Chile: Abrechnung mit dem System?

Wahlplakate Chile 2012, Foto: Michael Álvarez Kalverkamp, Heinrich-Böll-Stiftung, Lizenz: CC-BY-SA 2.0

29. Oktober 2012
Der eindeutige Wahlsieger bei den gestrigen landesweiten Kommunalwahlen in Chile stand schon am frühen Nachmittag fest, Stunden vor Schließung der Wahlurnen: Die Wahlenthaltung. Von den nach der Wahlreform nun 13,5 Millionen Wahlberechtigten waren am späten Sonntagabend gerade einmal 5,2 Millionen Stimmen abgegeben worden, davon waren zudem 200.000 ungültige oder nicht ausgefüllte Wahlscheine.

Bereits am Nachmittag bestätigte sich die landesweite Tendenz in einer Reihe von Umfragen an den Wahltischen: Gerade einmal ein Drittel der bei den vorherigen Kommunal-Wahlen 2008 an den Tischen gezählten Stimmen waren zu dem Zeitpunkt registriert worden. Obgleich schon bei diesen Wahlen die Öffnungszeiten der Wahllokale auf humanere Zeiten, 8:00 Uhr morgens, gelegt wurden, gaben beispielsweise im Wahllokal der Schule Ramón Belmar in der südlich von Santiago gelegenen Stadt Linares bis 10:00 Uhr morgens gerade 5 Wahlberechtige ihre Stimme ab. Den jüngeren, zwangsverpflichteten Wahlhelfern wurde die Langeweile zu groß, so dass einer von ihnen kurzerhand seine Playstation von zu Hause holte, um sich mit seinen Kollegen die Stunden bis zur Schließung elektronisch zu vertreiben.

Etwas aufregender ging es im Santiaguiner Stadtteil Providencia zu, als der amtsinhabende Bürgermeister Cristián Labbé, Ex-Militär und Ausbilder des Pinochet-Geheimdienstes DINA, bei seinem Urnengang von einer Gruppe durchaus gesetzterer Wahlberechtigter ausgebuht und angegriffen wurde. Das anwesende Militär musste - gewohnt energisch - durchgreifen, um die Abläufe im Wahllokal sicherzustellen, nachdem auch aus dem Umfeld Labbé zurückgekeilt worden war. Ganz sicher ein schlechtes Omen für den seit 16 Jahren regierenden Labbé, dass sich am Nachmittag in unerwarteter Klarheit bestätigte: Er verlor mit über 11 Punkten Rückstand vor der unabhängigen, von einem breiten politischen Bündnis von rechts bis links getragenen Josefa Errazuriz, sie leitete mit 55 Prozent der abgegebenen Stimmen einen bis vor einigen Monaten noch undenkbaren Wechsel in dieser Gemeinde ein.


Die Bitterkeit des Verlierers

Errazuriz, jahrelang beim UNDP angestellt, wurde von Labbé im Wahlkampf verächtlich als „Hausfrau“ beschimpft. Noch bitterer wurde Labbé am Abend, als er, sichtlich angegriffen und mit ungläubiger Miene, seine Niederlage eingestehen musste. Er werde unter gar keinen Umständen seiner Kontrahentin gratulieren oder sie besuchen, schließlich habe in Chile erneut der Hass gesiegt und offenbar könne sich eine erfolgreiche, effiziente Regierungsbilanz nicht gegen eine Medienkampagne (für Errazuriz) durchsetzen. Auch wenn das unerwartet abrupte Karriereende des 64-jährigen Ex-Elitesoldaten einen Teil seiner Bitterkeit erklären mag, erstaunte dann doch nicht Wenige die Uneinsichtigkeit und fehlende Professionalität des jahrelangen Bürgermeisters. Allerdings war auch vielen Errazuriz-Unterstützern aus dem Lager der urbaneren, liberalen Rechten dieser Bürgermeister in den vergangenen Jahren eine Last geworden, nicht nur wegen zunehmend intransparenterer Vorgänge, sondern auch aus Prinzip: In einem Land, in dem zum Beispiel Mapuche im Süden wegen Viehdiebstahls unter Umständen zu Haftstrafen von bis zu 10 Jahren verurteilt werden können, war jemand mit einer derartigen, juristisch nicht aufgearbeiteten Vergangenheit nicht mehr wirklich tragfähig.


Keine laute Siegesfeier

Dennoch sollte auch das Errazuriz-Lager überlegen, wie lautstark es feiert: Trotz aller basisdemokratischen Orientierung, trotz der breiten überparteilichen Allianz von liberaler Rechten bis hin zu linken Studentenorganisationen, trotz einer partizipativ angelegten Programmerarbeitung und Kandidaturnominierung, bleibt angesichts einer haushohen Wahlenthaltung von zwischen 60 und 70 Prozent dieser Sieg –wie auch alle anderen landesweit- ein eingeschränkter Erfolg. So summierten die am späten Abend vor dem Rathaus in Providencia feiernden Gruppen auch nicht das Menschenmeer, das angesichts eines derartig historischen Machtwechsels zu erwarten gewesen wäre.

Gleiches gilt für die Übernahme der anderen emblematischen Kommune, Santiago-Stadt, durch Carolina Tohá, Ex-Staatsministerin im Präsidialamt von Bachelet, die mit knapp über 50 Prozent den UDI-Amtsinhaber Pablo Zalaquett, Inhaber eines Immobilienunternehmens, nach nur vier Jahren ebenfalls unerwartet aus dem Amt drängte. Zalaquett hatte ebenfalls so seine Schwierigkeiten, sein Schicksal zu fassen; mit feuchten Augen und etwas stammelnd gratulierte er immerhin per Handy-Telefonat vor laufenden Kameras seiner Gegnerin mit durchaus herzlichen Worten und bot seine Unterstützung für den Übergabeprozess an.

Dennoch wirkte der Jubel von Tohá und der Concertación in gewisser Weise unangemessen, wie auch der anschließende Marsch zur zentralen Plaza de Armas und die Ansprache mit dem Megafon in volkstribunenhafter Attitüde, denn das Volk, das Vielfach zitierte und umworbene, es war mehrheitlich zu Hause geblieben oder an den Strand gefahren an diesem ersten wirklichen Frühlingstag.


Am Puls des Volkes

Wer im Regierungslager diese besondere Botschaft des Souveräns in gewohnt gekonnter Reaktion auf Stimmungsschwankungen am deutlichsten beim Namen nannte, war der Präsident höchstpersönlich, der, nach wochenlangem Schweigen und -offenkundig aufgrund seiner schlechten Umfragewerte- politisch motiviertem Abtauchen, in seiner abendlichen Ansprache versicherte, die Regierung habe die Botschaft verstanden und werde alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um die Bürgerinnen und Bürger „besser und mit größerer Nähe“ zu erreichen.

Natürlich steht als größte Sorge für das Regierungslager zunächst der Verlust der beiden emblematischen Kommunen Santiago und Providencia im Raum, doch auch insgesamt zeigen die Ergebnisse landesweit eine deutliche Tendenz hin zur linken Mitte – oder dessen, was hier in Chile darunter verstanden wird - sowie noch weiter links. Die zu diesen Wahlen in zwei Wahlbündnissen antretende Concertación konnte fast 2,2 Millionen Stimmen auf sich vereinen, die Regierungsallianz nur 1,9 Millionen. Werden zwei weitere progressive oder linke Bündnisse dazu gezählt, kommt das progressive Lager auf über 2,4 Millionen Stimmen. Fast zu offensichtlich wird hier eine Strategie des getrennt schlagen, gemeinsam regieren, welche die Concertación zurzeit und angesichts der großen Unzufriedenheit auch mit ihrer Regierungs- und erst recht Oppositionsbilanz anzuwenden scheint.

Bemerkenswert auch die hohe Zahl von Stimmen, die auf unabhängige Kandidaten außerhalb formeller Wahlbündnisse entfielen: Fast 500.000 Wahlberechtigte stimmten für diese zumeist lokalen Optionen, die sich nicht eindeutig einem der beiden Lager zuordnen lassen, zumeist jedoch Ableger oder Ex-Mitglieder eines der beiden großen Lager sind - sie stehen deshalb nicht unbedingt für einen Wandel oder zumindest Diskontinuität mit dem existierenden Zwei-Parteien-System.


Der Frust der Konservativen

Was der konservativen Regierung jedoch gar nicht gefallen kann, ist die hohe Zahl der Wahlenthaltungen im rechten Lager vor allem in den besseren Vierteln des sogenannten „sector oriental“, der östlich an und auf den Andenausläufern gelegenen, extrem konservativen Reichen-Vorstädte (high-income suburbs), mit ihren üppigen Villen und zahlreichen SUVs, die, beinahe physisch abgeschottet von den Realitäten Chiles, eigentlich in einem anderen Land leben. Dort erreichte die Wahlenthaltung bis zu 70 Prozent, und es ist auch klar, dass dies eher der Unzufriedenheit mit einem Präsidenten zuzuschreiben ist, der in seiner bisherigen Amtszeit für viele Exponenten dieser Schicht kein ausreichend konservatives Profil gezeigt hat. In der Tat hat der eher wirtschaftsliberale Piñera sehr viel mehr Augenmerk auf gewisse soziale Belange gelegt, als erwartet worden war. Andererseits hat sich das Regieren, auch mit permanentem Blick auf die Umfragen, oft als schwieriges und in der eigenen Koalition nicht besonders gut abgestimmtes Unterfangen erwiesen, was zahlreiche Skandale und Skandälchen zur Folge hatte – als bislang ätzendstes Urteil über Piñera ist der Vorwurf zu hören, er sei letztlich der beste Concertación-Präsident gewesen.

Auch wenn die Kritik an Piñera nicht immer fair ist, bestätigt das Ergebnis dieses Abends doch die Irritation und Orientierungslosigkeit des konservativen Lagers angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen 2013 – es scheint außer Bauminister Golborne kein Kandidat in Sicht, der  einer mit relativem Glanz und Gloria wiederkehrenden Michelle Bachelet das Wasser reichen könnte.


Bequeme Elitendemokratie

Einerseits – denn andererseits, so lauten erste Theorien, die an diesem Abend zu hören waren, könnte die hohe Wahlenthaltung nach erstmaliger Aufhebung der Wahlpflicht auch Indiz für die Offenlegung eines sowieso schon immer geahnten Systemtypus sein: Der Bestätigung der chilenischen Demokratie als Elitendemokratie, in der selbst die einfachste der politischen Staatsbürgerpflichten, das Wählen, nicht mehr wahrgenommen oder delegiert wird. Unter anderem weil „es eh keinen Zweck hat“,  „die da oben sowieso machen, was sie wollen“, die Fahrt zum neu zugewiesenen Wahllokal „ eine ganze Tankfüllung“ kosten würde oder weil schlicht endlich „mal der Wahltag zur freien Verfügung steht“ – alles Äußerungen, die in TV-Interviews mit Wahlverweigernden zu hören waren. Oder vielleicht, wie einige der eifrigeren Kommentatoren in infantiler Selbstüberschätzung gleich anmerkten, weil Chile eben mittlerweile eine genauso moderne Gesellschaft sei, wie die der USA oder anderer Länder des Nordens, in denen das Phänomen zur demokratischen Normalität gehöre.

Dieses Konzept der „Elitendemokratie“ wäre insbesondere für einen Teil der politischen Akteure und den größten der ökonomischen Elite sicher der bequemste Weg in eine Regierungs – Zukunft ohne Angst vor allzu großer und tieferer Veränderung der grundlegenden politischen Systemkoordinaten – auch wenn nicht von vorneherein feststünde, welches der beiden großen Lager am ehesten von einem solchen Zustand profitierte.


Präsident Salvador Allende darf wählen

Doch noch ist unklar, ob das Ausmaß der Wahlenthaltung tatsächlich Ausdruck enormer gesellschaftlicher Modernisierungssprünge ist, oder nicht doch eher anderen Faktoren zu schulden ist:
Zu einem -sicherlich geringeren- Teil dem erst am Wahltag bekannt gewordenen Chaos um die automatische Registrierung von bereits verstorbenen Wahlberechtigten. So tauchte groteskerweise in einer der Listen eines Wahllokals der tote Präsident Salvador Allende mit seiner Personalausweisnummer RUT auf – dies war aufgefallen, weil praktisch alle Namen an diesem Tisch eine nur sechsstellige RUT-Nummer aufwiesen, während sich die RUT-Nummern bereits seit Jahren im achtstelligen Bereich bewegen. Besonders aufschlussreich waren die Erklärungsbemühungen der nationalen Wahlkommission dazu nicht, außer dass das Versagen dem nationalen Personenregister in die Schuhe geschoben wurde. Wie viele der „neuen“ 5 Millionen Wahlberechtigten nun tatsächlich als Lebende ihr Wahlrecht ausüben können und wie viele bereits verstorben sind, wird sich in den nächsten Tagen wohl herausstellen.


Der Wahlboykott der protestierenden Schüler

Selbst wenn sich die intensiven Mobilisierungen der letzten Monate nicht eins zu eins in eine hohe Wahlbeteiligung übersetzt haben, steht außer Zweifel, dass der Unmut über die tiefen strukturellen Gerechtigkeitsdefizite des chilenischen Modells (siehe Beitrag ) anhaltend hoch ist, die meisten relevanten  Umfragen bestätigen dies. Allerdings ist auch offensichtlich, dass diese strukturellen Schwächen aus Sicht der Wahlberechtigten nicht auf kommunaler Ebene zu beseitigen sind – insofern durchaus ein Grund, diesen Wahlen nicht allzu große Bedeutung zuzumessen. Zumal, wenn damit ein deutliches Zeichen gesetzt werden  kann:  Eloisa Gonzalez, die Vorsitzende von ACES, der Vereinigung der protestierenden Schüler, rechtfertigte ihren Aufruf zu einem Boykott dieser Wahlen mit dem nicht von der Hand zu weisenden Vorwurf, dass das zur Wahl stehende Angebot an politischen Optionen weder repräsentativ sei, noch für einen tatsächlichen Wandel stehe. In der Tat bot das rigide Korsett des chilenischen Wahlsystems trotz aller Öffnungstendenzen und neuen Koalitionen auch dieses Mal keine Möglichkeiten für potentiell neue Parteiformationen. So konnten nur mit Mühe in einigen Gemeinden Bündnisse geschlossen werden, in vielen Kommunen fielen alternative oder tatsächlich unabhängige Kandidaten aus dem Rennen, weil sie von Anfang an keine Chance hatten. Doch dort, wo es wie in Providencia, Santiago oder auch Ñuñoa darauf ankam, konnte zumindest eine relevante Anzahl an Wählenden für den Wechsel mobilisiert werden.


Signal mangelhafter Repräsentativität

Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die Wahlabstinenz nicht nur schnöder Faulheit, sondern einem gezieltem Fernbleiben als Signal mangelhafter Repräsentativität und grundsätzlicher Kritik an der Irrelevanz kommunaler Strukturen in einem stark zentralistischen Land wie Chile zuzuschreiben ist. Präziseren Aufschluss darüber werden in den nächsten Tagen auch die genaueren Analysen der Wahlergebnisse nach Altersgruppen und anderen Faktoren bieten.

Immerhin zeigt die Erfahrung der letzten Monate quer übers ganze Land, dass die Bewohner, auch in den Regionen, immer deutlicher ihre Interessen artikulieren – ob und wie diese zunehmende Ausdifferenzierung und Emanzipation der chilenischen Gesellschaft eine passgenauere politische Repräsentativität erreichen und damit politisch produktiver werden kann, ist im derzeitigen von der Pinochet-Verfassung vorgegebenen Rahmen äußerst ungewiss. Ganz sicher jedoch werden auch die nächsten Monate kein Zurück zur altbekannten und bequemen top-down Regierbarkeit des Landes bieten - diese Botschaft sollten Regierung und Opposition nun –hoffentlich- verstanden haben.

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Michael Alvarez Kalverkamp ist Leiter des Auslandsbüros in Santiago de Chile.

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