupt eine Beteiligung am Parlament erhalten, während das Gewicht der sechs größten Mitglieder leicht abgeschwächt wird.

Durch eine solcherart gewichtete Verlosung der 15 Plätze in der Kommission erhielte jeder Staat alle fünf Jahre die Chance, maximal ein Kommissionsmitglied zu stellen. Bei der jeweils direkt nach den Europawahlen stattfindenden Lotterie würde in einer öffentlichen Zeremonie ausgelost, welche Länder in der neuen Legislaturperiode in der Kommission vertreten wären. Am sonstigen Modus der Bestellung des Kommissionspräsidenten und der Kommissare änderte sich hingegen nichts. Das Los soll diesen Prozess also nicht etwa entpolitisieren. Der einzige Unterschied zu heute bestünde darin, dass nicht alle EU-Staaten, sondern nur ein Teil von ihnen je ein (und nur ein) Kommissionsmitglied vorschlagen könnten. Aufgrund der enormen Unterschiede der Losquoten wären zwar die großen Länder mit hoher Wahrscheinlichkeit in jeder Kommission vertreten. Demgegenüber hätten die kleinen Länder wohl nicht immer ein Mitglied in der Kommission, erhielten im positiven Fall jedoch ausschließlich einflussreiche Ämter, und müssten sich nicht mehr mit einzelnen und für sich genommen eher unbedeutenden Zuständigkeiten wie der „Mehrsprachigkeit“ oder der „Digitalen Agenda“ zufrieden geben.

Alle fünf Jahre wären wieder alle Mitgliedsstaaten im Lostopf, gegebenenfalls mit der Bevölkerungsentwicklung angepassten Losquoten. Durch das Gesetz der großen Zahl würde sich dadurch auf lange Sicht in etwa eine Verteilung entsprechend der degressiven Proportionalitätsquoten ergeben – es würde also ein mit dem Europäischen Parlament vergleichbares Maß an Repräsentativität erreicht. Zugleich wäre die vom Vertrag von Lissabon formulierte Anforderung für die Verkleinerung der Kommission erfüllt, „das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten“ zu berücksichtigen (so § 17, Abs. 5 EUV). Denn auch die jüngste Reform der Europäischen Verträge sieht wie der gescheiterte Verfassungsvertrag eine Verkleinerung der Kommission mittels eines strikt gleichberechtigten Rotationsverfahrens vor (wenn auch nur auf zwei Drittel der Mitgliedsstaaten). Doch diese Regelung wurde von den Staats- und Regierungschefs noch vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ausgesetzt. Der große Vorteil der Auslosung bestünde mithin nicht allein darin, eine handlungsfähige und effiziente Kommission zu schaffen, sondern auch darin, die europäische Politik von den offenbar kaum erfolgreich zu gestaltenden Verhandlungen um den Start eines Rotationsverfahrens zu entlasten, das aufgrund der Gleichbehandlung zudem die großen Mitgliedsstaaten massiv benachteiligen würde.

Der zweite Vorschlag besteht in der Einführung einer gelosten Zweiten Kammer des Europäischen Parlaments. Mit einer solchen Einrichtung ließe sich das Demokratiedefizit der Europäischen Union wirksam reduzieren, denn ein solches ‚House of Lots’ (Haus der Ausgelosten) trüge gleichzeitig zur Stärkung der Beteiligung der Bürger als auch zur sachlichen Qualität von politischen Entscheidungen auf Ebene der EU bei.

Zunächst: Wie soll man sich eine solche europäische Loskammer konkret vorstellen? Sie sollte aus 200 Mitgliedern bestehen, die ganz genau wie bei der (dann) Ersten Parlamentskammer – also dem heutigen Europäischen Parlament – nach dem Prinzip der abnehmenden Proportionalität die Bürger der EU-Mitgliedsstaaten repräsentieren. Die Abgeordneten würden für jeweils zweieinhalb Jahre im Rhythmus der alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Ersten Kammer ausgelost, wobei jeder Bürger zeitlebens höchstens einmal ein Mandat erhalten dürfte. Die Teilnahme an der Lotterie sollte – analog zur Geschworenengerichtsbarkeit etwa in den USA – zu den obligatorischen Pflichten der EU-Bürger gehören. Gegen ein reines Freiwilligenmodell, bei dem sich die Teilnehmer zur Loskammer-Lotterie erst anmelden müssten, spricht, dass dann politische Aktivisten überrepräsentiert wären und sich soziale Trennungseffekte möglicherweise erneut verstärken. Im Sinne des Zieles einer statistischen Repräsentanz der gesamten Bevölkerung wären daher alle Wahlberechtigten zur Teilnahme an der Lotterie verpflichtet und die Gründe für die Ablehnung eines Mandats wären eng gefasst. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: die Abgeordnetentätigkeit würde finanziell und organisatorisch so attraktiv ausgestaltet, dass die denkbaren Benachteiligungen für die ausgelosten Bürger weitgehend ausgeräumt wären.

Die Loskammer soll die sonstigen Institutionen im politischen System der EU nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen. Die politischen Mitwirkungsrechte einer solchen Loskammer sollten deshalb auch hauptsächlich auf Gesetzgebungsakte bezogen sein. Die Kontrolle des Rates, der Kommission und der anderen europäischen Institutionen verbliebe in der Kompetenz der (gewählten) Ersten Kammer. Folgende Zuständigkeiten wären sinnvoll:

 

  • Erstens sollte die Zweite Kammer in allen Gesetzgebungsfragen jederzeit Empfehlungen für die Erste Kammer, die Kommission und den Rat der EU beschließen können.

  • Zweitens erhielte die Loskammer ein absolutes Vetorecht. Zwischen Beschluss und Erlass aller Legislativakte gälte eine 14-tägige Frist, in der die Kammer den betroffenen Akt zur Begutachtung einziehen könnte. Daraufhin verlängerte sich diese Einspruchsfrist auf 90 Tage, bis zu deren Ablauf die Loskammer den Rechtsakt ablehnen dürfte.

  • Drittens sollte man dem ‚House of Lots’ ein umfassendes Initiativrecht zubilligen, inklusive Fragen des europäischen Steuerrechts, der Sozial- oder der Umweltpolitik.

  • Nicht zuletzt sollten aber auch alle zukünftigen Änderungen der Europäischen Verträge sowie der Beitritt neuer Mitgliedsstaaten der Zustimmungspflicht der Loskammer unterliegen. Damit würden zum einen alle Entscheidungen über die Grundlagen der Europäischen Integration erstmals wirksam demokratisiert und könnten nicht mehr ohne öffentliche Debatten getroffen werden. Zum anderen wäre die Union gezwungen, zukünftige Beitritte nicht nur rhetorisch, sondern auch faktisch an die Erfüllung klar definierter Kriterien zu binden und die Beitrittsverfahren von Beginn an entsprechend durchzuführen.

 

Bei der Arbeitsorganisation des ‚House of Lots’ wären mehrere Aspekte zu beachten. Die Kammer müsste über eine große wissenschaftliche Abteilung verfügen – so groß und differenziert, dass die Abgeordneten sich jederzeit und unabhängig von Lobbyeinflüssen Zugang zu allen für relevant gehaltenen Informationen, Standpunkten, Werten und Interessen der jeweils betroffenen Bürger, Mitgliedsstaaten und Organisationen verschaffen könnten. Zudem müsste die Kammer über eine ausreichend ausgestattete Petitionsabteilung verfügen, an die sich alle Bürger mit Vorschlägen wenden könnten.

Die Finanzierung einer solchen Zweiten Parlamentskammer stellt im Übrigen kein ernsthaftes Problem dar. Es böte sich an, die beiden Kammern einfach auf die bereits bestehenden Parlamentssitze in Brüssel und Straßburg aufzuteilen und damit zudem die Unsinnigkeit der ‚Parlamentskarawane’ zu beenden. Allein dies würde voraussichtlich den Großteil der Kosten der neuen Kammer finanzieren. Sinnvollerweise sollte dabei die eng in den europäischen Politikbetrieb eingebundene Erste Kammer in Brüssel verbleiben, während die Zweite Kammer örtlich getrennt in Strassburg anzusiedeln wäre.

Losverfahren als eine realistische Reformoption?

Ich komme zum Schluss. Die beiden Vorschläge sind nur zwei von vielen Beispielen für den möglichen sinnvollen Einsatz von Losverfahren in der modernen Politik. In der Berliner Schulpolitik haben wir das Losverfahren mittlerweile auch schon eingesetzt, und wenn ich recht sehe, mit Erfolg.

Die antike athenische Demokratie hatte den Vorrang des Losens und die direkte Versammlungsdemokratie als Legitimationsquellen. Die klassische territorialstaatliche Demokratie hat den Vorrang des Wählens und der repräsentativen Demokratie und sie nimmt mit der Zeit immer mehr Abstimmung und neue Bürgerbeteiligungsverfahren hinein. Eine zukünftige internationale, kosmopolitische Demokratie, eine Demokratie, die Ländergrenzen sprengt, muss, wenn sie die demokratischen Legitimationsketten nicht völlig verlieren will, zu neuen institutionellen Arrangements kommen. Meines Erachtens genügt dafür nicht nur eine kluge Kombination von repräsentativer und direkter Demokratie, sondern auch eine kluge Kombination von Wählen und Losverfahren, die punktuell an bestimmten Punkten eingesetzt werden. Dazu will die Theorie der aleatorischen Demokratie einen Beitrag leisten.

Doch wenn ich Ihnen diesen Vorschlag unterbreite, bei dem ausgelosten Bürgern eine gewichtige politische Stimme gegeben werden soll, um dadurch den Reformbemühungen der europäischen Demokratie ‚von unten’ eine handhabbare institutionelle Form zu geben, so will ich der Ehrlichkeit halber auch anfügen, dass dieser Vorschlag kein Patentrezept für die Behebung des gesamten Demokratiedefizits auf europäischer Ebene liefert. Zumal Europa auf absehbarer Zeit ganz andere Probleme zu haben scheint. Auch mache ich mir keine Illusionen über die kurzfristige Realisierbarkeit eines solchen Vorschlages, denn dem Losverfahren haftet bei vielen modernen Menschen immer noch das Image an, Ausdruck von Irrationalität zu sein.

Um dem Losverfahren in der modernen Demokratie neben der Wahl und der Abstimmung einen größeren Platz einzuräumen, bedürfte es wohl erst eines gesellschaftlichen Mentalitätswechsels zugunsten einer größeren Akzeptanz des Zufälligen. Doch gerade mit Blick auf die politische Zukunft Europas gefragt: Sollte nicht gerade die schwere Krise, wie sie die europäische Politik seit Ende 2010 durchlebt und die ihre Fundamente grundsätzlich in Frage zu stellen droht, den Anlass bieten, im Hinblick auf den notwendigen Bau einer politisch enger verzahnten Europäischen Union auch einige zunächst ungewohnt anmutende Ideen nüchtern in Erwägung zu ziehen?

Ich bedanke mich für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.