Eine Vision für ein bürgernahes und soziales Europa: Das Europäische Commonfare

"Demokratie, wo bist du?" Proteste in Spanien im September 2012; Bild: Popicinio/Flickr; Lizenz: CC-BY-SA

4. Oktober 2012
Aitor Tinoco i Girona
Intuitiv wäre ein erster Ansatz für ein soziales und bürgernahes Europa, ein Europa, in dem der Bürger an erster Stelle steht und nicht das Markt- oder Finanzsystem. Ein Europa, das einen effektiven Zugang zu Gemeinwohl, Wohlstand und Rechten gewährt, aber ebenso ein Europa echter Demokratie und nicht eine autoritäre und antidemokratische Herrschaft wie es die sogenannte Troika ausübt (aus IWF, Europäischer Zentralbank und Europäischem Rat). Diese Art der Regierung wird verstärkt und genährt vom Finanzialisierungsprozess der Wirtschaft – der derzeitigen ökonomischen und sozialen Form des Kapitalismus.

Krise ist vorallem eins: Sozialabbau und Verlust von sozialen Rechten

Die aktuelle Krise ist keine Vertrauenskrise, sie ist auch keine Finanzkrise – weil sie zu einer Staatsschuldenkrise geworden ist, die letztendlich zu einer Sozialisierung der finanziellen Verluste geführt hat – sondern sie ist vor allem eins: Ein Mittel zur Beherrschung, Plünderung und zum Sozialabbau.

Wir erleben gerade den Ausverkauf und die Enteignung des Gemeinwohls, des Wohlstands und der Rechte. Der kapitalistische und zusammenraffende Prozess enteignet die Menschen und entzieht ihnen ihre sozialen Rechte. Rechte, die seit dem 2. Weltkrieg erstritten wurden. Als wesentliche Folge ergibt sich daraus die materielle und existentielle prekäre Lage.

Wie funktioniert das? Prinzipiell funktioniert es so, dass die finanziellen Verluste in drei Dimensionen abgewälzt werden. Die erste ist wirtschaftlicher Art, vom Finanzsystem zu den Staaten und ihren Bevölkerungen. Die zweite ist sozialer Art, in dem Errungenschaften von der Basis zur Ober- und Mittelschicht verlagert werden. Die dritte Dimension ist territorial zu verstehen und beinhaltet eine Verschiebung von Wohlstand und Macht von den Peripheriestaaten zu den Gläubigerländern im Zentrum Europas.

Die Politik der Troika ist also ein Frontalangriff auf die europäischen Bürger und Bürgerinnen, da sie die Säulen des europäischen Wohlfahrtsstaates aushöhlen: Bildung, Gesundheitswesen, soziale Dienste. Wir erleben heute den größten sozialen Rückschritt seit dem 2. Weltkrieg.

Krise der Politik

Abgesehen von den Auswirkungen auf die Bürger und auf die europäischen Gemeinwohlmodelle, sind wir nicht nur Zeugen einer systemischen Finanz- und Bankenkrise – die sich in eine Staatsschuldenkrise mit ihren jeweiligen territorialen Abweichungen verwandelt – sondern auch einer europäischen Führungskrise und einer Veränderung der Machtverhältnisse. Wir erleben einen Souveränitätsverlust (zum Beispiel in Spanien mit dem ‚Memorandum of Understanding1’ (Absichtserklärung) und Entdemokratisierung, kurz: Wir erleben die Krise der Politik, die Krise der repräsentativen Demokratie, also des grundlegenden Elements auf dem der moderne Nationalstaat fußt. Das ist worauf Protestbewegungen wie in Spanien Moviemento 15-M’ (‚Bewegung 15. Mai’), mit dem Slogan „Niemand repräsentiert uns“ oder auch in den USA mit der Occupy-Bewegung, „So sieht Demokratie aus!“ hinweisen.

Nachdem wir den Zusammenhang der Machtverhältnisse, die immanenten Strategien und Instrumentarien analysiert und verstanden haben, sollte es uns möglich sein, in einem gemeinsamen Prozess das soziale und bürgernahe Europa aufzubauen.

Um das zu erreichen, sind unterschiedliche Arbeitsvorgänge und Maßnahmen vonnöten.
Ich werde mich jetzt nicht auf die Bürgerbewegungen oder gesellschaftlichen sozialen Initiativen fokussieren, sondern auf die Gestaltung europäischer Politik. Trotz der derzeitigen Einschränkungen, der Demokratiedefizite und der Legitimationsschwierigkeiten von Institutionen, gibt es beachtliche Möglichkeiten die Themen, die auf dem Spiel stehen, anzusprechen – vorausgesetzt es gibt einen politischen Willen dazu.

Aufbau eines bürgernahen uns sozialen Europas

Eine Möglichkeit wäre die Finanz- und Währungstransaktionen zu regulieren. Um die Schulden zu vergemeinschaften könnten Eurobonds einführt werden. Außerdem müsste die Betrugsbekämpfung und die Europäische Zentralbank reformiert werden.

Obendrein brauchen wir einen gemeinsamen sozialpolitischen-, fiskalischen- und haushaltspolitischen Ansatz. Einige Beispiele für eine solche gemeinsame Sozialpolitik wären eine garantierte Rente ab dem 62. Lebensjahr, ein allgemeiner europäischer Höchst- und Mindestlohn (um die Verhältnismäßigkeit zwischen Topverdienern und Menschen mit einem niedrigen Einkommen auszubalancieren) und eine aktive Beschäftigungspolitik beziehungsweise eine Umverteilung der Arbeit (und des Wohlstands), die eine soziale und persönliche Work-Life-Balance ermöglicht.

Schließlich, in puncto Bürgerrechte, brauchen wir transparentere und offenere Institutionen. Das bedeutet nicht nur offengelegte Daten, sondern eine offene Regierung und einen offenen Regierungsstil. Wir müssen Reformen durchführen und neue Mechanismen einer unmittelbaren Bürgerbeteiligung im Sinne einer vernetzten Gesellschaft einbringen.

Krise ist auch eine Verfassungskrise


Aber diese Krise ist auch eine Verfassungskrise, in materieller und formeller Hinsicht: die Veränderung der Machtverhältnisse, die Konstitutionalisierung neoliberaler Prinzipien oder auch die Ablehnung eines Europäischen Verfassungsvertrages im Jahr 2004. Demnach hat diese Krise durchaus auch eine konstitutionelle Dimension, was uns zum zweiten Schwerpunkt des Schaffensprozesses führt: eine europäische Verfassung.

Dieser Prozess würde die Schaffung von neuen Rechten anerkennen. Rechte, die die Bürger vor Enteignungen schützen oder ihnen ein Grundeinkommen zusichern. Das würde auch das Recht auf Insolvenz eines Bürgers oder das Recht aller Bürger auf freien und gleichen Zugang zu den sogenannten ‚commons‘ beinhalten. Dieser verfassungsgebende Prozess hin zu einem sozialen und bürgernahen Europa sollte in erster Linie durch drei Komponenten gesteuert sein:

Eine materielle und soziale Komponente, die die Rechte auf einen freien und gleichen Zugang zu den ‚commons‘ und zu Wohlstand garantiert und die die Rechte auf Lebensqualität und auf persönliche Autonomie als europäischer Bürger im Verhältnis zu Märkten, dem Staat beziehungsweise seiner Regierung sicherstellt. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Demokratie. Ein Europa der Bürger sollte einen auf der Basisdemokratie basierenden offenen, dezentralisierten und mitbestimmten Regierungsstil haben. Und abschließend die territoriale und kulturelle Komponente, die eine föderale, dezentralisierte und offene Gesellschaft beinhaltet – eine Gesellschaft, die Vielfalt respektiert und stärkt.

Dieser verfassungsgebende Prozess muss vor allem die ‚commons‘ in einer neuen Art institutionalisieren. Er muss einen neuen Europäischen Commonfare schaffen, der auf gleichberechtigtes Regieren und Basisdemokratie setzt.
Dies zu erreichen ist unsere Pflicht und historische Verantwortung.


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Aitor Tinoco i Girona, Bewegung Democracia Real Ya, Madrid

Übersetzt von Sandra Wagner.
 

Aitor Tinoco i Girona

Der Autor ist in der Bewegung "Democracia Real Ya" in Madrid aktiv.

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