Kurz vor dem Wahlkampf: Die ukrainische Partei der Regionen macht Druck

Banner mit der Aufschrift Aufschrift "Sprache - Vaterland - Ukraine": das umstrittene Sprachgesetz wird im Wahlkampf instrumentalisiert; Bild: Andreas Stein

24. Juli 2012
Kyryl Savin, Andreas Stein
Kurz vor der Sommerpause kam es zur Abstimmung über das umstrittene Sprachgesetz, jedoch anders anders als erwartet. Entgegen allen Parlamentsregeln zur Berücksichtigung von Änderungsanträgen und der vorherigen Diskussion im zuständigen Ausschuss hat die regierende Partei der Regionen am 3. Juli gemeinsam mit den Stimmen von Kommunisten, des Blockes Lytwyn und fraktionslosen Abgeordneten das Gesetz ohne Änderungen verabschiedet. Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn kündigte daraufhin mit Parlamentsvize Mykola Tomenko von Julia Tymoschenkos „Batkiwschtschyna/Vaterland“ seinen Rücktritt an. Nun hängt das Inkrafttreten des Gesetzes von Lytwyns und Präsident Janukowytschs Unterschrift ab. Mit der vorläufigen Verabschiedung dieses Gesetzes ist der Wahlkampf in der Ukraine inoffiziell eröffnet worden.

Parlament ohne Regel

Ganze 1:50 Minuten - nur unwesentlich mehr als der Bundestag für das Meldegesetz - benötigte die Regierungskoalition, um die Abstimmung über den Gesetzentwurf 9073 in unveränderter Form auf die Tagesordnung zu setzen und das Gesetz im Ganzen zu beschließen. Nach nicht einmal zehn Minuten war damit die Nachmittagssitzung der Werchowna Rada an diesem 3. Juli beendet. Mit 248 Stimmen von der Partei der Regionen, den Kommunisten, des Blockes Lytwyn und einigen anderen fraktionslosen Abgeordneten wurde das Gesetz angenommen. Im Vorfeld waren mehr als 2000 Änderungsanträge eingegangen, wodurch die Opposition die Annahme des Gesetztes absichtlich versuchte zu verzögern. Zu einer Diskussion der Anträge kam es jedoch nicht: Diese wurde absichtlich von der Partei der Regionen übersprungen und schafft – bewusst oder unbewusst – einen bedenklichen Präzedenzfall.

In Zukunft könnte jeder Gesetzentwurf mit Abstimmungsmehrheit diskussions- und änderungslos durchsetzbar sein. Die korrigierende Funktion der Opposition wäre komplett abgeschafft und das ukrainische Parlament endgültig zum Abnickorgan verkommen. Als Reaktion auf diese Abstimmung kündigten sowohl Vizeparlamentspräsident Mykola Tomenko („Batkiwschtschyna“) als auch Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn wahlkampfwirksam ihren Rücktritt an. Tomenkos Rücktritt wurde bereits vom Parlament angenommen.

Kaum Proteste

Unmittelbar nach der Abstimmung wurden in Kiew Proteste vor dem Ukrainischen Haus (ehemaliges Lenin-Museum) organisiert. Mehrere Hundert Menschen verhinderten nach kleineren Rangeleien die für den 4. Juli an diesem Ort angesetzte Pressekonferenz von Präsident Wiktor Janukowytsch anlässlich des Abschlusses der politischen Saison. Dennoch blieben die Teilnehmerzahlen weit unter den Erwartungen. Auch der „spontan“ verkündete Hungerstreik einiger Abgeordneter des Wahlbündnisses war nicht von längerer Dauer.

Landesweit kam es ebenfalls zu Protesten, die jedoch ebenfalls nur von geringem Ausmaße waren. Allenfalls in den westukrainischen Städten konnten mehr als 1000 Demonstranten gezählt werden. Versuche der Errichtung von Zeltlagern scheiterten wie zum Beispiel im zentralukrainischen Tscherkassy an der geringen Teilnehmerzahl. Die Miliz hatte keine Probleme von regierungstreuen Gebietsverwaltungen verhängte Demonstrationsverbote durchzusetzen.

Einzig in Kiew hält sich die Miliz bislang noch zurück, verhängte Verbote durchzusetzen. Vor dem Ukrainischen Haus harrten noch 50-100 Aktivisten einige Tage trotz sommerlicher Hitze aus und einige von ihnen traten in einen unbefristeten Hungerstreik. Mehrere der ursprünglich elf Hungernden mussten jedoch aufgrund körperlicher Beschwerden ihren Hungerstreik abbrechen. Zwei Wochen nach dem Beginn wurde aber auch dieser Protest eingestellt
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Insgesamt hat sich bei den Protesten wieder die rechtspopulistische „Swoboda/Freiheit“ hervorgetan, was durchaus im Sinne der regierenden Partei der Regionen ist. „Swoboda“ dient einerseits als Schauermärchen für die ostukrainischen Wähler, denen zum wiederholten Male Bilder der „westukrainischen Faschisten“ gezeigt werden konnten. Andererseits fehlen die Stimmen für „Swoboda“ den anderen regierungskritischen Parteien, die weniger kontrollierbar sind.

Inkrafttreten des Sprachgesetzes weiterhin unwahrscheinlich

Die weitere Zukunft des Gesetzes könnte sich bereits Ende Juli entscheiden. Am 6. Juli ging das ukrainische Parlament in die Sommerpause und nimmt regulär am 4. September seine Tätigkeit wieder auf. Vorher könnte es jedoch bereits am 31. Juli – kurz nach dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes am 30. Juli – zu einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments kommen. Grund hierfür ist die noch fehlende Unterschrift des Parlamentsvorsitzenden, ohne die das Sprachgesetz kann nicht dem Präsidenten zur Prüfung vorgelegt werden. Wolodymyr Lytwyn weigert sich bisher, das Gesetz zu unterzeichnen. Da er im etwa 200 km westlich von Kiew gelegenen Nowohrad-Wolynskyj als Direktkandidat antritt, könnte ihn die Unterschrift unter das Gesetz entscheidende Stimmen kosten. Er muss jedoch in die nächste Werchowna Rada gewählt werden, um seine Abgeordnetenimmunität nicht zu verlieren – andernfalls drohen ihm Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen einer möglichen Verwicklung in die Ermordung des Journalisten Heorhij Gongadse. Aus Wahlkampfgründen haben auch weitere Abgeordnete ihre Stimmen bei der 2. Abstimmung zurückgezogen. Darunter auch der jüngere Sohn Wiktor von Präsident Wiktor Janukowytsch, der um ein Direktmandat im zentralukrainischen Gebiet Kirowohrad kämpft.

Angesichts dieser Konstellationen hat die Partei der Regionen in einer Blitzaktion das Reglement der Werchowna Rada geändert. Für Wahl und Abwahl des Parlamentssprechers bedarf es nun nicht mehr wenigstens 300 Abgeordneter und einer geheimen Abstimmung per Stimmzettel. Stattdessen genügt nun eine einfache Mehrheit von 226 Abgeordneten, die per elektronischer Stimmkarte abstimmen. Diese Änderung wurde mit beispielloser Geschwindigkeit vom Verfassungsgericht abgesegnet. Parlamentssprecher Lytwyn steht jetzt vor dem möglichen Dilemma, sich abwählen zu lassen und finanzielle Vorteile als Parlamentssprecher beim Wahlkampf zu verlieren, oder durch seine Unterschrift seinem direkten Gegner von der vereinten Opposition im Wahlkreis in die Hände zu spielen.

Dennoch ist das weitere Schicksal des Gesetzes unklar. Das Präsidialamt betont, dass man zunächst eine unabhängige Expertenkommission mit der Bewertung der Gesetzesauswirkungen und seiner Vereinbarkeit mit der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen beauftragen werde. Ob das Gesetz überhaupt jemals in Kraft tritt oder nur Mittel zm Zweck im Wahlkampf ist, bleibt ungewiss. So berichtete die „Ukrajinska Prawda“, dass die Vertretern der Partei der Regionen angewiesen seien, das Sprachgesetz im Wahlkampf als Argument ins Feld zu führen. Nach der Wahl solle es jedoch keine Rolle mehr spielen.

Staatlicher Druck auf unabhängige Berichterstattung


Neben dem Konflikt um das Sprachgesetz kündigt sich der nahende Wahlkampf auch durch zunehmenden Druck auf unabhängige Medien an. Das für regierungskritische Publikationen offene Internetportal lb.ua sieht sich Untersuchungen von der Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Veröffentlichungen des Briefwechsels von Amtsträgern ausgesetzt. Obwohl der Streit mit dem betreffenden Abgeordneten der Partei der Regionen durch eine Entschuldigung der Redaktionschefin von lb.ua in aller Öffentlichkeit beigelegt wurde, gingen die Ermittlungen weiter und am 18. Juli eröffnete die Kiewer Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren.

Gegen den erst 2008 gegründeten Fernsehsender TVi wurde die Steuerbehörde aktiv. Angeblich hätte der Sender Ausgaben über 6 Mio. Hrywnja (ca. 600.000 Euro) falsch verrechnet, was bereits durch Gerichte widerlegt wurde. Der Ausgang dieses Verfahrens ist dennoch  unklar. TVi ist einer der wenigen über Kabel und Satellit empfangbaren Fernsehsender, welcher der Opposition ungehinderten Platz einräumt. Am 20. Juli wurde TVi zudem aus dem Kabelnetz eines größeren Providers ausgeschlossen und ist damit in elf ost- und zentralukrainischen Städten nur noch eingeschränkt empfangbar. Eigentlich hatte Janukowytsch für die Zeit des Wahlkampfes ein Moratorium fürSteuerermittlungen gegen Mediengesellschaften verkündet. Das Vorgehen der einem Vertrauten der Familie Janukowytsch unterstehenden Steuerbehörde gegen TVi spricht jedoch eine andere Sprache.

Zurzeit liegen bei den Parteilisten die regierende Partei der Regionen und die vereinte Opposition in Umfragen dicht beieinander. Eine Erhöhung des Drucks seitens der Regierungsorgane dürfte das Verhältnis zugunsten der Partei der Regionen verschieben. Unübersichtlich sind auch die Präferenzen in Radio, Fernsehen und auf der Straße für die Kommunistischen Partei sowie für die Inititative der ehemaligen Timoschenko-Mitstreiterin Natalija Korolewska, die Oppositionswähler anziehen wollen. Aktuelle Umfragewerte prognostizieren den Kommunisten bis zu 6 Prozent der Wählerstimmen. So könnten sie in ähnlicher Stärke wie momentan mit 27 Mandaten in der neuen Rada vertreten sein. Eine Zusammenarbeit der Kommunisten mit der Partei der Regionen ist wahrscheinlich, schon aus rein finanziellem Interesse. Ob es Korolewska über die Fünfprozent-Hürde schafft, ist hingegen unklar. In jedem Fall werden diese Stimmen der vereinten Opposition fehlen. Ähnliches gilt für Swoboda.

Anders steht es um die Partei Witalij Klitschkos UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen). Den Umfragen zufolge wird sie mit acht bis zehn Prozent Stimmanteil in die Rada einziehen. Auch wenn Klitschko seine Opposition zur jetzigen Regierung nicht bloß vorgibt, um Wählerstimmen zu gewinnen, ist das Verhalten der zukünftigen Abgeordneten seiner Partei schwer vorhersagbar. Nicht ausgeschlossen ist eine allmähliche Annäherung der UDAR-Abgeordneten an regierungsnahe Fraktionen. Ähnliche Entwicklungen sind auch bei den Abgeordneten der vereinten Opposition nicht auszuschließen.

Direktmandate bieten Feld für Manipulationen

Die Partei der Regionen setzt aber offensichtlich verstärkt auf die Direktwahlkreise. Vor allem dort versuchen staatliche Organe seit längerer Zeit, oppositionelle Politiker auf Umwegen an einer Kandidatur zu hindern. Ziel sind die Unternehmen der potenziellen Oppositionskandidaten, auf welche die geballte Macht von Steuerpolizei, Hygiene und Brandschutz angesetzt wird. Anlässe finden sich praktisch fast immer, da die ukrainische Wirklichkeit eine komplett regelkonforme Unternehmensführung erschwert. Der Erfolg dieser Maßnahmen wird sich Anfang August zeigen, wenn die Kandidaten der Parteien in den Direktwahlkreisen feststehen.

Denkbar ist auch die Nichtzulassung von Kandidaten der Opposition durch die Zentrale Wahlkommission sein. Längere Auslandsaufenthalte innerhalb der letzten fünf Jahre oder eine nicht abgebüßte Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat könnten Gründe hierfür bieten. Doch wäre der Aufwand hierfür zu hoch und das Ziel zu offensichtlich. Zumindest rein äußerlich sollen die Wahlen sauber sein. So wurde kürzlich nach russischem Vorbild die Installation von Webkameras in den Wahlbüros zur Beobachtung des Wahlvorgangs beschlossen. Die Auszählung selbst wird jedoch nicht gefilmt.

Bisher belässt man es bei Druck auf oppositionelle Kandidaten und die Wähler selbst - ein seit der Unabhängigkeit erprobtes Mittel. Vor allem von staatlichen Zahlungen abhängige Angestellte wie Lehrer, Ärzte oder Verwaltungsangestellte werden regelmäßig dazu angehalten, „richtig“ zu wählen. Solange kein schweres Unglücksereignis oder eine extreme Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Bevölkerung gegen Janukowytsch und seine Regierung aufbringt, ist eine Mehrheit für die Partei der Regionen und ihrer Satelliten mehr als wahrscheinlich. Daran ändert auch die mantraartige Wiederholung des Fälschungsvorwurfes durch die Oppositionsparteien für die kommenden Wahlen nichts.

Opposition hat kaum Chancen auf Wahlsieg

Insgesamt scheint es, als habe sich die Opposition bereits mit einer Wahlniederlage abgefunden. Stattdessen wird daran gearbeitet, sich im Parlament zu konsolidieren und vor allem verlässliche und der Führung ergebenes Personal aufzustellen. Selbst eine parlamentarische Mehrheit würde der jetzigen Opposition keine Handlungsfreiheit verschaffen, da Janukowytsch trotzdem jedes ihm nicht genehme Gesetz blockieren könnte und überdies die Regierungsmitglieder bestimmt.

Daher ist die Position einer starken und schlagkräftigen Minderheit, die laut aber folgenlos die Regierungsmaßnahmen kritisiert, derzeit attraktiver für Jazenjuk & Co. Eines der Ziele von Arsenij Jazenjuk ist es, die Opposition unter seine Führung zu bringen – mit Ausblick auf eine Präsidentschaftskandidatur 2015. Solange Julia Tymoschenko und Jurij Luzenko weiter im Gefängnis sitzen, sind die Aussichten hierfür gut. Bei „Batkiwschtschyna“ ist man aber bereits jetzt unzufrieden mit den Konkurrenten von der „Front Smin“ und anderen kleineren Parteien, an die als sicher geltende Listenplätze abgetreten werden mussten.

Je länger Julia Tymoschenko abwesend ist, stellt sich auch die Frage der Führung in ihrer Partei „Batkiwschtschyna“. Vor allem auf ihre Initiative hin wurde das Wahlbündnis beschlossen. Sollten sich daraus weniger Parlamentssitze als erhofft ergeben, würde das vor allem ihr angelastet werden. Ein Aufbrechen der Konflikte nach, oder im schlimmsten Fall bereits vor der Wahl, ist damit mehr als wahrscheinlich. Zumindest von Seiten der Opposition ist keine Gefährdung der Regierung Janukowytsch zu erwarten, da die Opposition weiterhin vor allem mit sich selbst beschäftigt ist.

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Dr. Kyryl Savin (Büroleiter, hbs Kiew)
Andreas Stein (freier wissenschaftlicher Mitarbeiter, hbs Kiew und Herausgeber des Web-Portals ukraine-nachrichten.de)

Dossier

Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie

Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.