„Volksvertreter nicht wählen, sondern losen“: Sommerakademie 2011

Würfel. Foto: Jonny Watt (Swiss Bones). Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA 2.0. Original: Flickr

 

2. August 2011
Hannes Koch

Von Hannes Koch

Die Grünen machen neue Erfahrungen, die erstaunlich und auch unangenehm sind. Gerade wegen ihrer zunehmenden Attraktivität und wachsenden Rolle als Regierungspartei geraten sie in Konflikt zu Interessengruppen aus der Bevölkerung. Die Partei muss sich damit auseinandersetzen, dass Verfahren plebiszitärer Demokratie, die sie grundsätzlich einfordert, ihre Politik im konkreten Fall durchkreuzen.

Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Grüne Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung am 24./25. Juni 2011 ihre Sommerakademie unter dem Titel „Legitimation im Wandel“. Wissenschaftler/innen und grüne Politiker/innen diskutierten in drei Workshops, welche Reform der Demokratie in Deutschland  notwendig, möglich und gewünscht sei. Besondere Beachtung widmeten sie dabei der aleatorischen Demokratie (Auslosung von Mitgliedern zusätzlicher Beratungs- oder Entscheidungsgremien) und partizipativen Elementen (Volksbegehren, Volksentscheide, Referenden).

Das Dilemma der Grünen

In Hamburg haben die Grünen als Teil der ersten schwarz-grünen Landesregierung im Sommer 2010 eine traumatisierende Niederlage erlitten. Die Bevölkerung der Hansestadt votierte im Volksentscheid gegen die Schulreform, die den Grünen am Herzen lag. Die sechsjährige Primarschule konnte nicht flächendeckend eingeführt werden. Es blieb bei der vierjährigen Grundschule.

Ähnlich mag es der Partei demnächst in Stuttgart ergehen. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann darauf eingelassen, den Bau des umstrittenen Bahnhofs Stuttgart 21 von einer landesweiten Volksabstimmung abhängig zu machen. Ergibt diese eine Mehrheit für den Bahnhof, muss sich die grüne Regierungspartei über ihre Bedenken hinwegsetzen und den unliebsamen Beschluss exekutieren. Das würde sie in einen Konflikt nicht nur mit den Anti-Bahnhof-Initiativen stürzen, sondern auch mit einem erheblichen Teil ihrer Wähler/innen. Schließlich hat die Öko-Partei ihren Wahlsieg auch ihrem Versprechen zu verdanken, den milliardenteuren Neubau zu verhindern.  

Und zu vergleichbaren Konstellationen auf höherer Ebene könnte auch die Energiewende führen. Der Atomausstieg bis 2022 ist grundsätzlich beschlossen, ebenso der massive Ausbau der erneuerbaren Energieproduktion in Gestalt von Wind-, Sonne, Biomasse – und Wasserkraftwerken. Um diese anzuschließen, müssen zusätzliche Stromleitungen errichtet werden.

Zur Beschleunigung der Planungsverfahren hat die schwarz-gelbe Koalition Ende Juni 2011 ein Gesetz zum Netzausbau beschlossen. Umweltverbände wie der BUND kritisieren bereits jetzt, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit auf Basis des Gesetzes nicht ausreiche. Damit werden sich die Grünen auseinandersetzen müssen, sollten sie ab 2013 wieder Minister/innen der Bundesregierung stellen. Keine leichte Aufgabe: Einerseits macht sich die Partei für verstärkte Bürgerbeteiligung stark, andererseits sieht sie die Notwendigkeit, die Energiewende schnell voranzubringen – nicht nur, um dem Klimawandel vorzubeugen, sondern auch, weil sich darin eigene Politik und Gestaltungsmacht ausdrückt. Das ist vermutlich ein Zielkonflikt.

Denn schon jetzt ist klar, dass der Protest gegen die konkreten Projekte der Energiewende wächst. Deutlich über hundert Initiativen bundesweit mobilisieren gegen den Bau von Wind- und Solarparks. Ihre Zahl wird zunehmen - wobei der Streit um die Stromtrassen noch gar nicht richtig begonnen hat. Den Grünen als Regierungspartei der Energiewende wird eine Protestwelle entgegen rollen, die sie früher „Bewegung“ genannt hätten. 

Die sich abzeichnende Auseinandersetzung hat der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) im Mai 2011 in seinem Gutachten „Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation“ thematisiert. Dieses analysierte die Energiewende bis 2050 und stellte die Frage nach ihren gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen.

Als Lösung: eine demokratische Erneuerung

Kulturwissenschaftler und WBGU-Mitglied Claus Leggewie riet, den energetischen Systemwechsel durch eine demokratische Erneuerung zu flankieren. Ein Ausgangspunkt dieser Überlegung ist die Befürchtung, dass die Energiewende scheitern könnte, wenn es den Regierungen nicht gelingt, auf neue Art Akzeptanz für das Mammutprojekt herzustellen.

In einem Interview mit der taz sagte Leggewie:  „Wir stellen uns neue Partizipationsmöglichkeiten nicht als marginale, sondern wesentliche Ergänzungen der heutigen Verfahren vor. ´Deliberative Demokratie´ meint ´fundierte Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten´ und ist das Gegenteil von Demoskopie und Stimmungsdemokratie. Man fragt die Bürger/innen nämlich nicht nur einmal nach ihrer Meinung, sondern häufiger. Expert/innen und Entscheidende müssen immer wieder auf die Argumente der Bürger/innen eingehen, und diese durchlaufen ihrerseits einen Lernprozess.“

Um das zu ermöglichen, müsse man auch über neue demokratische Verfahren nachdenken, so Leggewie. „Eine Zukunftskammer stellen wir uns als dritte Säule der parlamentarischen Demokratie im Gesetzgebungsverfahren vor. Die Mitglieder dieses Gremiums würden nicht nach parteipolitischen Kriterien oder durch Lobbys benannt, sondern unter engagierten Bürgern und Bürgerinnen ausgelost. (…) Wir wollen keinen Regimewechsel der repräsentativen Demokratie. Die Zukunftskammern haben kein absolutes Vetorecht, sondern führen eine Art Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung durch, deren Ergebnis die Parlamente abwarten und in ihrer Entscheidung berücksichtigen müssten.“

Eine Zukunftskammer mit gelosten Mitgliedern

Damit hatte der Beirat im Mai ein Stichwort genannt, das bei der Sommerakademie der Heinrich Böll Stiftung eine große Rolle spielten sollte: „Auslosung“. Diesen Begriff stellte Hubertus Buchstein, Professor für politische Theorie der Universität Greifswald, in den Mittelpunkt seines Vortrages. Sein Werben für ein Nachdenken über neue demokratische Praktiken verband Buchstein mit einer Kritik an der augenblicklichen grünen Demokratie-Politik.

Diese, so Buchstein, sei durch ein hohes Maß an Desorientierung gekennzeichnet. Während die Öko-Partei „in Umfragen und Wahlen triumphiere, resigniere sie in der Frage der Demokratie-Reform“. Die Grünen seien „demokratiepolitisch ortlos geworden“, sagte Buchstein, die Partei mute an wie eine „Inkarnation der Bundeszentrale für politische Bildung“. Die konturlose Mischung aus repräsentativer und partizipativer Demokratie, die man formuliere, habe ihren Reiz verloren, fasste Buchstein zusammen.

Ähnlich sah das Jan-Hendrik Kamlage, Politologe und Ökonom an der Universität Bremen. In einer Kurzanalyse der rot-grünen Koalitionsverträge von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Bremen stellte er dar, dass die Grünen versprächen, mehr Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen zu ermöglichen, aber eigentlich nicht wüssten, wie das zu bewerkstelligen sei. Kamlage attestierte den Grünen „Konzeptionslosigkeit“ und einen Mangel an Ideen, wie man den aktuellen Problemen des demokratischen Systems beikommen könne. „Die Grünen sind auf dem Weg, aber es ist noch viel zu tun“, so Kamlage.

Worin aber bestehen die gegenwärtigen Probleme – abgesehen davon, dass eine erfolgreiche Partei ihre alte Theorie den modernen Zeiten anpassen muss?

Buchstein griff auf die politischen Theoretiker des 19. Jahrhunderts zurück. Alexis des Tocqueville habe die Vorteile der repräsentativen Demokratie unter anderem darin gesehen, dass die Entscheidungen durch gewählte Volksvertreter im Parlament den Minderheiten einen Schutz vor eruptiven Ausbrüchen radikaler Volksmeinungen böten und zur einer Mäßigung der Politik führten. Und von John Stuart Mill stamme das Argument, so Buchstein, dass die Staatsbürger mittels Wahlen die besten Repräsentanten aussuchen. So regiere schließlich eine politische Elite, die gute, sachkundige und langfristig tragfähige Entscheidungen treffe.

Schon an diesen beiden Argumenten aber zeige sich, so der Konsens der Sommerakademie, dass die demokratischen Verfahren heute mindestens verbesserungsbedürftig seien. Beispiel Stuttgart 21: Viele Bürger/innen haben den Eindruck, dass ihre Kritik am Bahnhofsprojekt von der Politik über Jahre ignoriert wurde. Beispiel Guttenberg: Der tolle Selbstdarsteller nahm die Öffentlichkeit für sich ein, doch seine praktische Tätigkeit war oft fehlerhaft (Kundus, Gorch Fock, Bundeswehrreform etc.). Das Erfolgsprofil des modernen Berufs- und Medienpolitikers sei nicht unbedingt kompatibel mit der erforderlichen Sach- und Lösungskompetenz, fasste Buchstein zusammen. „Politische Klasse“ sei heute oft nicht gleichzusetzen mit „Elite“ im Sinne von Mill.

Drei Lösungsansätze

Als die konventionell bekannten Lösungen zitierte der Greifswalder Politologe drei Ansätze. Erstens: Reformen am oberen Ende. Diese Variante ist unter anderem inspiriert vom Denken des französischen Ökonomen Pierre Rosanvallon. Dabei geht es darum, Expertengremien und Organisationen zu stärken, die das Gemeinwohl gegen Partikularinteressen verteidigen können. Die Bundesbank beispielsweise schützt in diesem Denkmodell die Geldwertstabilität der Währung etwa gegen die Gewerkschaften, die mittels Geldpolitik eigentlich Arbeitsmarktpolitik betreiben möchten. Sachverständigenräte wie die Ethikkommission für den Atomausstieg oder Verfassungsgerichte wären weitere Beispiele. Laut Rosanvallon können Expertengremien die Qualität politischer Entscheidungen verbessern und ein Moment der Reflexion in den Streit der Einzelinteressen einbauen. Buchstein benutzte das Schlagwort der „Dezentrierung des Politischen“.  

Variante Zwei ähnelt diesem Vorschlag – hier geht es allerdings darum, mehr gesellschaftliche Interessengruppen und Verbände in die politischen Entscheidungen einzubeziehen und ihr Zusammenwirken im Sinne des Gemeinwohls zu verbessern. Variante Drei schließlich bezeichnet Reformen von unten, die den Grünen am liebsten sind: Bürgerbeteiligung, Volksentscheide und andere plebiszitäre Elemente.

Was aber, so fragte der Politologe, wäre durch solche direktdemokratischen Verfahren gewonnen? Seine provokative These: Möglicherweise nicht viel. Betrachte man die Ergebnisse von Volksentscheiden in verschiedenen Ländern, dann erkenne man eine „klare soziale Schlagseite“. In fiskalischer Hinsicht wirkten sich die plebiszitären Verfahren häufig „konservativ“ aus: Personengruppen, die auf öffentliche Transfers angewiesen seien, würden dabei benachteiligt.  

Auch Bürgerbeteiligung in Planungsprozessen kann in dieser Sichtweise die soziale Schere zwischen unten und oben weiter öffnen. Der Mechanismus, der während der Sommerakademie eingehend diskutiert wurde, sieht so aus: In Proteststrukturen wie bei Stuttgart 21 organisieren sich vor allem gebildete und wohlhabende Bürger. Leute aus ärmeren oder bildungsferneren Schichten trifft man in den Bürgerinitiativen dagegen selten. Deshalb bewirke Bürgerbeteiligung vor allem, die Interessen derjenigen zu schützen, die ohnehin auf der Sonnenseite leben. Insofern, argumentierte Buchstein, seien Elemente direkter Demokratie nicht dazu angetan, die Akzeptanz politischer Entscheidungen in der gesamten Bevölkerung zu stärken.

Aleatorische Verfahren in unserem System

Damit war Buchstein bei seinem Vorschlag, aleatorische Verfahren in unser System einzubauen: „Die kosmopolitische Demokratie muss zu neuen Arrangements kommen.“ Als zentrale Idee beschrieb er das „House of Lots“ - das Haus des Loses. Auf EU-Ebene könnte man eine zusätzliche Kammer einrichten, in die 200 Bürger aus den 27 EU-Mitgliedsländern hinein gelost würden. Prinzipiell könnte das Los auf jeden volljährigen, mobilen Staatsbürger fallen. Ablehnung dieser öffentlichen Aufgabe wäre nur in wenigen begrenzten Ausnahmefällen möglich. Die Tätigkeit im House of Lots würde konkurrenzfähig bezahlt, so dass den Bürgern keine finanzielle Einbuße entstünde. Das House of Lots hätte Initiativ- und Vetorecht. Beispielsweise könnte es den EU-Beitritt eines weiteren Landes verhindern. 

Und welchen Sinn hätte die Erweiterung des Systems um die „populistische Kammer“? Sie könnte, so Buchstein, die Legitimität der Europäischen Union verstärken und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten erhöhen. Warum? Weil plötzlich auch Bürger Teil des öffentlich sichtbaren Entscheidungsprozesses wären, die nicht aus einer der bekannten Eliten stammen. Das soziale Spektrum der Entscheidungsträger würde erweitert. Abfällig über „die da oben“ zu urteilen würde schwieriger.

Den Punkt der wachsenden Legitimation illustrierte Buchstein mit einem Beispiel aus dem US-Staat Washington. In der dortigen zwölfköpfigen Diätenkommission sitzen seit 1986 sieben ausgeloste Bürger/innen, die über die Bezahlung der öffentlichen Bediensteten entscheiden. Ergebnis seitdem: Die Bezahlung der Staatsdiener ist trotz des liberalen, staatskritischen Zeitgeistes nicht gekürzt worden. Trotzdem erfreut sie sich wesentlich größerer Akzeptanz.

Dieses Beispiel kann als ansatzweiser Beleg dafür dienen, dass aleatorische Ergänzungen der repräsentativen Demokratie sozial integrativ wirken. Buchstein argumentierte weiter mit einem Hinweis auf die Thesen des US-Politik-Professors James Fishkin. Demnach erarbeiteten in den USA aleatorisch ausgewählte Gremien Empfehlungen zur Gesundheitspolitik. Diese seien weniger polarisiert und klientel-geleitet ausgefallen, als man es erwartet hätte. Eine Erklärung dafür: In den Beratungen ausgeloster Gremien seien die Teilnehmer eher bereit, ihre Meinungen zu revidieren und sich im intensiven Gespräch anderen Gesichtspunkten anzunähern. Dieses Moment der Deliberation, der Erörterung, führe zu rationalen, egalitären, nachhaltigen, schlicht: vernünftigen Entscheidungen. Und das sei empirisch auch belegt, betonte Buchstein.

Kritik des Lossystems

Gute Nachrichten? Das alles klang ein wenig romantisch in den Ohren mancher Akademie-Teilnehmer/innen. Eine Grundsatz-Kritik äußerte Linda Marie Ludwig, Promotionsstipendiatin der Heinrich Böll Stiftung. Im Sinne des US-Philosophen John Rawls wies sie daraufhin, dass die Aleatorik das Demokratieprinzip sprenge. Indem zufällig irgendwelche Leute mittels des Loses an die Schalthebel der Macht befördert würden, finde eine Entkopplung der Entscheidung von der Willensbildung aller und damit dem Prinzip der Repräsentativität statt.

Zudem fragte Ludwig, ob ein House of Lots wirklich mehr Akzeptanz seitens der EU-Bürger erbringen würde. Man stelle sich nur vor, die Kammer würde über teure Kredite für ein verschuldetes EU-Land entscheiden, zufälligerweise säßen zu diesem Zeitpunkt nur ausgeloste Mitglieder im House of Lots, die aus den kleinen EU-Staaten stammten. Dann hieße es in der deutschen Öffentlichkeit doch wieder: Die Kleinen entscheiden, aber wir, die Großen, müssen zahlen.“ 

Überwiegend stieß Buchsteins Anregung zur aleatorischen Demokratie jedoch auf Zustimmung der Sommerakademie. Robert Habeck, Fraktionschef der Grünen in Schleswig-Holstein, sagte es so: Der Partei müsse dringend etwas einfallen, um die absehbaren Konflikte um die Energiewende zu entschärfen. Da sei es bedenkenswert, den protestierenden Bürgern ein Angebot für mehr Beteiligung und neue demokratische Verfahren aus grüner Sicht zu machen.  

Volksbegehren, Volksentscheide und andere partizipative Elemente

Zu höherer Akzeptanz von Institutionen- und Regierungshandeln könnten aber auch Volksbegehren, Volksentscheide und andere partizipative Elemente beitragen, erläuterte Volker Mittendorf  von der Arbeitsstelle Direkte Demokratie der Universität Wuppertal. So habe der Runde Tisch zu Stuttgart 21 unter Leitung des Vermittlers Heiner Geissler eine befriedende Wirkung ausgeübt und dazu beigetragen, dass die Zustimmung zum Projekt vorübergehend deutlich angestiegen sei.

Die Sommerakademie war sich freilich einig, dass nicht jedes Plebiszit zum Ausgleich der Interessen führe. Denn auch partizipative Elemente entfalten unterschiedliche Wirkungen in Abhängigkeit vom jeweiligen Staatssystem. So sei es bei Referenden in US-Bundesstaaten durchaus üblich, dass Agenturen Stimmen der Bürger unter Angebot materieller Vorteile akquirierten, also im Auftrag der Initiatoren des Referendums quasi kauften. 

Damit war die Sommerakademie bei einer sehr grundsätzlichen Frage angekommen: Haben die Bürger/innen wirklich die Möglichkeit, mehr mitzuentscheiden, wenn aleatorische und partizipative Elemente eingebaut werden? Oder lassen sich die engagierten Einwohner ihre Interessen quasi unbewusst durch ein System abhandeln, das eigentlich keinen Wert legt auf ihre Mitwirkung legt?

Diesen Aspekt betonte Janet Newman, Professorin der britischen Open University Winston Keynes. „Es gibt mehr und mehr Partizipation über immer weniger Themen“, warnte Newman. Soziale Innovationen seien „janusgesichtig“, man könne sie für rückschrittliche und fortschrittliche Zwecke nutzen. Den Mechanismus beschrieb Newman am Beispiel des politischen Neoliberalismus, der die Entsolidarisierung der Gesellschaft vorantreibe, gerade deshalb aber auch auf die stärkere Teilnahme privater Akteure angewiesen sei. „Der Neoliberalismus saugt die Zivilgesellschaft auf, er braucht ihr Innovationspotenzial“, sagte Newman. Gerade auch gegen diese Gefahr müsse politische Energie in innovative zivilgesellschaftliche Partizipation gesetzt werden.

Andreas Brandhorst, Referent für Gesundheitspolitik der grünen Bundestagsfraktion, konterte, indem er die Mitwirkung von Patienten-Selbsthilfegruppen im Bundesausschuss der Gesetzlichen Krankenkasse erläuterte. Diese Partizipation war ein Ergebnis der rot-grünen Koalition 1998 bis 2005. Laut Brandhorst bewahrten die Selbsthilfegruppen dabei ihre Eigenlogik. Wichtig sei dafür aber gewesen, so Brandhorst, dass die Patientengruppen nur beratend am Ausschuss teilnahmen, jedoch kein Mitentscheidungsrecht hatten. Sie hätten deshalb nicht unter dem Druck gestanden, sich zur  Systemrationalität bekennen zu müssen. 

Unterstützung erhielt Newman hingegen von Jan-Hendrik Kamlage. Im Zuge neoliberaler Tendenzen, die in Deutschland im Schröder-Blair-Papier zum Ausdruck kamen, hätten die Einschränkung des Sozialstaates und Förderung des Bürgerengagements zwei Seiten derselben Medaille dargestellt. Dadurch seien neue Räume für Partizipation der Zivilgesellschaft entstanden, andererseits hätten sich aber auch zuvor klar erkennbare Identitäten aufgelöst. Die Definition von „Bürger, Staat und Markt“ sei nicht mehr so eindeutig wie früher. Gut beobachten lässt sich die gegenseitige Durchdringung von Interessen und Rollen laut Kamlage am Beispiel der rund 1.200 deutschen Freiwilligenagenturen, Bürgerbüros, Bürgerstiftungen und Seniorenbüros. Viele davon seien auf Initiative von oben gegründet worden, um öffentliche Aufgaben zu erledigen, für die dem Staat die Mittel fehlten. „Verzahnung ist das neue Thema“, so Kamlage. Die politische Beteiligung der Bürger unter neuen Vorzeichen stehe damit erst am Anfang. Als Beispiel nannte Kamlage die so genannten Bürgerhaushalte, die in vielen Städten den Einwohnern mittlerweile eine begrenzte Mitsprache in  Detailfragen, nicht aber in grundsätzlichen Entscheidungen ermögliche.

„Haben die Grünen eine Vorstellung davon, welche Bürgerbeteiligung sie wollen?“ 

Andrea Fischer, der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin und jetzigen Bürgermeisterkandidatin für Berlin-Mitte, blieb es schließlich vorbehalten, diese zusammenfassende und kritische Frage zu stellen. Fischer ahnte ebenso wie Buchstein, Kamlage und Habeck, dass die Partei ihre Positionen zu aleatorischer, deliberativer und partizipativer Demokratie neu bestimmen müsse. Denn ernst gemeinte Bürgerbeteiligung beinhalte eben nicht die Garantie, Akzeptanz für alle Entscheidungen herstellen zu können, die man selber gut finde. „Wir müssen außerdem methodische Sauberkeit lernen: Welche Fragen dürfen per Bürgerbeteiligung entschieden werden, welche nicht?“, so Fischer. Ein ähnliches Plädoyer formulierte Willfried Maier von der GAL Hamburg: „Wir brauchen eine Instrumentendebatte.“

Zu der kam es allerdings bei der Sommerakademie nicht mehr. Möglicherweise wird die Debatte der Partei aufgezwungen, wenn der Volksentscheid über Stuttgart 21 ein „Ja“ für den Weiterbau ergibt. Spätestens aber beim nächsten, ganz großen Thema: Welche Energiewende braucht Deutschland und wo kommen die neuen Kraftwerke und Hochspannungsleitungen hin?

Die Anregung von Claus Leggewie und dem Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen ist ja nicht mehr aus der Welt zu schaffen: Die große Transformation des Energiesystems geht möglicherweise einher mit einer politischen Transformation der Machtausübung.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat kein großes Interesse daran, die Partizipation der Bürger/innen auszubauen. Für die Grünen aber stellt sich eine andere Herausforderung. Was kann heute Partizipation bedeuten? Diese Frage müssen zuerst die Grünen in Baden-Württemberg beantworten, denn dort steht das Versprechen, neue Verfahren zu entwickeln, schon im Koalitionsvertrag. Und dann sind die Bundesgrünen gefordert.