Wie die brasilianische Justiz für und gegen den Megastaudamm Belo Monte kämpft

Protest gegen den Staudamm. Foto: CC-BY-NC Pedro_dm_Ribeiro

2. Mai 2013
Ole Schulz

Podiumsdiskussion in der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, am Dienstag, dem 23.4.13 – ein Rückblick auf die Veranstaltung

„In Brasilien werden diktatorische Praktiken benutzt, um ein Mammutprojekt durchzusetzen, ohne dass verfassungsmäßig garantierte Rechte eingehalten werden“, sagt die Journalistin Verena Glass.

Mit diesen deutlichen Worten beschreibt Glass ihre Sicht auf das gigantische Belo-Monte-Staudamm-Projekt am Xingu-Fluss Amazoniens. Glass von der Organisation „Repórter Brasil“ koordiniert die Medienarbeit des Netzwerks „Xingu Vivo para sempre“ und war von der Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen worden, um in Berlin aus zivilgesellschaftlicher Perspektive über den Staudamm-Bau zu berichten. Bewusst werde etwa das grundlegende Prinzip der Verfassung verletzt, „dass die Indigenen nach Artikel 231 konsultiert werden müssen, bevor mit den Bauarbeiten angefangen werden darf“.

Kaum kalkulierbare Folgen für Mensch und Natur

Außer Frage steht auch, dass die Errichtung des drittgrößten Wasserkraftwerks der Welt mit elf Gigawatt Leistung schwerwiegende und kaum kalkulierbare Folgen für Mensch und Natur hat. Für den umstrittenen Staudamm-Bau, der 2010 begonnen wurde, wird der Xingu-Fluss auf einer Fläche aufgestaut, die die Größe des Bodensees übertrifft, und auf einer Länge von rund 100 Kilometern ausgetrocknet. Insgesamt muss eine fast ebenso große Erdmenge bewegt werden wie beim Bau des Panama-Kanals.

Was die brasilianische Regierung als „grüne“ Stromgewinnung für ein wirtschaftlich wachsendes und darum energiehungriges Land anpreist, wird von Betroffenen, Umweltschützer/innen und Menschrechtsaktivist/innen scharf kritisiert: Der Staudamm sei ein brutaler Anschlag auf die Lebensgrundlagen tausender Menschen in einer der artenreichsten Regionen des brasilianischen Amazonas. Profitieren würden allein die Unternehmen, die an dem Projekt beteiligt sind – darunter auch einige deutsche –  und die am Ende gewonnene Energie werde überwiegend nicht etwa den Bewohnern der Region zugutekommen, sondern stromschluckenden wie umweltschädlichen Industrien, insbesondere Aluminiumfabriken im Bundesstaat Pará. Dass diese wiederum auch für ausländische Automobilkonzerne produzieren, unterstreicht die internationalen Implikationen des Megaprojekts. So ist auch Verena Glass vorrangig deshalb in Europa, um gegen die Beteiligung ausländischer Unternehmen am Staudamm-Bau zu protestieren.

Dabei wird sich das Wasserkraftwerk wohl noch nicht einmal ökonomisch rechnen: Weil es nur in der Regenzeit einige Monate im Jahr volle Leistung bringen kann, befürchten Aktivisten, dass weitere Staudämme in der Umgebung errichtet werden sollen. Zudem könnte sich die vorgeblich ökologische Energieerzeugung durch Wasserkraft im Falle Belo Monte in ihr Gegenteil verkehren: Denn durch die während des Baus massenhaft abgeholzten Bäume, die im Wasser verfaulen, wird extrem klimaschädliches Methan freigesetzt.

Verteuerung, Gewaltanstieg, Arbeitslosigkeit und Vertreibung

Zu Umweltzerstörung und Artenverlust, der auch viele Fischer um ihre Arbeit bringt, kommen weitere Probleme. In Altamira, der größten Stadt der Region, steigen zum Beispiel nicht nur die Mieten; auch Gewalt, Drogenkonsum und Prostitution haben deutlich zugenommen, weil die Stadt rasant wächst. Dazu kommt, dass Schätzungen zufolge durch den Bau des Staudamms bis zu 40.000 Menschen vertrieben werden, Flussanwohner, Indigene, Kleinbauern ebenso wie Bewohner der Armenviertel in der Stadt Altamira. Versprochene Entschädigungszahlungen werden oft nicht bezahlt, zudem sind sie nicht hoch. „Mit umgerechnet 1.200 Euro kann man kaum etwas anfangen“, sagt Verena Glass.

Ministério Público Federal do Pará kämpft gegen Staudamm-Bau

Leitende Frage der Abendveranstaltung in Berlin war die nach dem juristischen Kampf gegen das Staudamm-Projekt. Darüber berichtete Helena Palmquist, Pressesprecherin des „Ministério Público Federal do Pará“, der Bundesstaatsanwaltschaft des brasilianischen Bundesstaats Pará. Diese autonome Institution spielt eine wichtige Rolle bei den Auseinandersetzungen um den Belo-Monte-Staudamm. Bereits 17 Klagen hat die Bundesstaatsanwaltschaft Parás gegen das Projekt angeregt, eine weitere ist gerade in Vorbereitung. Bei den Klagen geht es vor allem um eklatante Mängel in den Planungsverfahren, wie unter anderem bei Umweltverträglichkeitsprüfungen oder der unterlassenen Berücksichtigung der Rechte von traditionellen Gemeinschaften, aber auch um ungenehmigte Bautätigkeiten. In der Folge konnten mehrere Baustopps durgesetzt werden. Diese wurden bislang aber immer wieder von höheren Gerichtsinstanzen aufgehoben. Zuletzt wurden von der Bundesstaatsanwaltschaft amtliche Zahlen angezweifelt: Statt 16.000 Bewohnern der Stadt Altamira, die laut Umweltverträglichkeitsprüfung umgesetzt werden müssten, rechnet ein neues Gutachten mit bis zu 25.000 Betroffenen.

Brasilianische Regierung bricht geltendes Recht

Dass die Idee des Staudamms bereits zur Zeiten der Militärdiktatur geboren wurde und sich der Streit um seine Errichtung nun schon über 20 Jahre hinzieht, hatte Dawid Bartelt, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro, einleitend ausgeführt. Das rund zehn Milliarden US-Dollar schwere Vorhaben sei exemplarisch für ein von der brasilianischen Regierung bevorzugtes traditionelles Entwicklungsmodell, das auf Großprojekte setze und dabei systematisch die Rechte Betroffener missachte. Und das, obwohl sich Brasilien als Rechtsstaat verstehe. „Es ist aber unbestreitbar, dass im Falle Belo Montes von der brasilianischen Regierung geltendes Recht gebrochen wird“, sagt Bartelt.

Helena Palmquist glaubt, dies sei möglich, „weil Belo Monte nicht nur aus europäischer Sicht, sondern auch aus brasilianischer weit entfernt liegt“. Unlängst wurde zur Sicherung der Bautätigkeiten sogar eine Spezialeinheit der Armee eingesetzt. Der Staat schickt also das Militär, um private Unternehmen zu schützen. Für Verena Glass ist das ein weiteres Zeichen einer Einschüchterungsstrategie: „Aktivisten und Betroffene, die Baustellenbesetzungen, Streiks und Demonstrationen organisieren, werden kriminalisiert.“ Einschüchterungen von Gegnern bis hin zu Todesdrohungen stünden auf der Tagesordnung.

Unter den Staudammgegnern: die Bundesstaatsanwaltschaft Parás

Auch die Bundesstaatsanwaltschaft Parás ist davon betroffen: Insgesamt vier Klagen wurden gegen sie bereits eingereicht. Im Vorjahr hat die brasilianische Bundesanwaltschaft AGU (Advocacia-Geral da União) ein Disziplinarverfahren gegen den Bundesstaatsanwalt Felício Pontes mit der Begründung eingeleitet, er würde Indigene aufwiegeln.

Pontes will sich von solchen Kriminalisierungsversuchen aber nicht einschüchtern lassen. Ein größeres Problem für die Bundesstaatsanwaltschaft ist, dass von ihr angeregte Prozesse offenbar bewusst hinausgezögert werden. In einem Fall dauerte es ganze sechs Jahre, bis die Klage vor Gericht verhandelt wurde. In der Zwischenzeit werden „Fakten geschaffen“, so Palmquist, „die im Nachhinein nicht mehr rückgängig zu machen sind“.

Internationaler Protest prangert Menschenrechtsverletzung an

Eine solche, anscheinend von der Regierung gestützte Taktik hat auch schon für internationalen Protest gesorgt: Sowohl die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) als auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) haben eine unverzügliche Aussetzung des Genehmigungs- und Bauprozesses gefordert, da Menschenrechte verletzt würden.

Doch der Staudamm-Bau geht trotzdem weiter. Für die Gegner des Projekts ist es bittere Ironie, dass es ausgerechnet von einer Regierung der Arbeiterpartei PT gegen alle Widerstände umgesetzt wird und Präsidentin Dilma Rousseff bei der Durchsetzung umstrittener Megavorhaben wie dem am Xingu-Fluss die repressive Politik ohne Dialog ihres Vorgängers Lula fortsetzt.

Es scheint derzeit jedenfalls so, als ob der Belo Monte-Staudamm auch mit juristischen Mitteln nicht aufzuhalten sein wird. Entsprechende Befürchtungen hatten im Dezember bereits zwei Vertreter der „Movimento dos Atingidos por Barragen“ (Bewegung der Staudammbetroffenen) bei einer Veranstaltung der Böll-Stiftung  geäußert. Doch Helena Palmquist meint, es gebe keine Alternative dazu, alle vorhandenen Rechtsmittel auszuschöpfen. Sie hofft, dass dadurch zumindest im Nachhinein in der Verfassung verankerte Rechte Anwendung finden. Um das zu erreichen, sei man allerdings auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen.

Die Rolle deutscher Unternehmen beim Staudamm-Bau

Internationaler Druck ist auch deshalb angebracht, weil diverse deutsche und europäische Unternehmen an der Errichtung des Staudamms mitwirken. Während Mercedes etwa mehr als 500 LKWs für das Bauprojekt liefert, stellt Siemens über das Joint Venture Voith Hydro unter anderem Turbinen, Generatoren und Transformatoren für das Wasserkraftwerk – insgesamt beläuft sich das Auftragsvolumen auf fast eine halbe Milliarde Euro. Die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft ist währenddessen der wichtigste Versicherungsdienstleister des Projekts. 25 Prozent der Rückversicherungssumme für den Staudamm-Bau hat die Münchener Rück übernommen, wofür sie rund 15,5 Millionen Euro an Prämien über einen Zeitraum von vier Jahren erhält.

Doch die deutsche Versicherung scheint bei ihrem Engagement am Xingu-Fluss nicht nur eigene Codizes, sondern auch internationale Bestimmungen zu brechen: Laut der Initiative „GegenStrömung“, welche die Europareise von Glass und Palmquist mitorganisiert hat, missachtet die Münchener Rück zum einen UN-Leitprinzipien und Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), zum anderen verstößt sie gegen eigene Leitlinien der „Corporate Responsibility“, obwohl sich das Unternehmen gerne als Vorreiter im Klimaschutz darstellt.

Wichtigste Station für Glass und Palmquist bei ihrem Aufenthalt in Europa war darum auch die Teilnahme am Protest vor und auf der Jahreshauptversammlung der Aktionäre der Münchener Rück am 25. April. Schon am 7. Mai wird Verena Glass erneut in München erwartet: zur Aktionärs-Hauptversammlung der Allianz-Versicherung, die ebenfalls am Staudamm-Projekt beteiligt ist.


Ole Schulz ist Historiker und Journalist
(u.a. -taz- und Deutschlandradio Kultur). Seine letzte Reise ins brasilianische Amazonien führte ihn im November 2012 nach Manaus.