«Wir stellen die unbequemen Fragen»

Ellen Ueberschär und Barbara Unmüßig führen als Doppelspitze die Heinrich-Böll-Stiftung. Ein Gespräch über Herkunft, Teamarbeit und Netzwerken in Zeiten wachsender globaler Herausforderungen.

Anja Maier: Frau Unmüßig, Frau Ueberschär, Sie sind seit Jahrzehnten bei Bündnis 90/ Die Grünen aktiv. Hätten Sie sich je träumen lassen, dass Sie einmal in einer Doppelspitze die Heinrich-Böll-Stiftung führen würden?

Ellen Ueberschär (EU): Ganz bestimmt nicht. Dabei ist die Böll-Stiftung seit Anfang der 90er-Jahre meine politische Heimat. Ich kam aus der DDR-Kirchenopposition und arbeitete nach der Friedlichen Revolution mit im «Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder». Das war die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative, wir haben uns für eine gemeinsame Verfassung eingesetzt. Über dieses Kuratorium und meine Arbeit als studentische Mitarbeiterin bin ich schließlich eine der ersten Stipendiatinnen geworden.

Portrait Illustration Barbara Unmüßig

Barbara Unmüßig(BU): Ich hätte mir das auch nicht träumen lassen. Ich habe in den 80er-Jahren in der ersten grünen Bundestagfraktion gearbeitet und später viele zivilgesellschaftliche Netzwerke gegründet, das Forum Umwelt und Entwicklung aufgebaut. Mit internationalen Themen und globalen ökologischen Fragen hatte ich mich schon sehr früh beschäftigt, die Inhalte der Stiftungsarbeit waren mir also vertraut. Als ich mich dann aber 2002 mit Ralf Fücks für den Vorstand beworben habe, hatte ich einen Riesenrespekt. Das ist ja ein politischer Top-Job und eine große Managementaufgabe. Was für ein Privileg, mit Steuergeldern internationale Arbeit machen zu dürfen. Mit guten Ideen und Professionalität die internationale Arbeit der Stiftung zu profilieren und zu legitimieren – das macht mir einfach ganz große Freude.

Wenn man sich die Profile Ihrer jeweiligen Arbeit anschaut, gibt es da eine Aufteilung in innen- und außenpolitische Schwerpunkte?

EU: Das kann man nicht trennen. Unser Handeln geht immer über den nationalen, auch über den europäischen Rahmen hinaus. Das betrifft unsere ökologische und unsere ökonomische Verantwortung, aber auch die für die Demokratie. Deswegen denke ich nicht: Hier ist mein Ressort und dort ist dein Ressort. Es gibt sehr viele Schnittmengen, sowohl thematisch als auch von den Regionen her. Ich finde es eher fruchtbar, darüber zu debattieren: Was verändert sich eigentlich warum und wohin? Wo sind die Treiber der sozialökologischen Transformation? Wo sind die Hebel, an denen wir für wirksamen Demokratieschutz ansetzen müssen?

BU: Ressortdenken wäre so ungefähr das letzte, was sich eine Stiftung in der heutigen vernetzten Welt leisten sollte. Die Herausforderung liegt ja genau darin, wie man als Doppelspitze Synergien schafft, wie wir interdisziplinär und transdisziplinär miteinander arbeiten. Es ist eine Stärke dieser Stiftung, Gerechtigkeit, Demokratie und eine ökologisch tragfähige Zukunft miteinander verknüpft global zu bearbeiten, mit vielen tollen Partnerinnen und Partnern.

Die Grünen sind aktuell eine starke politische Kraft. Ziel ist es, nach der nächsten Bundestagswahl an der Regierung beteiligt zu sein. Was bedeutet das für die Stiftung?

Portrait Illustration Ellen Ueberschär

EU: Für uns bedeutet das, dass wir mit unseren Themen größere Aufmerksamkeit erzielen. Das kann auch Bereiche wie Außen- und Sicherheitspolitik betreffen, wo Leute auf uns zukommen, die vorher mehr mit anderen politischen Akteur/innen zusammengearbeitet ­haben. Wir erweitern unsere Bündnisse, unseren Radius in die Gesellschaft hinein. Zugleich stellt sich dann die Frage: Was sind unsere besonderen Akzente? Worauf konzentrieren wir uns? Wie halten wir die Verbindung zur Zivilgesellschaft und zu einzelnen Bewegungen? Wie halten wir den Spannungsbogen zwischen einer Regierungspolitik, die Kompromisse machen muss, und den Bewegungen, die zu Recht Positionen vertreten, die nicht sofort umsetzbar sind, auch wenn das wünschenswert wäre? Da wird künftig unsere Vermittlungsrolle noch stärker werden, als sie das ohnehin schon ist. Wir spielen zugleich weiterhin unsere bewährten Stärken aus: Wir sind Thinktank. Wir bilden Netzwerke. Und wir machen politische Breitenbildung.

BU: Ich erwarte, dass eine Regierungsbeteiligung der Grünen einen Rollenwandel für die Stiftung bedeutet. Es ist ein Unterschied, ob ich in der Opposition mein normatives Gerüst und viele wichtige Positionen aufrechterhalten kann – oder ob ich in einer Regierung Kompromisse machen muss. Unsere Vermittlungsfunktion wird viel stärker gefragt sein. Wir schlagen die Brücke zwischen den langen Linien der politischen Orientierung und den notwendigen Kompromissen. Wir müssen die Verständigung über die grünen Ziele, die grünen Visionen organisieren. Und wir bleiben als Stiftung der Ort, wo Zukunft kreativ gedacht werden kann und nicht alles in der Realpolitik ertränkt wird.

Wie kann das aussehen?

BU: Ich bin da ganz bei Ellen, wir müssen der Thinktank bleiben. Regierungsbeteiligung kann für die Stiftung nicht bedeuten, konturlos zu werden. Wir müssen nach vorne gucken, mutig sein und die Zukunftsthemen besetzen. Und zwar ohne Scheuklappen. Wir müssen also auch streitbare Positionen beziehen, andernfalls wären wir nicht mehr nötig.

EU: Aber im Moment ist unsere Hauptfrage eigentlich nicht: Was machen wir, wenn die Grünen in der Regierung sind? Sondern: Was machen wir im Schnittfeld von Politik, politischer Bildung und Gesellschaft, wenn die Grünen eine Regierungsbeteiligung anstreben? Von daher sollten wir uns auf dieses Thema konzentrieren, was ja alles andere als einfach ist.

Und, was machen Sie?

EU: In Zeiten von COVID-19 fragen wir uns: Welche Lehren ziehen wir aus dieser globalen Gesundheitskrise? Wie beeinflusst sie Wirtschaft, Demokratie und Zusammenleben? Wie verbinden wir Krisenlösungen mit dem grünen Umbau der Wirtschaft, mit der Weiterentwicklung von Demokratie, und wie trocknen wir Populismus und Rechtsautoritarismus aus? Und was sind für diese Debatten die passenden Formate, mit denen wir schon jetzt anfangen können und nicht erst, wenn sich die Lage wieder normalisiert hat, was noch lange dauern wird. Und wie schaffen wir mit unseren 16 Landesstiftungen gemeinsam Aufmerksamkeit für grüne Ideen?

BU: Wir haben ein Netzwerk von 33 Auslandsbüros. Das muss dazu führen, dass wir Perspektiven pluralisieren, dass wir andere Sichtweisen nach Deutschland und Europa bringen, dass wir zeigen, wie unterschiedlich Betroffenheit und Krisenbewältigung sein kann. Es geht darum, ob wir diese Krise demokratisch und sozial bewältigen. Die weltwirtschaftlichen Folgen werden dramatisch sein. Wir werden aufklären, Partnerinnen und Partner konkret unterstützen und – wo immer möglich – soziale und ökologische Lösungen anzubieten versuchen. Das ist auch unser Mandat.

Bekanntlich gibt es kein Wohin ohne ein Woher. Wenn Sie auf die Geschichte der Böll-Stiftung schauen: Welche Themen haben das Profil der Heinrich-Böll-Stiftung am stärksten geprägt und werden sicher erhalten bleiben?

BU: Wir sind und bleiben der Ort spannender Diskussionen. Wir stellen die unbequemen Fragen und verschränken das Ökologie- mit dem Demokratie-Thema und mit den sozialen Herausforderungen. Eine ganz große Kompetenz haben wir im Bereich Feminismus und Geschlechterdemokratie. Frauenrechte stark zu machen – dafür sind wir ein ganz wichtiger Akteur, global und in Deutschland.

EU: Die Böll-Stiftung ist ein Ort instruktiver, nach vorne weisender Debatten. Wer zu einer Veranstaltung in der Böll-Stiftung geht, kann davon ausgehen, Gesprächspartner/innen zu erleben, die man woanders nicht unbedingt trifft. Auf dieses Niveau gekommen zu sein, das ist wirklich großartig. Gleichzeitig ist die Böll-Stiftung auch der Ort, an dem sich linksliberale Intellektuelle sammeln und den viele von ihnen als ihre Heimat betrachten. Und zum Woher gehört auch der starke bürgerrechtliche Strang, den das Bündnis `90 eingebracht hat. Sich für Menschen- und Bürgerinnenrechte stark zu machen, ist ein Markenzeichen der Böll-Stiftung.

In Zeiten des demokratischen Rollbacks: Inwiefern nützt Ihnen beiden Ihre jeweilige Erfahrung des Protests der 80er für die Arbeit der Böll-Stiftung heute?

BU: Für mich ist völlig klar: Widerstand lohnt sich. Gegen Ungerechtigkeit, gegen Nepotismus, gegen Rassismus und Sexismus, gegen Korruption und eben auch gegen ökologische Zerstörung. Von daher erlebe ich Protestbewegungen von Fridays for Future oder #metoo als starken Rückenwind. Aber Protest allein reicht eben nicht; wir müssen ihn auch in formalisierte parlamentarisch-demokratische Prozesse einfließen lassen. Dafür ist eine politische Stiftung sehr gut geeignet.

EU: Für mich ist die Erfahrung des sich Einmischens entscheidend. Demokratie lebt vom aktiven Mitmachen, nicht nur vom Protest. Die DDR-Bürgerbewegung kämpfte vor allem für Grundrechte: freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Rechtstaatlichkeit. All das haben wir in den Institutionen der Bundesrepublik! Nutzen wir sie also und machen die Demokratie auf diese Weise lebendig!


Ellen Ueberschär ist seit 2017 Vorstand der Böll-Stiftung und hat zuvor elf Jahre lang den Deutschen Evangelischen Kirchentag geleitet.

Barbara Unmüßig ist seit 2002 Vorstand der Böll-Stiftung und war wissenschaftliche Mitarbeiterin der ersten Bundestagsfraktion der Grünen.

Anja Maier ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie hat den Mauerfall in Ostberlin miterlebt und ist bis heute froh darüber, wie groß die Welt seither für sie ist.

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