Gewalt gegen Frauen und Politik der öffentlichen Sicherheit: eine späte Begegnung

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18. April 2011
Von Marilene de Paula

Wenn in Brasilien von „seguranca pública“, von öffentlicher Sicherheitspolitik die Rede ist, denken die meisten Brasilianer automatisch an die hohen Mordraten im Land. Im Durchschnitt wurden in den Jahren 1997 bis 2007 jährlich 45.000 Personen in Brasilien ermordet. Die große Mehrheit der Toten, nämlich 94 Prozent, sind junge Männer im Alter von 15 bis 24 Jahren, sie sind schwarz und stammen aus den Peripherien der großen (Küsten-)Städte. Seit 2003 nimmt aber auch die Zahl der Morde in den kleineren Städten des Landesinneren zu. NGOs und Menschenrechtsbewegungen, die sich mit dem Thema der öffentlichen Sicherheit beschäftigen, weisen darauf hin, dass das „männliche Profil“ der tödlichen Gewalt den Blick auf das Schicksal der Mädchen und Frauen verstellt, die auf verschiedene Art und Weise von bewaffneter Gewalt betroffen sind:

Sie leben umgeben von und verwoben in die Prozesse der bewaffneten Gewaltstrukturen, sie verdienen ihren Lebensunterhalt bspw. indem sie niedrige Positionen in der Hierarchie der Drogenkriminalität einnehmen, sie stehen Schmiere oder transportieren Drogen in kleineren Mengen. Weiter oben auf den Hierarchieleitern vertreten die „damas do tráfico“, die Damen der Drogenkriminalität ihre Lebenspartner, wenn diese im Gefängnis sitzen. Aber vor allem sind Frauen die „Witwen“ des Drogenkrieges. Mütter, Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern, die indirekt Opfer der Gewalt werden, einerlei ob sie selber mit der Kriminalität ihr Geld verdienen oder nicht. Auf der anderen Seite sind es auch die Frauen, die die große Mehrheit der Anführer-_innen und Aktivist_innen der Menschenrechtsbewegung stellen, die gegen die Gewalt und die Straflosigkeit kämpfen.

Allerdings beschränkt sich der Großteil der Frauenbewegungen, die sich mit dem Problem der Gewalt gegen Frauen und ihren verschiedenen Ausprägungen auseinandersetzen, im Allgemeinen noch auf häusliche Gewalt und legen wenig Nachdruck auf eine umfassendere Debatte über den Zusammenhang von öffentlicher Sicherheit und Gewalt gegen Frauen.

Dass das Thema der häuslichen Gewalt so vorherrschend ist, erklärt sich leicht: alle 15 Sekunden wird in Brasilien eine Frau von Ehemann, Partner oder Verwandten misshandelt. Von 2003 bis 2007 wurden 19.440 Morde an Frauen begangen, im nationalen Durchschnitt 4.4 pro 100.000 Einwohner. Das bedeutet, in einer Rangliste von 73 Ländern, einen hohen Platz 12. Die Mehrheit dieser Morde steht ebenfalls im Kontext häuslicher Gewalt.

2006 wurde das Gesetz “Maria da Penha” verabschiedet, das eine Reihe von Mechanismen zur Vorbeugung und Bestrafung häuslicher und familiärer Gewalt gegen Frauen einführte. Das Gesetz stellt eine historische Errungenschaft der Frauenbewegung dar. Der Name des Gesetzes erinnert an Maria Penha da Maia, die sieben Jahre lang von ihrem Ehemann schwer misshandelt wurde und nach einem von mehreren Mordversuchen des Ehemannes eine Querschnittslähmung erlitt. Der Fall schlummerte 18 Jahre lang in den juristischen Instanzen. Erst 2002 wurde der Täter festgenommen und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten verurteilte 2001 den brasilianischen Staat wegen Untätigkeit im Fall Maria da Penha.

Der Fall veranschaulicht die Situation vor Inkrafttreten des Gesetzes. Bis dahin galt häusliche Gewalt gegen Frauen als minderschweres Vergehen und wurde mit drei Monaten bis zu drei Jahren Haft bestraft. Der Täter konnte sich weiterhin am selben Ort wie das Opfer aufhalten. Alternativ zur Haft konnten Strafen auch durch Geldzahlungen oder Abgaben von Nahrungsmitteln abgegolten werden, was vielen Tätern ermöglichte, in Freiheit zu leben und ihre Opfer erneut zu bedrohen.
Das Gesetz Maria da Penha sieht zum einen härtere Strafen vor. Zum anderen institutionalisiert sie umfassendere Maßnahmen, wie die Unterstützung von weiblichen Gewaltopfern, die Einrichtung von psychosozialen und juristischen Betreuungszentren, den Bau von Frauenhäusern, die Ausweitung des Netzes spezieller Polizeistationen für Frauen sowie die Einrichtung eigener Justizbehörden für Gewalt gegen Frauen.

Das Gesetz „Maria da Penha“ veränderte aber auch den bis dahin einseitig auf häusliche Gewalt abzielenden Diskurs. Zivilgesellschaft und Bundesregierung haben gemeinsam einen ersten Schritt dahin getan, Geschlechterfragen und die Diskussion um das öffentliche Sicherheitssystem zusammenzuführen. Einen Raum des Dialogs für beide Seiten eröffnete dann 2009 die „Erste Nationale Konferenz über öffentliche Sicherheit“. Die Initiative ging auf die Bundesregierung zurück, die Sicherheitsexpert_innen, im Sicherheitsbereich Tätige und Vertreter_innen der Zivilgesellschaft zusammenbrachte. Zwei Jahre vorher entstand der „Nationale Pakt zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen“. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, die im Gesetz „Maria da Penha“ vorgesehenen Betreuungs- und Schutzmaßnahmen im Haushalt des „Nationalen Programms für Sicherheit und Bürgerrechte“ (PRONASCI) verankert zu haben. PRONASCI, in Kraft seit 2008, ist als die wichtigste Initiative der letzten Jahre im Bereich der öffentlichen Sicherheit anzusehen. Sein Haushalt betrug 2010 rund 680 Millionen Euro.

Was bringt es nun, Akademiker_innen, Aktivist_innen und Amtsträger_innen aus dem Bereich der öffentlichen Sicherheit mit Vertreter_innen der Frauenbewegungen zusammen zu bringen? Welchen Mehrwert hat es, Forschung und Publikationen über Kriminalität und öffentliche Sicherheit um die Geschlechterperspektive zu erweitern? Der Gewinn liegt in der Schaffung eines demokratischen, Vielfalt einschließenden Diskussionsforums, das den Widersprüchen, den unterschiedlichen Beteiligten und ihren Ansätzen gerecht wird und den Umgang mit diesem komplexen und brennenden Thema ermöglicht.
Die genannten Schritte verdeutlichen zum ersten Mal eine Rolle der Frauen im Bereich der öffentlichen Sicherheit, nicht nur als Opfer, sondern auch als Politiker_innen und Gestalter_innen von Politiken. Allerdings ist das Gesetz nur ein Instrument, das erst dann zum Leben erwacht, wenn mehr Aktivist_innen das Thema der öffentlichen Sicherheit auf ihre Agenda setzen. Es ist unabdingbar, dass Frauen vollwertig und gleichberechtigt an der Aktionsplanung und Entscheidungsfindung in diesem Sektor beteiligt sind. Nur so kann der vorherrschende, auf bewaffnete Konfrontation setzende Diskurs und seine Praktiken durchbrochen werden. Die Teilnahme von Frauen trägt zu einer friedlichen Konfliktlösung bei, die Solidarität und gegenseitiges Vertrauen befördern kann.

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Marilene de Paula ist Programmkoordinatorin für Menschenrechte und Genderbeauftragte der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien.

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Zum Dossier "100 Jahre Frauentag" des Gunda-Werner-Institutes der Heinrich-Böll-Stiftung