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Mit uns zieht die neue Zeit

Romantisch Jugendbewegte, skeptische Flakhelfer und rebellische 68er: Der Soziologe Heinz Bude erklärt, was politische Generationen im 20. Jahrhundert geformt hat. Und was im 21. Jahrhundert auf sie zukommen wird.

Die politischen Generationen des 20. Jahrhunderts waren in erster Linie Generationen des Krieges. Die des 21. Jahrhunderts werden womöglich solche von Krisen einer nicht-kriegerischen Art sein, wie sie uns die Pandemie des Coronavirus und die lebensbedrohlichen Erkrankungen durch das Virus heute vor Augen führen.

Aber beginnen wir mit dem 20. Jahrhundert. Den Aufschlag machte die «Generation von 1914» (Robert Wohl), die gegen einen herrschenden Historismus, Skeptizismus und Relativismus aufstand. Man wollte «Energie» statt «Vernunft», «Sport» statt «Bildung», «Aktion» statt «Reflexion». Wie aus heiterem Himmel brach die Geschichte des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts ab – und einer jüngeren intellektuellen Generation in ganz Europa erschien der Krieg als eine Form des Lebens. Eine grandiose Unterbrechung sollte ein ganz neues Jahrhundert begründen. Futurismus, Expressionismus und Suprematismus zielten auf den Begriff einer militanten Moderne, die sich als absolut zeitgenössisch und vollkommen international verstand.

Hier erkennt man die beiden Elemente, die seitdem den Begriff der politischen Generation bestimmen: die revolutionäre Idee der Jugend und eine Vorstellung der Endlichkeit der menschlichen Dinge – wenn man so will: ein französisches und ein deutsches Erbe. So wie die Französische Revolution im Zeichen einer neuen Generation ins Werk gesetzt wurde, die alles Recht der Welt auf einen Neuanfang besitzt, so entdeckte die deutsche Romantik hinter dem äußeren Gerüst des zeitlichen Nacheinanders das innere Erleben einer geschichtlichen Dauer. In Deutschland taucht um die Jahrhundertwende der Kombinationsausdruck «Jugendgeneration» auf, der zum Ausdruck bringt, wie Jugend und Generation zu austauschbaren Begriffen werden. «Jugend» bezeichnet das Recht zum absoluten Neuanfang, «Generation» die Geworfenheit in eine ganz und gar einmalige Situation. Weil niemand sonst die Einwirkungen und Forderungen der Jetztzeit in dieser Frische und Entschiedenheit erleben kann, kann sich die «jungen Generation» als Vorhut einer neuen Zeit fühlen.

Politische Generationen definieren sich durch eine Behauptung, die sich erstens auf ein gemeinsames Erleben der ungefähr Gleichaltrigen bezieht, die zweitens eine über lokale oder nationale Grenzen hinausgehende Resonanz erfasst und die drittens Kontroversen über Zugehörigkeiten, Prägeerfahrungen und Schlussfolgerungen provozieren will. Geburtskohorten sind deshalb noch keine Generationen. Es braucht die Bezugnahme auf ein sozialisierendes Eindrucks- und Wirkungserlebnis, aus dem sich das Empfinden einer Gemeinsamkeit der geschichtlichen Lage trotz erkennbarer Unterschiede der Klassenlage oder des nationalen Ursprungs ergibt. Man streitet unter den Jahrgangsgleichen darüber, wer für wen sprechen darf, wo sich der eigentliche Ort des Geschehens befand und vor allem welche Bilanz aus den Erfahrungen zu ziehen ist. Aber man nimmt sich als widerstrebende Generationseinheiten in einem geteilten Generationszusammenhang wahr. Wo für eine Geburtskohorte eine solche Gemeinsamkeit in der Differenz fehlt, ist keine Generation vorhanden. Wo man aber dieses Gefühl der Partizipation an einem gemeinsamen Empfinden und Reagieren zu evozieren vermag, kann es durch Unklarheiten der Jahrgangsgrenzen oder durch Zweifel an der Ereignisbeteiligung nicht widerlegt werden.

Der letztlich elitäre Enthusiasmus der «Generation von 1914» ging im Inferno des Ersten Weltkriegs zugrunde. Auf die Wirklichkeit dieses ersten modernen Volkskriegs waren die Propheten einer absoluten Modernität nicht gefasst gewesen. Wie vielleicht kein anderer wurde Ernest Hemingway, der in den 1920er-Jahren in Paris lebte, zum Porträtisten dieser «verlorenen Generation». Die hatte etwas in Gang gebracht, von dem sie schließlich überwältigt wurde. Irgendwie, notierte Hemingway dreißig Jahre nach seiner Zeit in Paris, ist jede Generation irgendwann verloren.

Der Generation der Jugendbewegung mit dem Schillerkragen und der Lebensreform folgte in der Zwischenkriegszeit eine «Generation der politischen Jugend». Die wollte keine Selbstverwirklichung, sondern Massenorganisation. Der Ausbruch aus einer schrecklichen Idylle war im Desaster eines Weltkriegs geendet, deshalb suchten die Jungen die Beteiligung an den großen Strömen der Zeit. Nicht allein Kommunismus und Faschismus, auch die internationale Gewerkschaftsbewegung und der New Deal in den USA boten einen Orientierungsrahmen für diese neue Form der politischen Leidenschaft. Entscheidend war die Abkehr von allen Formen der Hochschätzung des Ichs und seiner Identität. Ideologie war nicht Ausdruck einer Täuschung, sondern bewusstes und gewolltes Lebensziel.

Der Wechsel vom Individualisierungs- zum Kollektivierungsideal verdeutlicht, dass keine gerade Linie von Generation zu Generation verläuft. Man identifiziert sich vielmehr mit einer Generation in Abgrenzung zu vorhergehenden und nachfolgenden Generationen. Die Älteren begreifen nicht, was einen erregt und bewegt, und die Jüngeren nicht, was man errungen und durchgemacht hat. Deshalb stößt die Kommunikation zwischen den Generationen immer auf eine Grenze des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des Erlebens zu tun hat. Das historische Alter trennt die Menschen, weil man seiner Zeit nicht entgehen kann. Man kann seine Klasse durch Auf- und Abstieg verlassen. Aber das Gefühl, einer bestimmten Generation anzugehören, kann einem niemand nehmen und kriegt man nie los.

Erstaunlicherweise hatten nach 1945 nicht die Jungen, sondern die Alten ihre Chance. In Deutschland: Adenauer im Westen und der nicht ganz so alte Ulbricht im Osten. Beide waren Angehörige der Weimarer Generation, die sich das Scheitern der Weimarer Republik, die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Zusammenbruch des Deutschen Reichs als generationsspezifisches Versagen zurechnete und daraus ihre Führungsposition im Wiederaufbau ableitete. Der entscheidende Unterschied zwischen Ost und West war dann, dass die Weimarer Generation mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen aus dem Weltbürgerkrieg die Geschicke der DDR bis zum Schluss lenkte, während in der Bundesrepublik die Flakhelfer-Generation mit Martin Walser, Jürgen Habermas, Karlheinz Stockhausen, Paul Kuhn und vor allem Helmut Kohl die praktische, elastische und transparente Bundesrepublik begründete. Coolness hieß für die «letzten Helden des Führers», dass sie die Leidenschaft der Ideologie durch eine Liebe zu den Dingen, Verfahren und Fahrplänen ersetzte.

In der Bundesrepublik ging 1968 zu Ende, was 1945 begonnen hatte. Der «nachträgliche Ungehorsam» der Studentenbewegung, so der Skeptiker Odo Marquard, diente der Befreiung von Vergessenswünschen, Reparaturgesinnung und Fremdanklagen. Die um 1940 geborenen Kriegskinder kannten die Kosten des manischen Ungeschehenmachens aus ihren Familien und spürten die Verleugnungen eines verbissenen gesellschaftlichen Realitätsprinzips. So wurde Negation als legitimes Sozialisationsmodell eingeübt, was einem erlaubte, das Dagegensein als eine Form des Dabeiseins zu erleben.

Danach kamen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, für die 1968 schon Geschichte war. Die hatten mit den 68ern als Lehrern und Vorgesetzten zu tun und erkannten mit dem nötigen Abstand die blinden Flecken des Projekts der Gesellschaftskritik. Der Punk, der von der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren neue Töne im Pop anschlug, war Ausdruck eines absolut untragischen Generationsgefühls. «No Future» war die Parole für eine Haltung, die sich weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft beherrschen lassen wollte. Den Hausbesetzern in Zürich, Amsterdam und Berlin waren der «fröhliche Positivismus» Foucaults näher als der Ableitungsmarxismus der Parteiaufbau-Organisationen. Der grüne Ansatz erwies sich vor diesem Hintergrund als generationeller Kompromiss zwischen abgerüsteten Restachtundsechzigern, empörten Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegungsaktivist/innen und den unbekümmerten Rebellen des Neudenkens und Andersmachens.

Die politischen Generationen der Gegenwart wissen seit 9/11, dass das Schlimmste, was einer Gesellschaft passieren kann, nicht hinter ihnen, sondern vor ihnen liegt. Was das für Großereignisse sind und in welcher Art und Weise sie eine Gesellschaft treffen, ist heute ganz direkt und unausweichlich zu erleben. Die Post-Baby-Boomer, denen beschieden wurde, dass sie das Lebenschancenniveau ihrer Eltern als Generation nie erreichen werden, hatten sich in eine historische Beschwerdehaltung zurückgezogen. Jetzt erfahren sie ihre Bewährung: Sie tragen mit ihren schulpflichtigen Kindern nicht nur eine schwere Last aufgrund der weitgehenden Stillstellung des öffentlichen Lebens. Sie empfinden auch die Verantwortung für die kluge Politik des Wiederaufbaus, nachdem das Virus eingedämmt und ist und die Menschen sich fragen können, wie wir leben wollen.


Prof. Dr. Heinz Bude ist Leiter des Arbeitsbereichs «Die Gesellschaft der Bundesrepublik» am Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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