Rede zum Jubiläum der Heinrich-Böll-Stiftung am 14. Dezember 2012

19. Dezember 2012
Carolin Emcke

Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Freunde,

herzlichen Dank an Ralf Fücks und an Barbara Unmüßig, an Birgit Laubach. Und herzlichen Dank an all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an das Kernstück der Stiftung, an alle, die aus den vielen Strängen, Geschichten und Perspektiven schließlich zu dieser einen Stiftung gefunden haben, und die sie heute im In- und Ausland nicht bloß repräsentieren, sondern tragen und weitertragen. Herzlichen Dank, dass ich heute hier sprechen darf.

Das versteht sich nicht von selbst. Denn ich teile nicht Ihre vielschichtigen Erfahrungen, die zusammen diese Stiftung aufgebaut haben. Ich bin neu, ich gehöre nicht ganz dazu, ich bin vielleicht, was im babylonischen Talmud, ein „Halbreifling“ heißt, und trotzdem darf ich heute hier die Festrede halten.

Ich sage aber auch gleich zu Beginn und damit wird’s schon ungemütlich: ich kann Festreden nicht ausstehen. Diese klassische Form der heiteren Eloge, hier ein Lob, dort eine Anekdote, die mit Leichtigkeit und Witz vorgetragen werden will, ist mir nicht zu Eigen.

Ich kann und will stattdessen, ganz ironiefrei, sagen, was mir die Heinrich-Böll-Stiftung bedeutet, wie kostbar sie ist und wie nötig: weil sie etwas schafft, was kaum jemand mehr wagt in diesen Zeiten:

1. Vortrefflichkeit zu verkörpern,
2. das Partikulare niemals gegen das Universale auszuspielen und
3. das Utopische zu buchstabieren.

Diese Drei.

1. Vortrefflichkeit

Vortrefflichkeit ist ein selten verwandtes Wort, so selten wie das Bemühen um eben diese Vortrefflichkeit geworden zu sein scheint. Deswegen lassen Sie mich erklären, was ich damit meine.

Nicht die antike Vorstellung von arete interessiert mich hier, die vor allem Tüchtigkeit oder Tapferkeit des einzelnen heroischen Individuums meinte oder die besondere Qualität von Dingen, eine Eigenschaft, eine Aufgabe zur besonderen Güte auszuführen.

Mich interessiert, wie der Begriff der Vortrefflichkeit auf die Gesellschaft angewandt werden kann, wie aus der individuellen Form der Auszeichnung eine soziale werden kann.

Hannah Arendt schreibt: „Vortrefflichkeit, die griechische arete, die römische virtus, haben ihren Ort immer im Bereich des Öffentlichen gehabt, wo man andere übertreffen und sich vor ihnen auszeichnen konnte,“ so Arendt in „Vita Activa“, „Vortrefflichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass andere zugegen sind, und diese Anwesenheit bedarf eines für diesen Zweck ausdrücklich konstituierten Raums“ (Vita Activa, S. 48).

Die Heinrich-Böll-Stiftung verkörpert genau diese Vortrefflichkeit, indem sie einen Raum schafft, in dem eine Gesellschaft erdacht werden kann, die sich auszeichnet.

Was Hannah Arendt beschreibt, dass Vortrefflichkeit dadurch gekennzeichnet ist, dass andere zugegen sind, verlangt, dass aus der individuellen eine kollektive Tüchtigkeit wird, verlangt, dass aus privaten Fragen öffentliche werden.

Wer sich anschaut, was die Heinrich-Böll-Stiftung seit ihrem Bestehen geleistet hat, der sieht als Aufgabe genau das: wie die Fragen des guten und richtigen Lebens aus dem privaten Bereich herauszulösen, wie die Nöte und Bedürfnisse der Unsichtbaren sichtbar zu machen, und ihre Fähigkeiten und Tüchtigkeiten in den öffentlichen Raum zu holen, damit sie dort verhandelt werden können als Fragen, die alle betreffen und allen dienstbar sind.

Das mag wie eine altmodische Aufgabe klingen. Aber sie ist nicht nur ein Erbe der 60er und 70er Jahre, sondern sie ist der Horizont, vor dem die Fragen der Ökologie, der sozialen Gerechtigkeit und der kulturellen und politischen Inklusion im Zeitalter der Globalisierung mehr denn je zu formulieren sein werden.

Die Vortrefflichkeit der Heinrich-Böll-Stiftung besteht darin, wie sie über all die Jahre und vor allem über all die Grenzen hinweg immer wieder nachjustiert, übersetzt, insistiert, was alles keine individuellen, privaten Fragen mehr sind – nicht nur die Geschlechterverhältnisse nicht, nicht nur die Sexualität nicht, - sondern was alles ethisch-politische Fragen sein müssen: was uns verbindet, was uns trennt, worauf wir hoffen, vor wem wir uns fürchten oder vor was, wie viel wir verbrauchen, was wir essen, woher es kommt, von wem wir gepflegt werden wollen, wie wir leben wollen und mit wem.

Dieses Verschieben vom Privaten ins Öffentliche ist im internationalen Kontext besonders anspruchsvoll: weil es hier darum geht, die kulturellen und religiösen Einsprüche und Festschreibungen, was als privat und was als öffentlich zu gelten hat, mit zu bedenken und wenn möglich zu überschreiten.

Wenn ich die Mitarbeiterinnen der Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer Arbeit als vortrefflich markiere, dann vor allem dafür: dass sie einen Raum schaffen, in dem das Individuelle aus ethischen und politischen Gründen überschritten werden muss, in dem individuelle Freiheiten nicht begrenzt, aber begründet werden müssen, weil sich das Individuelle immer in eine Geschichte einreiht, vertikal und horizontal, über die Generationen hinweg und die kulturellen und religiösen Landschaften hinweg.

2.  Das Partikulare und das Universale zusammen denken

Wenn ich mit etwas Persönliches beginnen darf: Als Philosophin und Publizistin, die seit Jahren international auf Reisen ist, liegt mir eine Frage besonders am Herzen, ja, sie ist vermutlich der Quell aller publizistischen Ambition: die der moralischen Grammatik einer globalen Ordnung. Die Frage hat Tradition und die Antworten haben ein Muster, sie teilen sich zumeist auf zwischen einer imperialistischen Antwort, die das partikular Eigene immer als das allgemein Universale deklariert sehen will, und der Provinziellen, die nicht einmal weiß, dass es etwas anderes als das Eigene gibt.

Inzwischen gibt es zunehmend noch eine dritte Antwort, neben der imperialistischen und der provinziellen, nämlich die, die das Lokale als das zersplitterte Globale propagiert.

Es ist für mich eine der eindrucksvollsten Leistungen der Heinrich Böll-Stiftung wie sie sich, vor allem in ihrer Auslandsarbeit, in den Büros in Ramallah oder Tunis, Islamabad oder Rio de Janeiro, diesen Alternativen verweigert: wie sie in jeder Publikation, jeder Tagung, jeder Setzung von Debatten vorführt, wie so eine moralische Grammatik aussehen muss ohne universalistische Normen gegen partikulare Bezüge auszuspielen.

Es ist die mühsame, kleinteilige, langmütige Arbeit all derer, die wissen, dass Normen übersetzt werden müssen, dass sie in ihre je unterschiedlichen Sprachen, Geschichten, Gesten, Praktiken übertragen werden müssen, um überzeugen zu können, die wissen, dass sich Überzeugungen nicht verordnen lassen, sondern dass sie nur gemeinsam entstehen, übend, korrigierend, spielend und immer wieder auch: stolpernd.

Vielleicht ist das das Schönste: dass die Böll-Stiftung in den jeweiligen Ländern und Kulturen, in denen sie arbeitet und denkt, gemeinsames stolperndes Lernen zulässt und – das gehört dazu – dies wiederum auf die Zentrale und das Denken hier zurückwirkt.

Etwas, wenn ich das so sagen darf: was auch die Partei von Bündnis 90/ Die Grünen sich ruhig abschauen dürfte.

3. Das Utopische ausbuchstabieren

Das Dritte und damit letzte, das für mich die Heinrich-Böll-Stiftung auszeichnet, betrifft das Utopische, nicht jenes Utopische, das als Wolkenkuckucksheim immer flüchtig bleibt, sondern das Bloch‘sche Utopische, das das Noch-Nicht ist.

Das Utopische ist für die Böll-Stiftung kein Alibi, sondern Auftrag, kein propagandistisches Versprechen, wie es das für die politischen Akteure vielleicht manchmal sein kann, sondern das Utopische ist die ureigenste Textur der intellektuellen Sehnsucht derer, die hier arbeiten.

Es ist das, was mich am meisten rührt und beeindruckt an Euch: wie hier nicht einfach politisch geträumt wird, sondern wie daran gearbeitet wird, diese Utopien konkret zu machen, wie daran gearbeitet wird, wie aus dem Nicht-Ort ein Ort gemacht werden kann.

Phantasien brauchen Fluchthelfer: wir können nicht einfach wünschen, wer wir sein wollen oder wie wir leben wollen, wenn wir nicht wissen, was möglich ist.

Soziologen nennen das „scripts“, Drehbücher, Geschichten, die uns das Phantasieren erst ermöglichen, die uns helfen, den übernommenen Denk- und Handlungsmustern zu entkommen und neue Praktiken und Gewohnheiten zu schaffen: friedlichere, respektvollere, weniger instrumentelle Formen des Miteinanders.

Was die Böll-Stiftung, alle hier, leisten, ist eben das: gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen, Künstlern, Aktivistinnen, zivilgesellschaftlichen Akteuren aus der ganzen Welt, aus zu buchstabieren, was unsere Möglichkeiten sein könnten, im ökologischen Wandel, im digitalen Wandel, in Zeiten der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, in einer Epoche der allzu leichtfertigen Legitimierung von Kriegen, in einem Land der schwerfälligen Inklusion von Anders-Gläubigen oder –Liebenden.

Wie das Imaginäre geschützt und gleichseitig real formuliert werden kann, wie das Noch-Nicht als nicht nur mögliche, sondern nötige Vorgabe gedacht werden kann, das erarbeitet, jedes Jahr, die Heinrich-Böll-Stiftung – und dafür sage ich Dank.

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Carolin Emcke ist Philosophin, Publizistin und Reporterin.