Die türkisch-russische Annäherung unter der Lupe

1. Februar 2011
Christian Eichenmüller

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Christian Eichenmüller

Zwischen Moskau und Ankara herrscht seit dem Jahr 2009 ein für die bisherigen bilateralen Beziehungen ungewöhnlich reger Besuchsverkehr: Im Februar 2009 besuchte Abdullah Gül als erster amtierender türkischer Staatspräsident die russische Hauptstadt Moskau. Im Mai 2010 wiederum war Staatspräsident Medvedev zu Gast bei seinem Amtskollegen Abdullah Gül. Auf das Treffen der Premiers Erdoğan und Putin in Sotchi im Mai 2009 folgten der Besuch von Putin in der Türkei noch im gleichen Jahr und der Gegenbesuch von Erdoğan und seinem Außenminister Davutoğlu in Moskau im Januar 2010.

Die türkischen Medien kommentierten diese Besuche stets mit wohlwollenden Berichten über eine Vielzahl von Abkommen, die zwischen beiden Ländern abgeschlossen worden seien. Wer sich aber die Mühe macht, mehr über die türkisch-russischen Kooperationsbemühungen zu erfahren, der muss feststellen, wie wenig über die tatsächliche Substanz der Vereinbarungen nach außen dringt.

Eine starke bilaterale Kooperation scheint vor allem dann wahrscheinlich, wenn sich die Interessen der Akteure decken oder ergänzen. Während das Interesse Russlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorwiegend von Machtkonsolidierungsbemühungen – unter Einschluss der Gasversorgung als Instrument der Außenpolitik – geprägt ist, scheint sich die Türkei neuerdings als regionale Macht etablieren und auf internationaler Ebene als emerging power mitspielen zu wollen.

In den türkisch-russischen Beziehungen lassen sich sowohl etliche gemeinsame Interessen – hier vor allem zunehmende ökonomische Verflechtung – als auch zahlreiche Unterschiede ausmachen. So befinden sich die Türkei und Russland im Zypernkonflikt und im Kaukasus weiterhin in unterschiedlichen Lagern. Lösungsansätze für diese regionalen Konflikte, wie die auf türkische Initiative ins Leben gerufene Caucasus Stability and Cooperation Platform, haben sich bisher nicht durch besondere Effektivität ausgezeichnet.

Zunehmende Wirtschaftsbeziehungen – mit Vorteilen auf Seiten Russlands

Aus wirtschaftlicher Perspektive sind die türkisch-russischen Beziehungen durchaus zu einem bedeutenden Faktor geworden. Mit einem Handelsvolumen im Wert von rund 25 Mrd. Dollar wurde Russland zum zweitstärksten Handelspartner der Türkei. Allerdings kämpft hier die Türkei gegen das große Handelsbilanzdefizit zu Ungunsten der Türkei. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Importe fossiler Brennstoffe aus Russland: Gas und Öl machen den Großteil der Exporte Russlands in die Türkei aus.

Die Befürchtungen der 90er Jahre, dass das Ende der Sowjetunion zur Konkurrenz zwischen Russland und der Türkei um Einfluss in den turksprachigen Staaten Zentralasiens führen würde, haben sich bisher nicht bestätigt. Der Zugang zu den kaspischen und zentralasiatischen Öl- und Gasreserven bleibt allerdings für beide Akteure von großer Bedeutung.

Starke Abhängigkeit der Türkei von russischer Energie

Die erste Regierungsvereinbarung zur Gasversorgung der Türkei durch Russland stammt aus dem Jahr 1984 zur Zeit der Regierung Turgut Özals. Zwei Jahre später folgte das erste Handelsabkommen zwischen dem staatlichen sowjetischen Betreiber Gazexport und der türkischen Botaç. Der Kalte Krieg hinderte das NATO-Mitglied Türkei und die Sowjetunion nicht daran, Geschäfte zu machen. Seit den 1990er Jahren wurden die russischen Gasexporte in die Türkei allerdings nochmals vervielfacht. Im Jahr 2008 wurden fast zwei Drittel des Gasverbrauchs der Türkei durch Importe aus Russland gedeckt. Hinzu kommt noch ein Anteil von ca. 40% an den Ölimporten – Zahlen, welche die starke Abhängigkeit der Türkei von russischer Energiezufuhr deutlich machen. Diese dürften den türkischen Entscheidungsträgern kaum gefallen.

Angesichts der Abhängigkeit der Türkei von russischen Energiezufuhren sollte man annehmen, dass sich die Türkei um Alternativen und um eine Diversifizierung ihrer Energieversorgung bemüht. Die jüngst geschlossenen Abkommen mit Russland zum Bau von Kernkraftwerken deuten allerdings in eine andere Richtung. Ausschlaggebend dafür mag auch sein, dass Russland alternative Energieversorgungsrouten über den Kaukasus ablehnt und eine Steigerung der Gasimporte aus dem Iran für die Türkei aus Rücksicht auf die Beziehungen zu den USA und den europäischen Bündnispartnern derzeit politisch wenig opportun ist.

Der russische Energieriese Rosatom soll das erste Atomkraftwerk der Türkei im anatolischen Akkuyu errichten – ein Schritt der in vielerlei Hinsicht kritisch beleuchtet werden müsste. Neben einem weiteren Anstieg der einseitigen Abhängigkeit von Russland und der grundsätzlichen Kritik an dem Einstieg in die Nuklearenergie – zumal bei vorhandenen Alternativen – ist die türkische Zivilgesellschaft auch über die Wahl des Standortes, ein Erdbebengebiet, entsetzt. Ungeklärt ist auch die Frage nach der Endlagerung der Nuklearabfälle. Die Beschwichtigungsversuche der türkischen Regierung, die Abfälle nach Russland zurückzusenden, scheitern schon an der Realität russischer Gesetze.

Visafreies Reisen bleibt vorerst nur Wunschdenken

Die Aufhebung des Visaregimes wird insbesondere von türkischer Seite in den bilateralen Beziehungen mit Russland immer wieder gefordert. Trotz anderslautender Ankündigung auf Visafreiheit zwischen Russland und der Türkei scheiterte die Aufhebung bisher u.a. an einem Rücknahmeabkommen für illegale Immigranten – ein entsprechendes Abkommen konnte schließlich Anfang 2011 unterzeichnet werden. Von der Visafreiheit würde besonders die Türkei in ihrem Warenexport nach und dem Tourismusboom aus Russland profitieren. Die türkische Mittelmeerküste ist zunehmend ein äußerst beliebtes Reiseziel russischer Touristen. Russland hingegen hat insbesondere bei Importen aus der Türkei im Lebensmittelbereich weiterhin starke Bedenken bezüglich der Einhaltung bestimmter Standards und zeigt keine gesteigerte Motivation dem türkischen Drängen in dieser Frage nachzugeben.

Ebenso ist eine verstärkte Kooperation auf geisteswissenschaftlichem Gebiet – etwa das Abkommen zur jeweiligen Öffnung der Staatsarchive und erste länderübergreifende Forschungsvorhaben über die Endphase des Osmanischen Reichs im frühen 20. Jahrhundert – zu verzeichnen.

Dennoch erreichen alle diese Kooperationsbemühungen nicht das Ausmaß, wie die Medienberichte auf populistische Weise glauben machen wollen. Die medienwirksamen Ankündigungen dutzender neuer Abkommen scheinen eher auch das Ziel zu verfolgen, die politische Bedeutung der Türkei international aufzuwerten und ihr insgesamt mehr internationale Aufmerksamkeit zu sichern.

Vermeintliche Widersprüche der türkischen Außenpolitik

Die russisch-türkische Annäherung reiht sich ein in eine Vielzahl außenpolitischer Initiativen der Erdoğan Regierung, insbesondere seit der Amtsübernahme von Außenminister Ahmet Davutoğlu vor zwei Jahren. Fast monatlich hat die türkische Außenpolitik im Jahr 2010 zumindest in der Türkei und nicht selten auch auf internationaler Ebene für Schlagzeilen gesorgt. Nicht selten erweckt die Außenpolitik der Türkei ein Bild von sich widersprechenden Interessen: Beispielsweise dürfte die Zero-Problems-Strategie der Türkei im Fall des Iran deutlich mit den eigenen Interessen als NATO-Verbündeter und Aspirant auf eine EU-Mitgliedschaft in Widerspruch stehen. Es bleibt daher fraglich, ob es der Türkei gelingt, sich bei diesen diversen Interessenlagen zu einem zentralen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren.