Ilustration

Grüne Generationen

Tschernobyl, Mauerfall, Krieg auf dem Balkan … Zeithistorische Ereignisse haben die grüne Partei und Bewegung geprägt und verändert. Die Bündnisgrünen haben aber auch selbst Geschichte geschrieben: von der Reform des Staatsangehörig­keitsrechts bis zum Atom­ausstieg. Vierzig Jahre grüne Geschichte – Einschätzungen grüner Aktiver zu wichtigen ­historischen Momenten.

Waltraud Schoppe
Waltraud Schoppe spricht im Deutschen Bundestag über Gewalt gegen Frauen und Sexismus.

«Es bleibt ein Kampf für die Demokratie»

Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen ­Bundestages, über das im Grundgesetz verankerte Versprechen der Gleichberechtigung:

«Waltraud Schoppe hat 1983 im Bonner Bundestag Geschichte geschrieben: In ihrer Rede zum §218 des Strafgesetzbuches, welcher Schwangerschaftsabbrüche bis heute kriminalisiert, wurde im hohen Haus der Demokratie erstmals eine grundlegende Kritik an den herrschenden Geschlechterverhältnissen vorgebracht. Abtreibungsverbot, Gewalt gegen Frauen und Sexismus waren und sind Teil patriarchaler Normen. Die Reaktion der johlenden, schenkelklopfenden männlichen Abgeordneten, damals gar über 90 Prozent der Parlamentarier, bestätigte den eklatanten Sexismus im Bundestag. Die Kritik Schoppes ist leider weiter aktuell: Volle reproduktive Rechte werden Frauen in Deutschland noch immer verwehrt, auch im Jahr 2020 tickt der Bundestag mit nur 31 Prozent weiblichen Abgeordneten männlich, gerechte Repräsentanz von Frauen und Männern scheint in weiter Ferne, Frauen sind von Gewalt und Armut betroffen, werden strukturell schlechter bezahlt als Männer, übernehmen zugleich den Löwinnenanteil der Sorgearbeit und haben noch immer schlechtere Zugänge zu Macht und Ressourcen. Kurzum: Das von den Müttern unseres Grundgesetzes verankerte Versprechen der Gleichberechtigung ist längst noch nicht umgesetzt, das Patriarchat hält sich hartnäckig. Dagegen kämpfen Feminist*innen weiterhin an. Nicht nur bei uns, sondern weltweit werden Rechte von Frauen und Minderheiten, werden emanzipatorische gesellschaftliche Errungenschaften durch einen toxischen Mix aus Rechtsstaatsverächtern, Mackern, Rassisten und Sexisten angegriffen. Der Kampf für eine feministische Gesellschaft, in der alle Menschen frei von Unterdrückung und Gewalt, in voller Würde mit gleichen Rechten leben können, bleibt ein Kampf für die Demokratie.»

Claudia Roth, 65, ist seit 2013 Vizepräsidentin des ­Deutschen Bundestages.

Lieber aktiv als radioaktiv
26.04. 1986 — Ein Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert.

«Unser Protest ist der Schlüssel zu einer guten Zukunft»

Anna Peters, Bundessprecherin der Grünen Jugend, über die Bedeutung von zivilem Widerstand für die Energiewende

«Es war ein langer Weg des Protests, aber er hat sich gelohnt: 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beschloss die Bundesregierung 2011 endlich den Ausstieg aus der Kernenergie. Für die Energiewende war das ein existentieller Schritt. Acht Jahre später, Ende Januar 2019, hat die Kohlekommission ihren Abschlussbericht vorgestellt. Dieser Tag hat sich für viele von uns Klimaaktivist*innen leider nicht wie ein Durchbruch angefühlt, sondern wie ein Schlag ins Gesicht.

Seit Jahren gehen wir zusammen mit Bewegungen auf die Straße, blockieren Kohlegruben und beschützen den Hambacher Wald. Trotzdem warten wir auf ein Klimaschutzgesetz, das die Klimakrise wirklich abmildert. Es wird seit Monaten verschleppt. Immer drängender stellt sich daher die Frage, wie in diesen Zeiten des Aufschiebens überhaupt noch eine zukunftsfähige Energiepolitik durchgesetzt werden kann.

80 Prozent der Bundesbürger*innen sind schließlich bereit für eine ambitioniertere Klimapolitik. Unsere Aufgabe muss es also sein, die Proteste, die in den vergangenen Jahren die Gesellschaft wachgerüttelt haben, zusammen mit der Bewegung bis zu den nächsten Bundestagswahlen aufrechtzuhalten.

Wir müssen die Zusammenhänge zwischen Klimazerstörung, Flucht und sozialer wie globaler Ungerechtigkeit in der Öffentlichkeit diskutieren und diese Diskussionen heute schon in unsere Partei und die Parlamente bringen. Nur so können wir 2021 endlich den Wandel auch in den Bundestag bringen und eine ambitionierte Klimapolitik durchsetzen. Unser Protest und unser Widerstand gemeinsam mit der Klimagerechtigkeitsbewegung ist der Schlüssel zu einer guten Zukunft.»

Anna Peters, 23, ist seit November Bundessprecherin der Grünen Jugend.

Banner Bündnis90/Die Grünen
14.05. 1993 - Die Partei «Bündnis 90» und die westdeutschen Grünen fusionieren.

«Wir standen für einen pragmatischen Politikstil»

Marianne Birthler, Gründungsmitglied von «Bündnis 90», über den Einfluss der Partei auf das Staats- und Institutionenverständnis der Grünen

«Das Verhältnis der Westgrünen zu DDR-Opposi­tionellen war höchst unterschiedlich: Die meisten nahmen sie kaum zur Kenntnis, andere waren aus ideologischen Gründen sehr distanziert. Einige standen ihr jedoch sehr nah und hielten eine enge Ver­bindung. Mit dem Zusammenschluss der Parteien 1993 wurden innerhalb der Grünen diejenigen gestärkt, die ein freiheitliches, eher bürgerliches Politikverständnis hatten.

Die kleine bündnisgrüne Bundestagsgruppe hat von 1990 bis 1994 bereits früh neue Akzente gesetzt. In der Friedenspolitik zum Beispiel tabuisierte sie militärische Maßnahmen bei Menschenrechtsverletzungen keineswegs. Damit war sie der späteren Entwicklung der Grünen weit voraus.

Ein ähnlicher Lernprozess vollzog sich im Hinblick auf das Staats- und Institutionenverständnis. Für uns, die wir aus der DDR kamen, war politische Macht negativ besetzt. Viele Grüne aus dem Westen hatten, obwohl sie in einem freien Land lebten, eine ebenso feindselige Einstellung gegenüber dem Staat. Das hatte ideologische Gründe. Auf Ideologie waren DDR-Oppositionelle aber sehr schlecht zu sprechen. Alle «ismen» waren uns verdächtig, stattdessen standen wir eher für einen werteorientierten und pragmatischen Politikstil.

Deshalb hat das «Bündnis 90» beim Vereinigungsprozess einen Grundkonsens angeregt und durchgesetzt. Er definierte die handlungsleitenden politischen Grundwerte und warb für eine neue politische Kultur. Der werteorientierte, nachdenkliche, aber zugleich pragmatische Politikansatz der heutigen Bündnisgrünen erinnert mich an diese Grundsätze – vielleicht habe ich auch deshalb so große Freude an ihnen.»

Marianne Birthler, 72, war Bundesvorstands­sprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen. Von 2000 bis 2011 war sie Bundesbeauftragte für die ­Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes.

Joschka Fischer
13.05. 1999 - Außenminister Joschka Fischer wird auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Bielefeld aus Protest gegen die Beteiligung der Bundeswehr am Nato-Einsatz im Kosovo­krieg mit einem Farbbeutel beworfen.

«Wir prüfen den ­Einsatz von Gewalt mit klugen ­Kriterien»

Agnieszka Brugger, stellvertretende ­Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, über die Folgen der friedens- und sicher­heitspolitischen Debatte

«Eine Welt, die klug genug ist, um Konflikte ohne Waffen zu lösen – das war und bleibt die grüne Zukunftsvision. Solange es aber bewaffnete Konflikte gibt, müssen wir uns in den Einzelfällen mit sehr grundlegenden Fragen im Spannungsfeld von Krieg, Frieden und dem Schutz von Menschenrechten auseinandersetzen. Konflikte können nicht militärisch gelöst werden und wir brauchen viel mehr Einsatz, mehr Geld und mehr Personal für zivile Konfliktlösungen. Militär kann unter eng begrenzten Bedingungen aber notwendig sein, um Räume für politische Lösungen zu öffnen und Menschen vor schrecklichsten Verbrechen zu schützen.

Sehr oft waren es in den vergangenen Jahrzehnten die Grünen, die diese Fragen auch stellvertretend für die Gesellschaft öffentlich diskutiert haben. Diese Diskussionen waren extrem ernsthaft, kritisch und oft auch emotional. Während der ersten rot-grünen Regierungsjahre im Bund sind sie mit den Kriegen auf dem Balkan und in Afghanistan sehr konkret geworden und haben unsere Partei bis an den Rand der Spaltung geführt. Eine Friedens- und Sicherheitspolitische Kommission hat nach der Regierungszeit intensiv, selbstkritisch und mit allen Meinungen an einem Tisch diese Entscheidungen aufgearbeitet und kluge Kriterien für den Einsatz militärischer Gewalt entwickelt, die bis heute unsere Diskussion leiten. Wir machen uns diese schwerwiegenden Fragen nicht leicht und prüfen die Mandate sehr kritisch und sorgfältig, lehnen sie weder reflexhaft ab, noch stimmen wir blind zu.»

Agnieszka Brugger, 35, ist seit 2018 stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen und Koordinatorin des ­Arbeitskreises «Internationale Politik und Menschenrechte».

Illustration - Staatsbürgerschaft
01.01. 2000 - Das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts tritt in Kraft. Auch in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern können seither die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben.

«Unsere Gesellschaft ist selbstverständlich bunt!»

Sergey Lagodinsky, Abgeordneter im Europäischen Parlament, über die Bedeutung der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Anfang des Jahrtausends

«Rechtlich gesehen hat sich für mich durch die Reform wenig geändert. Schon Ende 1999 wurde ich nach vorgeschriebener Aufenthaltsdauer deutscher Staatsbürger. Verändert hat sich aber sehr wohl das Gefühl der Existenzberechtigung als deutscher Bürger. Durch die Einführung von jus soli wurde mir wie vielen anderen Neubürger*innen signalisiert, dass wir keine «nicht-deutsche» Ausnahme waren, dass wir nicht von Gnaden der deutschen Großzügigkeit abhingen, uns deutsche Staatsbürger nennen zu dürfen! Nein, unser Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft, der nicht über Familienstammbücher und Nachweislegung der Blutsverwandtschaft führte, war ein gleichberechtigter. Wir waren die Gleichberechtigten! Die gleichen Bürger*innen einer Gesellschaft. Diese Veränderung war mitten in der Doppelpassdebatte und trotz der darauffolgenden Leitkulturdebatte wie ein Atemzug frischer Luft. Die Auswirkungen dieser Entscheidung wirken bis heute nach. Denn trotz Rassismus und Populismus hat die Regelung von 2000 Weichen gestellt: Dafür, dass diese Gesellschaft nicht nur bunt, sondern selbstverständlich (!) bunt ist. Diese Selbstverständlichkeit müssen wir uns in der gesellschaftlichen Realität immer noch tagtäglich erkämpfen, aber uns zur Seite steht dabei die Legalität. Und das ist ein wichtiger und ganz entscheidender Faktor.»

Sergey Lagodinsky, 44, geboren in der damaligen Sowjetunion, ist Rechts­anwalt und seit 2019 ­Abgeordneter im Europäischen Parlament als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA.

Volker Beck
01.08.2001­ - Das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft tritt in Kraft. 2017 folgte die «Ehe für alle».

«Alle Menschen ­sollen ohne Angst ­verschieden sein»

Ricarda Lang, frauenpolitische Sprecherin der Grünen, über die Bedeutung des Gesetzes über die eingetragene Lebenspartnerschaft für die Gleichstellungspolitik

«Die Grünen setzten sich von Beginn an für eine Gesellschaft ein, in der alle Menschen selbstbestimmt leben können. Alle Menschen sollen ohne Angst verschieden sein können. Das beinhaltet die Emanzipation der Frau ebenso wie die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Aus der Geschichte lässt sich eines ganz klar lernen: Dies alles gibt es nicht geschenkt. Sei es die eingetragene Lebenspartnerschaft, seit 2017 endlich auch die Ehe für alle, oder die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, all diese Errungenschaften haben wir hart erkämpft. Auch wenn viele sie heute für selbstverständlich halten, sind sie nicht in Stein gemeißelt. Deshalb dürfen wir uns auf den Erfolgen nicht ausruhen, sondern machen weiter – auf den Schultern von Riesen mit Blick in die Zukunft.

Illustration - Vielfalt

Denn es gibt noch viel zu tun im Bereich der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung. Ich wünsche mir, dass das Jahr 2020 ähnlich bedeutend für die Gleichstellung wird wie 2001. Das bevormundende und diskriminierende Transsexuellengesetz muss endlich von einem Gesetz abgelöst werden, das allen Menschen die Möglichkeit gibt, über ihr Geschlecht zu bestimmen. Alle müssen ihre Geschlechtsidentität frei leben dürfen. Zudem sollten alle Menschen den Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung haben. Das umfasst im weiteren Sinne auch das Recht, selbst über den eigenen Körper zu entscheiden. Schwangerschaftsabbrüche haben daher nichts im Strafgesetzbuch zu suchen. ‹Ob Kinder oder keine entscheiden wir alleine›, so lautete der Slogan in der Anfangszeit der Grünen. Sorgen wir dafür, dass er endlich Wirklichkeit wird!»

Ricarda Lang, 26, ist stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen.

«Der Einsatz für eine gute Zukunft lohnt sich»

Anne Spiegel, Familienministerin in Rheinland-Pfalz, über Ideale und Kompromisse in grüner Regierungsverantwortung

«Grünes Regieren braucht einen klaren politischen Kompass. Als Grüne haben wir den Anspruch, nicht nur aus dem Hier und Jetzt heraus unsere Politik zu entwickeln. Zentral ist die Überzeugung, dass sich der Einsatz für eine gute Zukunft lohnt und dass wir unserer Verantwortung auch in globalen Maßstäben gerecht werden müssen.

Es geht darum, wie wir unsere Welt und unsere Gesellschaft so gestalten, dass auch kommende Generationen darin gut leben können. Der Einsatz für unsere natürlichen Lebensgrundlagen und für die Grundlagen eines guten Zusammenlebens in unserer Gesellschaft gehören deshalb für mich untrennbar zusammen. Wenn wir uns den Bedrohungen unserer Grundwerte beispielsweise durch Hass, Hetze und zunehmende rechte Gewalt entgegenstellen, dann ist das genauso ein Beitrag für die Gestaltung einer lebenswerten Welt von morgen wie der Einsatz für sauberes Grundwasser und gegen die Bedrohungen durch den Klimawandel.

Illustration - Sonnenblume

Wichtig ist also das Denken und Handeln in größeren Zusammenhängen. Gleichzeitig braucht grünes Regieren einen sehr klaren Blick auf die Ausgangsbedingungen und auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben und die wir uns noch erarbeiten müssen. Grünes Regieren berücksichtigt die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, Konfliktlinien, die vielfältigen Interessenlagen und Bedürfnisse, denen wir begegnen, wenn wir unsere Gestaltungsaufgabe annehmen. Dazu braucht es einen langen Atem, viel Überzeugungsarbeit – und einen klaren politischen Kompass.»


Anne Spiegel, 39, ist seit 2016 Ministerin für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz in Rheinland-Pfalz.

This article is licensed under Creative Commons License