Letzte Hoffnung Jasmin

Demonstranten haben vor der Parteizentrale von Ben Alis Partei RCD einem Soldaten Blumen in den Gewehrlauf gesteckt. Foto: Nasser Nouri Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

26. Januar 2011
Von Fawwaz Traboulsi
Von Fawwaz Traboulsi

Die Jasminrevolte hat gesiegt, der Diktator ist geflohen. Das tunesische Volk hat mit dem Beginn des Jahres 2011 für sich selbst und die ganze arabische Welt ein strahlendes Stück Geschichte geschrieben.

Es war eine tunesische Jugendrevolte, die ein arbeitsloser Akademiker ausgelöst hat, indem er sich anzündete und damit ein ganzes Land erleuchtete. Eine Revolte, die sich aus dem armen ländlichen Süden in die Binnenstädte fortpflanzte, bevor sie die Hauptstadt Tunis erfasste, wo sich ihr Gewerkschaften, Berufsverbände, Parteien und Intellektuelle anschlossen.

Es war eine Revolte von Menschen, die ihre Angst überwanden und entdeckten, dass jenseits davon alles möglich wird. Sie widerstanden Waffengewalt, Gefängnis und Mord, und vereitelten die Versuche des Diktators, sich an die Macht zu klammern oder sie nach einer Phase des Vakuums wieder an sich zu reißen. Diese Revolte siegte ohne ausländische Unterstützung oder Einmischung, ja sie siegte trotz der Unterstützung des Auslandes für den Diktator! Das Frankreich von Präsident Sarkozy entsagte seinem engsten Verbündeten erst, als alles entschieden war, und auch erst dann stellte sich das Amerika Obamas auf die Seite des tunesischen Volkes und seines „Rechts auf die Wahl seiner Führer“. Und es ist mehr als bezeichnend, dass Ben Ali sich gerade nach Saudi-Arabien absetzte. Damit bekräftigte er eine Einheit der arabischen Regime, die auf dem Schulterschluss republikanischer (Erb-)Diktaturen mit konservativen Herrscherdynastien beruht. Allein Gaddafi scherte aus dem arabischen Chor des Schweigens und des halbherzigen und ängstlichen Stammelns von Glückwünschen an das tunesische Volk aus. Der dienstälteste Staatschef der Welt drückte seinen „Schmerz“ über den Sturz Ben Alis aus, nachdem er ihm lebenslange Regentschaft gewünscht hatte. Und meinte wohl sich selbst damit.

Das Bedeutsame an Volksaufständen ist, dass sie die Mechanismen eines Gesellschaftssystems in ihrer Tiefe aufdecken und herrschende Vorstellungen auf den Kopf stellen. Und dementsprechend hat die tunesische Revolte die Demokratiedebatte in unseren (arabischen) Ländern entschieden. Denn hier wetteifern zwei Gruppen, die beide der Illusion anhängen, der Westen wolle uns die Demokratie aufdrängen. Die einen hoffen auf ein westliches Eingreifen, und sei es auch mit Panzern, während die anderen im Namen nationaler und religiöser Besonderheiten und aus einer Trotzhaltung gegen den kolonialistischen Westen die Demokratie ablehnen. Die westlichen Mächte ihrerseits haben am Beispiel Tunesiens einen weiteren Beleg dafür geliefert, dass die Demokratie in Europa und Amerika ein reines Lokalprodukt ist, das nicht zum Export vorgesehen ist, ja mehr als das: das davon lebt, indem man Kriege gegen andere Völker führt, deren Ressourcen kontrolliert und ausbeutet, und indem man deren dynastische Tyrannenregime unterstützt.

Der Aufstand des tunesischen Volkes dagegen ist Beweis dafür, dass die Demokratie auf der Straße liegt und dass sie unter Opfern, um den Preis von Blut und durch Entschlossenheit erkämpft werden kann, wenn man seinen Gegner kennt. Keinerlei Identitäts-, Authentizitäts- oder Kulturkomplexe gab es hier. Wir sprechen von einem Land, das sich als erstes in der Region 1861 eine Verfassung gab, die erste moderne Zeitung herausgab, das sich von den Ideen seiner großen Denker wie denen von Abul-Qasim ash-Shabbi und dem Vordenker der Befreiung der Frau, Tahar Haddad, inspirieren lässt; von einem Land, das sein Momentum aus seinem Unabhängigkeitskampf bezieht. Wir sprechen von einem Land, das sich auf die Tradition eines säkularen Staates und eines fortschrittlichen Zivil- und Familiengesetzes beruft, einem Land, in dem Frauen im öffentlichen Leben ihren Platz einnehmen und in dem die Gewerkschaften eine historische Rolle bei der Verknüpfung des nationalen Kampfes mit dem für soziale Gerechtigkeit gespielt haben.

Der tunesische Umsturz geschah nicht aus heiterem Himmel. Bereits zuvor gab es in mehreren arabischen Ländern einen unabhängigen, demokratischen, von den Massen getragenen Kampf. Tunesien ist lediglich der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Volkserhebungen für Brot, Arbeit und Freiheit. Allein diesen ist es zu verdanken, dass es in nicht wenigen arabischen Staaten heute Parteien- und Pressepluralität gibt, dass zunehmend öffentliche Freiheiten gewährt wurden, dass gewählte Institutionen mehr Kompetenzen bekamen und dass es zu Machtwechseln kommt. In diese Reihe von Erhebungen gehören im Wesentlichen der „ägyptische Januar 1977“, der algerische Aufstand der „Herumhänger“ sowie die Brotrevolten in Marokko und im Süden Jordaniens. Und das war alles nur der Anfang.

Brot, Arbeit, Freiheit, ausgewogene regionale Entwicklung, soziale Gerechtigkeit: Es ist nicht zu übersehen, was alle diese Forderungen vom Golf bis zum Atlantik vereint. Aus ihnen bildet sich eine Welle sozialer Reaktionen auf eine neoliberale Globalisierung, durch die die Preissubventionierung für Lebensmittel wegfiel, durch die Marktkräfte entfesselt und öffentliche Dienstleistungen wie Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung privatisiert wurden. Ganze Wirtschaften wurden auf Kosten produktiver Sektoren umgewandelt zu profitablen, konsumorientierten Märkten mit einem Bildungssystem, das Arbeitslose mit Abitur und Diplom produziert. Im Ergebnis wachsen Unterbeschäftigung, Ausgrenzung und Unterschiede zwischen Klassen und Regionen.

Die tunesische Revolte ist eine Revolte der Armen, der Ausgegrenzten und der Arbeitslosen. Und sie wird sich nicht blenden lassen von Begriffen, wie Frau Clinton sie gegenüber arabischen Herrschern benutzt: Man müsse Korruption bekämpfen und Reformen umsetzen. Genau dies ist die trügerische Sprache des Neoliberalismus, die die Armen als eine Plage ansieht und die dazu aufruft, kleine bestechliche Beamte zu bestrafen und die korrupten Kapitalisten, Mafiosi und Petrokraten laufenzulassen, die ihre politische Macht dazu benutzen, sich wirtschaftliche Vorteile aufzubauen und gestohlene Reichtümer im Ausland anzuhäufen oder sie dort anzulegen. Die Tunesier liegen dagegen völlig richtig mit ihrem Korruptionsfokus: Sie fordern, den ehemaligen Präsidenten, seine Familie und sein Gefolge vor Gericht zu stellen und seinen Geldern und Besitztümern, die bis nach Argentinien verstreut sind, nachzuspüren.

Insofern ist der tunesische Umsturz auch eine Kritik an der neoliberalen Praxis in unseren (arabischen) Ländern und eine klare Warnung an Nichtregierungsorganisationen und ihre Illusion, man könne auch außerhalb der Politik etwas erreichen, indem man die Belange der Menschen in getrennte Bereiche aufspaltet: Jugend, Frauen, Umwelt, Menschenrechte, Kleinkredite, Kultur, Bildung, neue Geschäftsfelder, Sicherheit und Frieden und so weiter, womit Rechte und Staatsbürgertum ihrer Bedeutung insofern beraubt werden, als man an ihre Stelle Dienstleistungen und Almosen setzt und man mit der Bezeichnung „Menschenrechte“ wirtschaftliche und soziale Rechte durch Individualrechte ersetzt.

In Tunesien, aber auch anderswo in der arabischen Welt, wird mit den Revolten der Grundstein gelegt für die Erhebung einer dritten, unabhängigen soziopolitischen Kraft, die gegen die bestehenden Regime kämpft, sich aber in islamischen Bewegungen nicht wiederfindet, da diese sich nicht vom Neoliberalismus befreien können. Diese Kraft unterstützt weder Neoliberalismus noch Islamismus. Im Internet wie auf der Straße kann man sie wachsen sehen. Ihre Parolen sind „heute Ben Ali, morgen Husni Mubarak“, und „heute Ben Ali, morgen Ali Abdallah Saleh“. In Jordanien fordert die Bewegung vorerst nur die Absetzung des Ministerpräsidenten als Bauernopfer anstelle des Königs. Aber Demonstrationen gegen überhöhte Preise und für Arbeit finden nun auch dort statt, wo man sie bisher nicht kannte: in den palästinensischen Autonomiegebieten oder in der saudischen Hauptstadt Riad, wo Arbeitslose Sitzstreiks veranstalten.

Der Aufstand von Tunesien war beinahe spontan. Keine der Oppositionsparteien im Inland führte sie an (die ernstzunehmenden, radikalen wie die Kommunistische Arbeiterpartei waren ohnehin in den Untergrund abgedrängt), und nur wenige Nichtregierungsorganisationen nahmen daran teil. Seine Spontanität war seine große Stärke und droht jetzt seine große Schwäche zu werden. Denn in Tunesien ist ein Diktator gestürzt worden, aber noch nicht die Diktatur. Diese hat noch Kraft, auch wenn sie erschüttert ist. Sie hat noch Unterstützer, besonders in den Sicherheitskräften und in der Armee, von ihren Komplizen in Paris und Washington einmal ganz abgesehen. Sie setzt auf das Chaos.

Die Schlacht ist noch nicht vorbei. Der Kampf für eine Verwandlung der Revolte in eine Revolution hat begonnen. Es ist an der Zeit, die Märtyrer zu rühmen und aufmerksam zu beobachten, wohin die Dinge sich entwickeln und was die Gegner und Feinde tun. Und es ist Zeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Und schließlich ist es an der Zeit, etwas neue Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung, die uns eine Jasminrevolte im Lande des Jasmin verspricht.

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Fawwaz Traboulsi ist Professor für Geschichte und Politik an der Lebanese American University in Beirut. Er war als Gastprofessor an der Columbia University in New York tätig und ist momentan Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Er publiziert zu arabischer Geschichte, Politik und sozialen Bewegungen.

Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth

Dossier

Die Bürgerrevolution in der arabischen Welt

Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews: