Analyse: Kenias neue Verfassung tritt in Kraft

Der Entwurf der neuen kenianischen Verfassung wurde am 4. August 2010 angenommen. Am 27. August tritt sie in Kraft. Foto: davidwatterson. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

26. August 2010
Axel Harneit-Sievers
Am Freitag, den 27.8.2010, setzt Kenias Präsident Mwai Kibaki die neue Verfassung des Landes (Verfassungstext als PDF) in Kraft, die am 4.8. in einem Referendum mit einer klaren Zweidrittelmehrheit angenommen worden war. Das Ereignis wird mit großem Pomp im Uhuru Park von Nairobi und einer Militärparade begangen. Staatschefs aus mehreren anderen afrikanischen Staaten nehmen teil. Politiker und Medien in Kenia werten das Inkrafttreten der neuen Verfassung als „nationale Wiedergeburt“. Manche messen der neuen Verfassung gar eine fast so große Bedeutung bei wie der politischen Unabhängigkeit Kenias 1963 und sprechen bereits von der Gründung einer „zweiten Republik“.

Auch wenn manches nach staatlich inszeniertem Freudentaumel aussieht: Die positive Grundstimmung in weiten Teilen der Bevölkerung ist unverkennbar, und bisweilen schlägt sie in Begeisterung um. Es herrscht ein Gefühl der nationalen Einheit, wie Kenia es lange nicht mehr erlebt hat.

Dies stellt einen bemerkenswerten Kontrast zur ansonsten oft scharfen Kritik dar, die Kenianerinnen und Kenianer seit Jahren an ihrem Staat, seinen Politikern und seinen Institutionen üben. Und wie groß erst ist der Gegensatz zur Situation zum Jahreswechsel 2007-08, als Kenia nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen an den Rand eines Bürgerkriegs geriet. Die damalige Krise kostete nach offiziellen Zahlen 1.133 Menschen das Leben. Sie wurde nach langen Verhandlungen durch Bildung einer Großen Koalition beendet. Präsident Kibaki (Party of National Unity - PNU) und Premierminister Raila Odinga (Orange Democratic Movement - ODM) teilten die Macht. Die Große Koalition hat seither eher schlecht als recht funktioniert. Umso bemerkenswerter ist, dass sie jetzt einen Verfassungskompromiss zustande gebracht hat. Kenias politische Klasse zeigt sich, aller Skepsis zum Trotz, konsensfähig im Dienste des politischen Fortschritts.

Dieser Beitrag gibt einen Überblick zu den wichtigsten Neuerungen, die die Verfassung mit sich bringt, blickt zurück auf den langen Weg, den Kenia gehen musste, um bis zu diesem Punkt zu gelangen und analysiert Herausforderungen, vor denen das Land nach dem Referendum steht.


Neue Regeln, hohe Erwartungen


Was bedeutet die neue Verfassung für Kenia? Sie ist zuallererst eine Abkehr von dem aus den 1960er Jahren überkommenen Prinzip des hochgradig zentralisierten Staats unter einem „imperialen“ Präsidenten, der bisher weitgehend unkontrolliert Ministerpositionen verteilen, aber auch beispielsweise Land zuteilen konnte. Dessen Amt als Angelpunkt und Symbol von Machtmissbrauch und Korruption – als Kern des Neopatrimonialismus – im kenianischen politischen System wahrgenommen wurde, und dem nur ein schwaches Parlament gegenüberstand.


Institutionelle Reformen

Die neue Verfassung schafft zwar keine durchgreifende föderale bundesstaatliche Struktur, wie es manche in der ODM gehofft hatten. Statt bisher neun zentral verwalteter Provinzen wird es 47 County Councils mit gewählter Exekutive, begrenzter Gesetzgebungskompetenz und zugesicherten Budgets geben. Diese werden im Senat, der neu geschaffenen zweiten parlamentarischen Kammer, die Belange der Regionen auf nationaler Ebene repräsentieren. Die neue Verfassung kommt damit langjährigen Forderungen nach Dezentralisierung entgegen, ohne die staatliche Einheit oder gar die staatsbürgerlichen Rechte von Kenianerinnen und Kenianern, die in anderen Landesteilen als ihren ethnischen Herkunftsgebieten leben, zu gefährden.

Es bleibt bei einem Präsidialsystem: einen die Regierungsgeschäfte leitenden Premierminister, wie es die ODM zunächst gefordert hatte, wird es nicht als dauerhafte Institution geben, auch wenn als Übergangsregelung Premierminister Raila Odinga bis zu den nächsten Wahlen im Amt bleibt. Doch zukünftig wird die präsidiale Macht etwa dadurch beschränkt, dass das Parlament die vom Präsidenten vorgeschlagenen Minister (jetzt „cabinet secretaries“) bestätigen muss; umgekehrt dürfen Mitglieder des Parlaments keine Kabinettspositionen mehr einnehmen (bzw. müssen ihr Mandat aufgeben, wenn sie Minister werden wollen). Diese Mechanismen sollen in Zukunft dem Präsidenten die Aufstellung eines fachlich kompetenten Kabinetts erleichtern, die bisher gängige Politisierung und das Nepotismus-Potential bei der Auswahl von Ministerpositionen entschärfen und die Aufgaben von Exekutive und Legislative stärker voneinander trennen.

Im Parlament werden reservierte Sitze für bislang unterrepräsentierte Gruppen (Frauen, Behinderte, kleine ethnische Gruppen) geschaffen, die auf proportionaler Basis von den Parteien ernannt werden. Das Parlament erhält nicht nur stärkere Kontrollfunktionen gegenüber dem Präsidenten, sondern wird innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der neuen Verfassung die Richterschaft Kenias einer Prüfung nach Eignungs- und Antikorruptionskriterien unterziehen. Auch andere Kontrollmechanismen und  institutionen, wie die bereits bestehende Antikorruptionskommission, sind in der neuen Verfassung festgeschrieben.

Diese neuen institutionellen Strukturen bilden den Kern der neuen kenianischen Verfassung; sie reflektieren jahrzehntelange negative Erfahrungen mit einem politischen System, dass durch Machtmissbrauch, Korruption und soziale Ungerechtigkeit gekennzeichnet war. Doch erst die Praxis wird zeigen, wie (und ob überhaupt) die neuen Regelungen im Detail funktionieren, und welche Potenziale – natürlich auch für ihren Missbrauch – in ihnen stecken.

Große Hoffnungen: Grundrechte und Land

Wie in anderen Ländern auch, so enthält die neue kenianische Verfassung Bestimmungen allgemeinerer Art, und vor allem an diese binden sich viele hohe – und oft wohl auch überhöhte – Erwartungen.

Da ist zum einen der umfangreiche Grundrechte-Katalog, der Diskriminierungen aller Art verbietet (auch wenn er weit davon entfernt ist, z.B. homosexuelle Lebensgemeinschaften zu legalisieren, wie Kritiker argumentiert haben). Grundsätze für transparentes und korruptionsfreies Regieren kommen dazu. An diese Absichtserklärungen allgemeiner Art knüpfen sich womöglich manch unrealistische Erwartungen auf rasche Verbesserungen der Lebenssituation der einfachen Kenianerinnen und Kenianer.

Zum anderen enthält die neue Verfassung einen eigenen Abschnitt zum Thema Landbesitz – womöglich das konfliktträchtigste und auch emotional aufgeladenste Themenfeld in Kenia überhaupt. Denn in einem Staat ohne weitreichende soziale Absicherung stellt der Besitz eines Stücks Land für die große Mehrheit der Bevölkerung das entscheidende Stück Sicherheit im Leben dar. Die neue Verfassung beauftragt das Parlament, innerhalb von 18 Monaten eine neue Landgesetzgebung zu beschließen, die unter anderem in Abhängigkeit von lokalen ökologischen Verhältnissen Minimal- und Maximalflächen des erlaubten Landbesitzes von Einzelpersonen festlegt. Personen ohne kenianische Staatsbürgerschaft können nur mehr Erbpachtverträge von maximal 99 Jahren abschließen, aber keinen uneingeschränkten Landbesitz („freehold“) mehr erhalten. Damit haben Aussagen zur Landpolitik, wie sie bereits seit 2007 als neue „Land Policy“ vorliegen und auch vom Kabinett beschlossen worden sind, Verfassungsrang erhalten. Es bestehen außerordentlich hohe Erwartungen (bzw. Befürchtungen auf Seiten großer Eigentümer), die neue Verfassung werde angesichts der sehr ungleichen Landbesitzverteilung in Kenia mehr Verteilungsgerechtigkeit herstellen und auch dem verbreiteten Problem unsicherer Landbesitztitel gerade bei Kleinbauern entgegenwirken.


Nach langem Weg ein politischer Kompromiss – und fast nur Gewinner

Mit dem erfolgreichen Verfassungsreferendum ist Kenia seit der Krise nach den Wahlen vom Dezember 2007 einen weiten Weg gegangen. Noch vor einem Jahr hätten Prognosen über einen erfolgreichen Abschluss des Verfassungsreformprozesses als recht optimistisch gegolten. Die neue Verfassung stellt in der Tat einen bemerkenswerten Kompromiss zwischen den Partnern (und oft genug Kontrahenten) in der Koalitionsregierung dar. Er war mehrheitsfähig und daher erfolgreich, weil er diesmal von weiten Teilen der politischen Elite unterstützt wurde.

Der Weg zu diesem Kompromiss war lang – sehr lang. Bemühungen zur Reform der Verfassung in Kenia reichen bis in die 1980er Jahre zurück, als Kenia noch ein Einparteienstaat war. Nach der Rückkehr zur Mehrparteiendemokratie 1991 waren Forderungen nach einer Verfassungsreform ein wichtiges Mittel im Kampf gegen die Autokratie des Präsidenten Daniel arap Moi. Eine „Regenbogenkoalition“ schlug arap Moi in den Wahlen 2002. Der neue Präsident Kibaki trat mit dem Versprechen an, dem Land innerhalb von 100 Tagen eine neue Verfassung zu geben. Daraus wurde nichts. Stattdessen gab es mehrjährige Konsultationsprozesse, an deren Ende die Regenbogenkoalition zerbrach. Im Verfassungsreferendum von 2005 präsentierte Präsident Kibaki einen Entwurf, der zentrale Ergebnisse der langwierigen Konsultationsprozesse nicht widerspiegelte, insbesondere die Entschärfung der „imperialen Präsidentschaft“ durch die Einführung des Amts eines Premierministers, für das Odinga vorgesehen war. Damals stand auf dem Abstimmungszettel die Banane als Symbol für Zustimmung, während die Orange Ablehnung symbolisierte. Odinga und andere aus der Koalition ausgeschiedene Politiker brachten Kibakis Entwurf mit klarer Mehrheit zu Fall und schlossen sich später zum Orange Democratic Movement zusammen. Mit dem Verfassungsreferendum von 2005 war die von scharfen Gegensätzen geprägte politische Konstellation entstanden, die ab Ende Dezember 2007 in die Katastrophe führte.


Suche nach Konsens


Seit 2007 ist der Weg zur neuen Verfassung nicht unbedingt einfacher gewesen, doch wurde er von der politischen Elite Kenias in wesentlich konstruktiverer Weise beschritten. Die Verfassungsreform gehört zu den Kernbestandteilen der Vereinbarungen, mit denen die Gewaltkrise im Frühjahr 2008 beendet worden war. Entsprechend groß war der Druck, zu einem Ergebnis zu gelangen, das als unabdingbar für die Sicherung des Friedens im Land galt und gilt.

Im Herbst 2009 erarbeitete ein Expertenkomitee einen neuen Verfassungsentwurf, der viel von dem aufgriff, was bereits vor dem Referendum von 2005 Konsens gewesen war. Im Februar 2010 trafen sich Vertreter der Parteien zur Klausur in Naivasha, um die verbleibenden Kontroversen aus dem Weg zu räumen. Das wichtigste einzelne Ergebnis dieses Prozesses bestand darin, dass die ODM ihre Forderung nach Machtteilung durch Einführung eines Premierminister-Amtes aufgab. Sie erhielt im Gegenzug aber Zugeständnisse bei der Einschränkung der präsidialen Macht und beim Thema Dezentralisierung. Dieser Kompromiss mag den ODM-Führern am Ende leichter gefallen sein, weil man sich selbst für die 2012 anstehenden Wahlen Chancen auf die Präsidentschaft ausrechnen konnte. Zugleich signalisierten Meinungsumfragen, dass die Forderung nach Machtteilung zwischen einem vom Volk gewählten, aber eher zeremoniellen Präsidenten, und einem nur indirekt durch das Parlament gewählten, aber die Regierungsgeschäfte führenden Premierminister breiten Kreisen der Bevölkerung nicht recht vermittelbar war.

Dieser in Naivasha erzielte Kompromiss bildete den eigentlichen Durchbruch. Zwar nahm das Expertenkomitee danach noch einige weitere Veränderungen am Texts des Entwurfs vor, was von manchen Seiten kritisiert wurde, doch fand auf der entscheidenden Parlamentsdebatte am 31.3.2010 kein einziger der zahlreichen vorgelegten Änderungsvorschläge mehr Unterstützung. Damit stand der Entwurfstext und die Kampagnen für das Referendum im August begannen. Diesmal signalisierte „Grün“ die Unterstützung des Entwurfs, „Rot“ seine Ablehnung.

Der im Frühjahr 2010 erzielte Konsens hielt auch über die folgenden Monate hinweg, vor allem weil die Chefs der Großen Koalition, Kibaki und Odinga, ihn vielen Problemen zum Trotz konsistent unterstützten. Für ihre Kampagne nutzen sie offen staatliche Ressourcen, was von der Wahlkommission und regierungsunabhängigen Beobachtern kritisiert wurde. Die Unterstützung durch die wichtigsten ausländischen Akteure, die als Garanten des Friedensprozesses nach der Krise von 2007- 08 fungierten, war ihnen ebenfalls sicher. Einzelne bekannte Politiker (darunter auch Vizepräsident Kalonzo Musyoka sowie Finanzminister Uhuru Kenyatta) galten phasenweise als unsichere Kandidaten und wurden vom Volksmund deshalb als „Wassermelonen“ (außen grün, innen rot) tituliert, doch blieben sie am Ende dem erzielten Kompromiss treu. Organisierter Widerstand gegen den Verfassungsentwurf kam nur von zwei Seiten: von Bildungsminister William Ruto und anderen ethnischen Gruppe der Kalenjin im Rift Valley zugehörigen Politikern sowie von den christlichen Kirchen.


Gegner: Mobilisierung im Rift Valley


William Ruto hatte sich in den Wahlen 2007 als wichtigster politischer Führer der Kalenjin erwiesen und deren Stimmen für die ODM gewonnen. Allerdings brachen bald nach den Wahlen Gegensätze zwischen ihm und Odinga auf, die mehrfach zu schweren Parteikrisen führten. Gegen Ruto wurden schwerwiegende Korruptionsvorwürfe („Mais-Skandal“ im Frühjahr 2009, als er noch Landwirtschaftsminister war) laut. In Kenia wird weithin vermutet, dass er zu denjenigen gehört, denen eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) droht, weil er in der Krise nach den Wahlen von 2007 Milizen organisiert und finanziert haben soll, die schwere Gewalttaten gegen Mitglieder anderer Bevölkerungsgruppen im Rift Valley verübten. Rutos Haltung gegen den Verfassungsentwurf war insofern inhaltlich paradox, als die neue Verfassung durchaus alte Forderungen aus dem Rift Valley nach größerer regionaler Autonomie zu realisieren sucht. Rutos Positionierung resultierte vor allem aus seiner Konkurrenz zu Odinga, dem gegenüber er sich um jeden Preis zu profilieren suchte. Am Ende gelang es Ruto, das Rift Valley zur einzigen Region des Landes zu machen, die mehrheitlich gegen den Verfassungsentwurf stimmte. Er fand dabei Unterstützung beim ehemaligen Präsidenten arap Moi, selbst Kalenjin. Dies hat den ethnischen Charakter der Abstimmung im Rift Valley weiter verstärkt; in anderen Landesteilen, wo arap Moi als wichtigster Repräsentant des alten Regimes weithin abgelehnt wird, dürfte es eher kontraproduktiv gewirkt haben. Dennoch muss man William Ruto nicht unbedingt als Verlierer der Abstimmung sehen: Zwar hat er die Verfassungsreform nicht verhindern können, aber womöglich sein Ziel erreicht, die Kalenjin als ethnischen politischen Block fest hinter sich zu vereinigen, den er in zukünftige Verhandlungen über politische Allianzen einbringen kann.


Gegner: Die Kirchen

Die christlichen Kirchen Kenias begründeten ihre Ablehnung der neuen Verfassung vor allem mit zwei Argumenten: Der Entwurf erlaube Abtreibung „auf Verlangen“ und stelle durch Vergabe eines verfassungsmäßig garantierten Status für die „Kadhi Courts“ (nach Sharia-Recht urteilende Gerichte für Zivilangelegenheiten zwischen Muslimen) den säkularen Charakter des kenianischen Staats in Frage. In der Realität allerdings ist auch die neue Verfassung durchaus restriktiv und erlaubt Abtreibungen nur bei Gefahr für Gesundheit oder Leben der Mutter. Es ist unwahrscheinlich, dass dies an der traurigen Realität der zahlreichen illegalen und gesundheitsgefährdenden Abtreibungen in Kenia viel ändern wird. Das unabhängige Kenia hat seit 1963 die an der Küste schon viel länger bestehenden Kadhi Courts immer anerkannt; wäre der Verfassungsentwurf im Referendum gescheitert, hätte dies die Existenz der Gerichte auch nicht beendet. Insofern trug das „Festbeißen“ der Kirchen an diesen beiden Fragen starke Züge symbolischer Politik. Es ging den Kirchen im Grunde genommen vor allem darum, ihre Position gegenüber dem, was sie als „dekadente westliche Moralvorstellungen“ kritisieren, bzw. sich gegenüber dem Islam in der politischen Arena Kenias zu beweisen. Die Kirchen müssen sich nun den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrer Kampagne gegen den Verfassungsentwurf die ohnehin wachsenden Spannungen zwischen Christen und Muslimen in Kenia weiter verschärft zu haben.

Von Anfang an gab es innerhalb der Kirchen durchaus auch kritische Stimmen, die sich gegen die Ablehnungskampagne wandten. Nüchtern betrachtet drohten die Kirchen in jedem Fall zu Verlierern zu werden: Bei einer Niederlage im Referendum würde ihre Reputation leiden, wie es jetzt auch geschehen ist. Hätten sie sich aber durchgesetzt, wären sie für das Scheitern eines zentralen Elements des Friedensschlusses nach der Gewaltkrise von 2007-08 und damit für etwaige zukünftige – womöglich gewaltsam ausgetragene – politische Konflikte mit verantwortlich gewesen. Die öffentliche Positionierung der Kirchen in der Debatte um die Verfassungsreform wurde aber offenbar vor allem von Hardlinern in den eigenen Reihen angetrieben, unterstützt von evangelikalen Gruppen aus den USA. Erst in den letzten Tagen vor dem Referendum, als alle Meinungsumfragen bereits auf einen Erfolg der Reform hindeuteten, zerbrach die kirchliche Ablehnungsfront vor den Augen der Öffentlichkeit. Die anglikanische Kirche erklärte die Entscheidung im Referendum zu einer individuellen Gewissensfrage. Aus politikanalytischer Sicht stellte das Referendum ein interessantes Laborexperiment dar: Würden die Kenianerinnen und Kenianer eher ihren religiösen oder ihren politischen Führern folgen? Das Ergebnis ist eindeutig gewesen. Wenn es im kenianischen Verfassungsreferendum überhaupt klare Verlierer gegeben hat, so sind es diejenigen kenianischen Kirchenvertreter (darunter neben Evangelikalen auch die katholische Kirche), die bis zum bitteren Ende offensiv das „Nein“ gepredigt haben. Ihr Ruf ist beschädigt und ihre politische Relevanz dürfte zumindest in näherer Zukunft fraglich bleiben. Verbleibende Forderungen aus Kirchenkreisen, einzelne Aspekte der neuen Verfassung durch Volksbegehren zu verändern, sind unrealistisch.


Landreform als kritisches Thema


In den Wochen vor dem Referendum wurde in Kenia viel darüber spekuliert, inwieweit die Furcht großer Grundbesitzer vor der anstehenden neuen Landgesetzgebung der „eigentliche“ Grund für die Haltung derjenigen darstellte, die die Verfassungsreform ablehnten. Im Fall des ehemaligen Präsideten arap Moi schien dies auf der Hand zu liegen; auch der kenianische Landbesitzerverband wandte sich gegen den Verfassungsentwurf, weil dieser die Rechtssicherheit gefährde, wenn auch mit dem Hinweis, dass viele andere Aspekte der geplanten Reform positiv und überfällig seien. Selbst den Kirchen wurde unterstellt, sie hätten in der Vergangenheit oft von fragwürdigen oder illegalen Landzuteilungen profitiert, was zumindest in dieser summarischen Form vermutlich nicht stimmt. Die ganze Sensibilität des Themas wird auch daran deutlich, dass in der Kampagne gegen den Verfassungsentwurf mit Desinformation gearbeitet und behauptet wurde, die Regierung plane, Kleinbauern ihr Land wegzunehmen.

Die Furcht von Grundbesitzern vor einer möglichen Landreform ist zweifellos ein Faktor in der „roten“ Kampagne gewesen. Dennoch bleibt das Bild uneinheitlich. Viele andere große Grundbesitzer in der politischen Elite Kenias (besonders markant das Beispiel des Finanzministers Uhuru Kenyatta) schlossen sich der Ablehnungsfront nicht an. Ohnehin bleiben die Chancen für die von manchen erhoffte Umverteilung von Großgrundbesitz unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen Kenias sehr begrenzt.


Die Gewinner


Von solchen Ausnahmen abgesehen, kann sich die große Mehrheit der Kenianerinnen und Kenianer als Gewinner des Verfassungsreferendums fühlen; die gegenwärtige Hochstimmung ist insofern völlig gerechtfertigt.

Die beiden Chefs der Großen Koalition sind Gewinner in ganz besonderer Weise: Präsident Kibaki, der 2012 nicht nochmals kandidieren kann, aber um sein historisches Erbe bemüht scheint, wird als derjenige Staatschef in die Geschichte Kenias eingehen, unter dessen Führung endlich eine Verfassungsreform zustande kam. Premierminister Odinga, der sich seit 2008 in vielen Bereichen durch eine gesunde Mischung aus Pragmatismus und Populismus viel Ansehen erworben hat und die Kampagne zur Unterstützung des Verfassungsentwurfs trotz zwischenzeitlicher Erkrankung mit großer Energie vorantrieb, ist heute – Meinungsumfragen zufolge – der chancenreichste Kandidat für die 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Die ansonsten zu Recht viel gescholtene politische Elite Kenias kann es sich als Verdienst anrechnen, ein wahrhaft nationales Projekt in einem schwierigen Aushandlungsprozess erfolgreich bewältigt zu haben.

Besondere Anerkennung schließlich verdient die Arbeit der neuen Interim-Wahlkommission unter ihrem Vorsitzenden Ahmed Isaack Hassan, die die Abstimmung mit dem Einsatz moderner Mittel gut organisierte, vor allem auch die Auszählung transparent gestaltete und damit einen wichtigen Beitrag dazu leistete, die traumatischen Schatten der Vergangenheit – d.h. vor allem die im Auszählungsstadium gescheiterte Präsidentschaftswahl vom Dezember 2007 – zu überwinden.


Lehren und Herausforderungen


So optimistisch sich Kenia Ende August 2010 zeigt, so groß sind die Herausforderungen, vor denen das Land jetzt steht.


Kontinuität in der politischen Kultur


Das Referendum hat gezeigt, dass etablierte Grundregeln der politischen Kultur des Landes weiterhin gelten. Regionalismus und Ethnizität als treibende Momente sind nicht außer Kraft gesetzt worden. In der Abstimmung folgten weite Teile der Bevölkerung den Vorgaben ihrer jeweiligen politischen Führer, denen sie sich durch ethnisch und regional definierte Loyalitäten verbunden fühlen. In den Kerngebieten der beiden Führer der Großen Koalition – d.h. in den Provinzen Central und Nyanza – erreichte die Zustimmung überall mindestens 80 Prozent, teilweise deutlich über 90 Prozent. Das Ergebnis in den Kalenjin-Gebieten im Rift Valley folgte in seiner Ablehnung demselben Muster.

Ein solches Abstimmungsverhalten ist durchaus rational, denn angesichts der Komplexität des Verfassungsentwurfs (und auch angesichts zahlreicher verunsichernder Falschinformationen, die kursierten) konnten sich trotz aufwendiger politischer Bildungskampagnen vermutlich die wenigsten Kenianerinnen und Kenianer sicher sein, das Dokument wirklich verstanden zu haben. Stattdessen mussten sie sich auf die Aussagen politischer Führer verlassen, denen sie Vertrauen entgegenbrachten.

Nur an wenigen Stellen ist diese politische Logik aufgrund lokaler politischer Besonderheiten gebrochen worden. Ein Beispiel ist Naomi Shaban, Ministerin für besondere Aufgaben, die sich auf die Seite der Gegner des Entwurfs geschlagen hatte. Dennoch erzielte die neue Verfassung in Shabans Wahlbezirk Taveta eine Zustimmung von über 75 Prozent – ein Ergebnis wie in den meisten anderen Teilen der Küstenprovinz, wo das Landproblem besonders scharf ausgeprägt ist und die neue Verfassung besonders starke Hoffnungen auf Verbesserungen weckt.

Dieser und einige andere Ausnahmefälle zeigen, wie auch schon bei früheren Wahlen, dass lokale politische Führer in Kenia – trotz aller Relevanz ethnischer Loyalitäten – ihre Wählerschaft nicht beliebig manipulieren können. Zugleich werden lokale, regionale oder ethnische Loyalitäten im Großen und Ganzen weiterhin die Politik Kenias prägen. Die Konflikte und Skandale des politischen Alltagsgeschäfts werden Kenia ebenfalls bald wieder einholen. Umso wichtiger ist die Fortentwicklung einer Kultur des konstruktiven politischen Kompromisses unter den politischen Führungseliten des Landes, für die das Verfassungsreferendum ein ausgesprochen positives Beispiel geliefert hat.


Gefahren ethnischer politischer Mobilisierung

Aufgrund der breiten Unterstützung für den neuen Verfassungsentwurf durch Kenias politische Klasse verlief das Referendum weitgehend ohne Zuspitzung ethnisch-regionaler Gegensätze, wie sie die Wahlen 2007 gekennzeichnet hatten – mit der bereits erwähnten Ausnahme des Rift Valley. Die Kampagne William Rutos und anderer führender Kalenjin-Politiker gegen den Entwurf trug klare Züge ethnischer Mobilisierung. Sie positionierte „die Kalenjin“ gegen fast alle anderen Gruppen in Kenia, und insbesondere auch gegen Zuwanderer aus anderen Landesteilen und ethnische Gruppen (Kikuyu, Luhya etc.), die sich seit der Kolonialzeit, und seit den 1960er Jahren auch mit Unterstützung des postkolonialen Staats, im Rift Valley niedergelassen haben.

Tatsächlich wurden vor dem Referendum Befürchtungen laut, es könne in einigen Gebieten (v.a. in den Regionen um Eldoret, Molo und Kericho), wie schon bei Wahlen in den 1990er Jahren und erneut 2007- 08, wieder zu Gewalttaten und Vertreibungsaktionen gegen Zuwanderer kommen. Von neuen Gewaltdrohungen gegen sie war die Rede und davon, dass manche von ihnen bereits ihre Flucht für den Referendumstag vorbereiteten. Die kenianische Regierung reagierte mit einem massiven Aufgebot von Sicherheitskräften in den betreffenden Landesteilen, was von der lokalen Kalenjin-Bevölkerung als Einschüchterungsmaßnahme gewertet worden sein dürfte.

Letztendlich verlief das Referendum, wie in anderen Landesteilen, auch im Rift Valley friedlich. Doch die ethnische Polarisierung ist damit nicht beendet. Landkonflikte zwischen Kalenjin und Zuwanderern im Rift Valley bleiben brisant. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor in dieser Gleichung ist die für Herbst 2010 erwartete Ankündigung des ICC, im Zuge der Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen für die Gewalt nach den Wahlen von 2007 endlich Namen zu nennen. Falls William Ruto unter ihnen sein sollte und der kenianische Staat beispielsweise zur Amtshilfe in einem Auslieferungsverfahren aufgefordert wäre, könnte Ruto versucht sein, die in den Wahlen 2007 und im Referendum aufgebaute ethnische Mobilisierung zu seiner Verteidigung zu nutzen. Dies ist ein Szenario mit einem hohen Gewaltrisiko.


Herausforderungen der neuen Verfassung an die Politik

Kenia setzt seine neue Verfassung zwar mit einem Paukenschlag in Kraft, doch wird deren Implementierung sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Dabei wird teilweise politisches Neuland betreten, vor allem mit den dezentralisierten Regierungsstrukturen der County Councils und dem Senats als zweite Kammer des Parlaments. Momentan ist noch weithin unklar, wie die neuen Institutionen im Detail funktionieren werden.

Bisherige Erfahrungen mit dezentralisierter Verwaltung in Kenia – vor allem mit den sogenannten Constituency Development Funds (CDF), die seit einigen Jahren auf Wahlkreisebene in Eigenregie Entwicklungsprojekte verfolgen – sind ambivalent: Manche CDFs haben die Erwartungen auf Stärkung lokaler Selbstverwaltung eingelöst; andere wurden zu Negativbeispielen von Korruption und Missmanagement.

Es wird sich erst in der Praxis und im Lauf der Zeit zeigen, ob die County Councils zu einer effektiven lokalen politischen Arena werden, in der aufstrebende politische Akteure sich beweisen können, oder aber zu Abladeplätzen für zweit- oder drittklassige Politiker. Die neuen dezentralen Institutionen und Foren bedeuten auch eine Herausforderung für die politischen Parteien, die jetzt stärker als zuvor gefordert sind, auf lokaler Ebene funktionierende Strukturen aufzubauen.

Die finanziellen Implikationen der neuen Strukturen bereiten ebenfalls Sorge; es sind bereits erste Anfragen auf internationale Unterstützung ergangen. Schon vor dem Referendum war das parlamentarische System Kenias – nicht nur im afrikanischen Vergleich – außerordentlich teuer. Insbesondere die Abgeordnetengehälter standen immer wieder im Brennpunkt öffentlicher Kritik.

Offen ist auch, inwieweit das in seinen Kontrollfunktionen durch die neue Verfassung aufgewertete Parlament den wachsenden Anforderungen wirklich gerecht werden kann. Viele Kenianerinnen und Kenianer haben letztlich wenig Vertrauen in ihre Abgeordneten, denen man eine Selbstbedienungsmentalität unterstellt (von der man letztlich wiederum selbst zu profitieren hofft). Die neue Verfassung erlaubt im Prinzip eine Abberufung von Abgeordneten durch ihre Wähler vor Ende der Wahlperiode; Details soll ein Gesetz innerhalb der nächsten zwei Jahre regeln. Auch hier darf man gespannt sein, wie sich dies auf die Praxis der Abgeordnetenarbeit und die Beziehungen zwischen Wählern und ihren politischen Repräsentanten auswirken wird.

Einzelne Übergangsregelungen der neuen Verfassung drohen aufgrund ihrer Komplexität das Parlament inhaltlich zu überfordern und haben das Potenzial, institutionelle oder politische Krisen herbeizuführen.

Die von der neuen Verfassung angeordnete Überprüfung aller Richter durch das Parlament innerhalb eines Jahres könnte das Justizsystem praktisch arbeitsunfähig machen. Innerhalb der nächsten 18 Monate sollen detaillierte gesetzliche Regelungen für die Finanzierung der County Councils erarbeitet werden; auch hier sind schwierige, der Öffentlichkeit kaum vermittelbare Debatten zu erwarten.

Und schließlich soll das Parlament – ebenfalls innerhalb von nur 18 Monaten – eine umfassende neue Landgesetzgebung erlassen, die nicht nur zu einem transparenteren und ökologisch wie ökonomisch rationaleren Umgang mit Landbesitz in Kenia führen, sondern auch äußerst hoch gespannten Erwartungen an eine fairere Landverteilung gerecht werden soll. Ohne die Attraktivität Kenias als sicherer Standort für internationale Investitionen zu gefährden. Hier sind harte politische Auseinandersetzungen zu erwarten, an deren Ende z.B. eine bessere Absicherung von Landbesitztiteln für Kleineigentümer stehen könnte. Eine umfassende Landumverteilung, wie von vielen erhofft, ist angesichts der Machtverhältnisse in Kenia aber nicht zu erwarten.

Das Parlament kann zwar eine begrenzte Verlängerung der durch die neue Verfassung gesetzten Fristen beschließen; doch falls auch dies zu keinem Ergebnis führt, könnte es zu einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen kommen. Doch bis dahin dürften ohnehin die nächsten regulären Wahlen – im Jahre 2012 – anstehen.

 

Axel Harneit-Sievers ist Büroleiter des Regionalbüros der Heinrich Böll Stiftung in Nairobi, Kenia.