Wir müssen weicher werden: Plädoyer für die Stärkung der afghanischen Zivilgesellschaft

Der militärische Abzug ist beschlossen. Wie man stufenweise bis 2014 das Land verlässt, wird in der zweiten Jahreshälfte mit den afghanischen Regierungspartnern und die International Security Assistance Force (ISAF) ausgehandelt. Die Nato-Truppen flüchten nicht, so die offizielle Sprachregelung, sondern übergeben schrittweise die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Institutionen. So soll erreicht werden, sagt man, dass die erzielten Gewinne an Sicherheit seit 2001 auch unter alleiniger Hoheit der afghanischen Regierung nicht verloren gehen.

In diesem Übergabeprozess wird die afghanische Zivilgesellschaft keine Rolle spielen. Sie wird auch in den Verhandlungen mit den Aufständischen keine Stimme haben. In dem Maße, wie sich die internationale Gemeinschaft um die innerafghanische Verständigung und die Sicherheitsübergabe sorgt, müsste sie sich auch darum sorgen, dass durch diesen Prozess die afghanische Zivilgesellschaft nicht geschädigt wird, sondern in ihm eine aktive Mitsprache erhält. So wie nach 2014 Sicherheitsgewinne und Verwaltungskompetenz in Afghanistan bleiben sollen, so muss nach 2014 auch politische, soziale, das heißt zivilgesellschaftliche, Kompetenz im Land bleiben. Dafür braucht es einerseits einen intensiven Dialog mit den afghanischen NGOs und verbindliche Zusagen, also eine Art zivilen Abzugsplan. Dazu sind die zweite Bonner Konferenz und vor allem ihr Vorlauf in Afghanistan wohl die letzte Gelegenheit. Andererseits muss die Bundesregierung endlich konsequent ihre Ressourcen einsetzen, um die afghanische Zivilgesellschaft zu stärken. Stromleitungen, Straßenkilometer, Staudämme sind gewiss wichtig – demokratisches und menschenrechtliches Bewusstsein, politische Organisationsfähigkeiten und Bildung sind wichtiger.

Viele entwicklungspolitische Vorhaben sind heute noch auf militärischen Schutz angewiesen. Es gibt kaum ein Infrastrukturprojekt, das ohne ständige Bewachung auskommt. Allein in der Provinz Paktia, dem östlichen Nachbar Kabuls, starben zwischen März und Mai 2011 fast sechzig Arbeiter und Wachmänner durch Angriffe der Taliban. Auch der deutsche Entwicklungshelfer, der im Dezember 2010 erschossen wurde, war mit Straßenbau beschäftigt. Zivile Helferinnen und Helfer sind Ziele, weil die Aufständischen nahezu jedes erfolgreiche Entwicklungsprojekt als Stärkung der afghanischen Regierung, also ihres Gegners, verstehen, selbst wenn die einzelnen Vorhaben nur auf die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung abzielen. Verschlimmert wird dieses Dilemma, wenn die Bundesregierung zivile Entwicklungshilfe und militärisches Vorgehen koppelt, wie es Minister Niebel vorschwebt.

Anstelle von sogenannter "vernetzter Sicherheit" brauchen wir eine zivile Aufbauperspektive bis 2025, in der die Anwesenheit von ausländischen Soldaten nicht nötig ist. Schon jetzt muss jedes Projekt, das wir beginnen, auch ohne internationalen Beistand funktionieren können. Das heißt, die Projekte müssen kleiner werden, weniger “hart” (also Infrastruktur, Wirtschaftsförderung), eher “weich” (Bildung, Unterstützung der Zivilgesellschaft). Die Projekte müssen von den Afghaninnen und Afghanen gewünscht und von ihnen – im besten Sinn des Wortes – vereinnahmt werden. Unser ziviler Beitrag in Afghanistan sollte vor allem der Zivilgesellschaft zu gute kommen, nicht unbedingt der Zentralregierung, nicht den Militärs, nicht den lokalen „Strongmen“. Unser Engagement ist dann nachhaltig, wenn es den Menschen unmittelbar hilft, ihr alltägliches Leben besser zu gestalten.

Leider wussten wir weder 2001 noch wissen wir 2011, wie in Afghanistan der deutsche Beitrag in solche nachhaltigen Projekte zur zivilgesellschaftlichen und lokalen Befähigung überführt werden kann. Anfangs war uns nicht bewusst, wie lang der Weg zu einem friedlichen und funktionierenden Gemeinwesen sein würde; heute weiß die Bundesregierung immer noch nicht genau, wie man diesen Weg am besten beschreitet. 

Der Einsatz in Afghanistan begann 2001/02 als begrenzte Militäroperation. Es war laut Ahmed Rashid der “billigste Krieg, den Amerika je geführt hat” (1). Sein Ziel war Al Qaida, die ihre Heimstätte verlieren sollte. Dass es erheblich leichter sein würde, die Taliban und Al Qaida zu vertreiben, als eine neue Regierung zu finden, war anfangs nur wenigen klar. Das militärische Vorgehen der ISAF war vom Geschehen im Felde bestimmt, der zivile Teil des Vorhabens ergab sich keineswegs ebenso zwingend.

Das Ausmaß der Aufgabe auf der zivilen Seite des Einsatzes war zumindest deutschen Politikern nicht bewusst. Und entsprechend schlecht geplant war das deutsche Engagement. Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck sagte im Plenum des Bundestags am 16.11.2001: “Jetzt geht es darum, international die Ordnung in dem geplagten Land zu sichern.” Seine Kabinettskollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul forderte von der Nordallianz, dass sie den Frauen ihre Rechte zurückgeben solle. Zu diesem Zeitpunkt stritten die starken Männer der Nordallianz aber mehr darum, wie die Geländegewinne unter ihnen aufgeteilt würden, anstatt mit den Taliban. In Mazar-i-Sharif standen sich die Truppen vom General Dostum und die von Mohammed Atta gegenüber, während 150 Kilometer weiter östlich, in Kunduz, noch die Taliban ihre Stellungen hielten. Von einer Ordnung, die man sichern könnte, oder einer Regierung, die man unterstützen könnte, war noch keine Spur.

In der gesamten Debatte, in der darüber entschieden wurde, ob Deutschland sich am Nato-Einsatz in Afghanistan beteiligen würde und wie, hatten alle Rednerinnen und Redner eine militärisch unterstützte Hilfsoperation im Sinn. Niemand dachte daran, dass man mehr als zehn Jahre in Afghanistan bleiben würde, um dort ein politisches Gemeinwesen von Grund auf aufzubauen.

Also folgten zehn Jahre des Improvisierens. Dank des Einsatzes einzelner wurde in dieser Zeit punktuell viel Gutes erreicht. Die Ziele des deutschen Engagements – Demokratie, Sicherheit, Menschenrechte – waren und sind aber nicht mit einzelnen Instrumenten und konkreten Fördermaßnahmen verbunden. Ein Beispiel: Die deutschen Hilfsmittel für Afghanistan werden 2011 in zwei Tranchen ausgezahlt. Damit wolle man “afghanische Demokraten und Reformkräfte stärken”, sagt Minister Niebel im Mai. Denn nur wenn die afghanische Regierung bestimmte Bedingungen erfülle, würde die zweite Tranche ausgezahlt. Tatsächlich ist “die Zusage der zweiten Tranche […] an eine generelle Beschleunigung des Verfahrens der Entzollung und Zulassung von Fahrzeugen und Ausrüstung auf drei Monate” (2) gekoppelt, teilt die Bundesregierung dann im Juni mit. Wobei der zügige Import des Fuhrparks  sicherlich keinen Einfluss auf die demokratischen Kräfte in Afghanistan haben wird.

Obamas Ankündigung, bis Mitte 2012 ein Drittel der US-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, folgt dem berühmten Ratschlag des US-Senatoren George Aiken angesichts des Vietnams-Kriegs: “Declare victory and get out.” Auf ziviler Seite können wir so nicht vorgehen. Die Afghaninnen und Afghanen müssen im Land bleiben, und ihnen müssen wir dabei helfen, die Folgen von mehr als drei Jahrzehnten Krieg zu bewältigen. Was den Afghaninnen und Afghanen vom internationalen und deutschen Engagement bleibt, wenn 2014 die Nato-Truppen abziehen, entscheiden wir jetzt und in den nächsten Monaten. Machen wir weiter wie bisher, wird kaum etwas von dem, was wir in Afghanistan begonnen hatten, nachhaltig sein. Dann würde der militärische Abzug mit dem zivilen zusammenfallen.

 

 

  1. Ahmed Rashid, Descent Into Chaos, London: Allen Lane 2008, 63.
  2. Bundestagsdrucksache 17/5984

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    Dossier

    Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement

    Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.
     

     

     
     

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