Afghanistan: Wie weiter am Hindukusch?

Wie weiter am Hindukusch? Podium v.l.n.r.: Bente Scheller, Thomas Ruttig, Sabine Porn, Phillipp Ackermann; Foto: Stephan Röhl, Lizenz: Creative Commons BY-SA 3.0

Afghanistan nach der Bonner Außenministerkonferenz

27. Dezember 2011
Onike Shorunkeh-Sawyerr

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Zehn Jahre danach“ in Kooperation mit dem RBB InfoRadio fand am 8.12.2011 eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wie weiter am Hindukusch? Afghanistan nach der Bonner Außenministerkonferenz“ in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung statt. Die Podiumsdiskussion war die dritte und letzte Diskussion in der Veranstaltungsreihe zum zehnten Jahrestag und den Folgen des 11. September 2001. Moderiert wurde das Podium von Sabine Porn (RBB Inforadio); Bente Scheller (Leiterin des Afghanistanbüro der Heinrich-Böll-Stiftung), Thomas Ruttig (Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network) und Philipp Ackermann (Leiter des Arbeitsstabs Afghanistan-Pakistan, Auswärtiges Amt) zogen wenige Tage nach der Bonner Außenministerkonferenz vom 5. Dezember 2011 eine kritische Bilanz über die Zukunft Afghanistans.

Afghanistan seit 2001 - Große Hoffnungen und kleine Fortschritte

Was waren die Erwartungen in 2001 und wo stehen wir heute? Im Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre wurde darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung nach der Entmachtung der Taliban sehr hoffnungsvoll gestimmt war und Optimismus darüber herrschte, dass die internationalen Truppen beim Wiederaufbau des Landes helfen würden. In den ersten zwei Jahren sah es so aus, als hätte sich diese Hoffnung bewahrheitet, aber Thomas Ruttig wies darauf hin, dass die ersten Brüche schon „in und nach Bonn“ im Jahr 2001 stattgefunden hätten. Viele der Ziele, die auf der ersten Petersberger Afghanistan Konferenz gesetzt wurden, seien nicht implementiert worden. Ab 2008 könne man von einer Trendwende in den Entwicklungen sprechen, die vor allem in Kabul spürbar gewesen sei, so Bente Scheller. Philipp Ackermann bemerkte, dass man dennoch nicht von einer allgemeinen Verschlechterung der Situation sprechen könne und es notwendig sei, zwischen den verschiedenen Teilen des Landes zu differenzieren, wenn man über die Lage in Afghanistan spreche. Er beteuerte, dass es viele Errungenschaften gegeben habe, die unbedingt bewahrt werden müssten. Das sei aber nur möglich, wenn man sich um einen inklusiven, innerafghanischen politischen Prozess bemühe, denn militärisch sei der Konflikt nicht zu lösen. Die Fortschritte dürften nicht auf dem „Altar der Kompromisse“ geopfert werden, darüber sei man sich auch am 5. Dezember in Bonn einig gewesen.

Diese Fortschritte seien aber nur „halbe Fortschritte“, vieles stehe nur auf dem Papier, sagte Thomas Ruttig. Die Korruption beispielsweise stelle nach wie vor ein riesiges Problem dar. Außerdem erlaube es die Sicherheitslage vielen Afghan/innen gar nicht, die neue Infrastruktur zu nutzen. Es sei zwar gut, dass viele Straßen gebaut werden, doch „Straßen helfen nicht, wenn man nicht darauf fahren kann“.

Zukunftsvisionen: Afghanistan bis 2014

Was kann bis 2014 erreicht werden und welche Bereiche sind besonders wichtig? Bente Scheller erklärte, dass man die noch nicht funktionsfähigen staatlichen Institutionen und Strukturen stärken müsse, statt einzelne Akteure zu unterstützen. Für besonders problematisch hielt sie das in den Institutionen herrschende „Senioritätsprinzip“; es gebe weder Raum noch Einflussmöglichkeiten für die heranwachsende Elite junger, gebildeter Afghan/innen. Man müsse verhindern, so Bente Scheller, dass diese sich zur Folge ins Ausland absetze.

Thomas Ruttig wies darauf hin, wie wichtig es sei, eine unabhängige Justiz und ein System von Checks und Balances aufzubauen. Ebenfalls wichtig sei die Schaffung eines politischen Mittelfeldes, das zwischen der Regierung Karzai, den Truppen und den Aufständischen angesiedelt sei. Man könne in den kommenden drei Jahren aber nicht alle Versäumnisse der letzten zehn Jahre nachholen, bemerkte der Afghanistan Experte. Philipp Ackermann äußerte sich optimistischer und sagte, es habe am 5. Dezember in Bonn eine ganz klare Nachricht gegeben: „Afghanistan wird auch nach 2014 finanzielle Unterstützung erhalten“. Die Bonner Konferenz sei keinesfalls eine „Konferenz der Unverbindlichkeiten“ gewesen, so Philipp Ackermann.

Die Teilhabe der afghanischen Zivilgesellschaft

Wie kann die Zivilgesellschaft gestärkt und in den politischen Prozess mit einbezogen werden? Philipp Ackermann nannte als eines der Ziele der Bonn Konferenz die Sicherung der Funktionsfähigkeit der afghanischen Zivilgesellschaft. Man könne diese fördern und ihr zu mehr Gehör verhelfen, indem man mehr Räume und Foren für zivilgesellschaftliches Engagement schaffe, erklärte er. An dieser Stelle bedankte er sich bei den politischen Stiftungen für ihren Einsatz zur Einbindung der afghanischen Zivilgesellschaft im Vorfeld der Außenministerkonferenz in Bonn.

Verhandlungen entlang der „roten Linien“?

Man kam auch auf die sogenannten roten Linien zu sprechen, die die internationale Gemeinschaft für die Verhandlungen mit den Taliban formuliert hat. Diese seien wichtig, bemerkte die Leiterin des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Kabul, doch wolle die afghanische Bevölkerung den Versöhnungsprozess von ihrer eigenen Regierung gesteuert sehen. Es sei problematisch, Gerechtigkeit von außen durchsetzen zu wollen, sagte sie. Thomas Ruttig sagte, dass die roten Linien „längst nicht mehr rot“ seien. Die Gemengelage sei auch viel komplizierter, als es von außen den Eindruck mache. Der Hohe Friedensrat stelle vielmehr einen Kriegsrat dar, an dessen Legitimität Zweifel herrschten, so Thomas Ruttig. Es bedürfe einer Reform dieser Institution, denn ein wirklich neutrales Gremium gebe es bis heute nicht. Philipp Ackermann betonte zudem, dass rote Linien am Ende von Gesprächen stehen sollten und nicht am Anfang. Gleichzeitig müssten die Menschenrechte – vor allem die der Frauen - anerkannt werden und bleiben. Die internationale Gemeinschaft habe aber mittlerweile realisiert, dass die Dämonisierung der Taliban den Versöhnungsprozess nicht voranbringen.

Die regionale Dimension – welche Rolle spielt Pakistan?

Pakistan hat seine Teilnahme an der Afghanistan Konferenz am 5. Dezember in Folge eines schweren Angriffs der NATO Truppen auf einen pakistanischen Militärstützpunkt Ende November zurückgezogen. Durch das verschärfte Verhältnis zu den USA und die steigende Tendenz der politischen Isolierung Pakistans in der Region stellt sich die Frage, welche Rolle das Land im Afghanistankonflikt spielen kann und will. Thomas Ruttig zufolge sei nicht Afghanistan Pakistans primäres Problem, sondern Indien, wobei „Afghanistan nur als Hinterhof dient“. Auch auf der regionalen Afghanistan-Konferenz in Istanbul im November habe sich wieder gezeigt, wie schwer die bilateralen Konflikte wiegten. Eine Verbesserung der Situation sei, wenn überhaupt, nur graduell möglich; das „Bohren solch dicker Bretter“ erfordere viel Kleinarbeit. Philipp Ackermann hingegen sprach von einem veränderten pakistanischen Afghanistanbild. Pakistan, so sagte er, sei jetzt „an Stabilität in Afghanistan interessiert“ und die Konferenz in Istanbul habe einen Schritt hin zu mehr regionaler Kooperation symbolisiert. Bente Scheller betonte, dass das gegenseitige Misstrauen nur schwer aufzulösen sein werde und eine Besserung der Situation starke vertrauensbildende Maßnahmen erfordere.

Hoffnungen für Afghanistans Zukunft

Laut Scheller blicken viele Afghan/innen mit Skeptizismus, Ungewissheit und Angst in die Zeit nach dem Truppenabzug in 2014. Die meisten seien zwar für den Abzug der internationalen Truppen, jedoch fehlten optimistische Zukunftsperspektiven aufgrund mangelnden Vertrauens in die eigene Regierung. Sie sprach sich dafür aus, die vielen kleinen afghanischen und internationalen Organisationen nachhaltiger zu unterstützen, denn diese seien Akteure, die tatsächlich etwas bewirken könnten. Nach Angaben von Thomas Ruttig und auch Philipp Ackermann ist vor allem die UN ein wichtiges Instrument für die Stabilisierung des Landes. Beide betonten, dass sie die von der Karzai Regierung geforderte Beschneidung des UNAMA (United Nation’s Assistance Mission in Afghanistan) Mandats für problematisch hielten." Sie äußerten sich aber hoffnungsvoll, dass der afghanische politische Prozess schnell greife. Voraussetzung hierfür sei eine stabile Sicherheitslage, so die beiden Experten, für deren Gewährleistung das internationale Engagement noch mehrere Jahre lang von Nöten sei. Bente Scheller erklärte, dass die Versprechungen, die gemacht werden, auch umgesetzt werden müssten, damit das Volk seinen Mut und die Hoffnung nicht verliere. Sie forderte aber auch mehr Zurückhaltung bei öffentlichen Diskussionen und sagte, dass der Optimismus und die Schönmalerei, die die Debatten in der Vergangenheit oft begleitet hätten, genauso problematisch seien, wie die jetzige Schwarzmalerei.

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Onike Shorunkeh-Sawyerr, Heinrich-Böll-Stiftung

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» Mitschnitt der Podiumsdiskussion am 8. Dezember 2011

Dossier

Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement

Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.