Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei: Es wird Zeit, sich zu erinnern

Viele US-Amerikaner/innen wissen bis heute wenig über die globalen Dimensionen der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Auch über die Folgen, welche die weltweite Kolonialpolitik auf Handel, Politik und kulturelle Wahrnehmung bis heute hat. Selten auch hört man Europäer/innen über ihre Beteiligung am amerikanischen Sklavenhandel sprechen. Im Interesse einer gemeinsamen Zukunft muss sich das ändern.

Das erlernte Wissen der meisten Amerikaner/innen über die Weltgeschichte und die Geschichte der USA tendiert stark in Richtung isolierter, episodenhafter und feierlicher Versatzstücke, welche US-amerikanische Tugenden beschwören. Dieses ungenaue und fragmentarische Verständnis globaler historischer Zusammenhänge ist der Hauptgrund für die oft spannungsreichen Begegnungen, die Amerikaner/innen erleben, wenn sie reisen und mit Menschen aus aller Welt interagieren. Dass unsere jeweiligen Geschichten häufig und umfassend missverstanden werden, macht es fast unmöglich, unsere kulturellen und politischen Gräben zu überwinden, obwohl unsere Schicksale immer stärker über Grenzen hinweg miteinander verbunden sind.

Ich bekenne mich schuldig. Die meiste Zeit meines Lebens war meine Sicht der Welt beschränkt durch eine lückenhafte Bildung und fixiert auf den amerikanischen Exzeptionalismus. Ich lernte, dass Menschen aus Europa in die USA auswanderten, um Not und Entbehrung in der Heimat zu entgehen und sich in der Neuen Welt eine bessere Existenz aufzubauen. In der Grundschule lernten wir, wie sich die Gründerväter gegen die britische Krone auflehnten und die Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen verbrieften, wodurch unser Land, erbaut auf dem Fundament demokratischer Freiheiten, für alle Welt zum ersehnten Vorbild wurde.

Die Sklaverei war zwar auch Unterrichtsstoff. Aber sie wurde beschönigt als ein nur vorübergehender – wenngleich zweieinhalb Jahrhunderte andauernder – Schandfleck. Abgeschafft wurde die Sklaverei erst, nachdem die US-Verfassung erklärt hatte, man wolle «einen vollkommeneren Bund schaffen» und die Bill of Rights «Freiheit» und «Gerechtigkeit» unter besonderen Schutz gestellt hatte. Und nicht zuletzt nach einem blutigen Bürgerkrieg. Zahlreiche empirische Details dieser Geschichte waren mir bis weit ins Erwachsenenalter gänzlich unbekannt.

Ein namhaftes Beispiel war die Rolle, welche der atlantische Dreieckshandel für die Gründung der USA spielte. Trotz guter Noten in der Schule und im Studium wusste und verstand ich nichts von dem multinationalen System, in dem europäische Nationen, Potentaten und Handelsgesellschaften davon profitierten, versklavte Afrikaner/innen in die Amerikas und westindischen Kolonien zu verkaufen, um dort Außenposten zu gründen und finanziell tragfähig zu machen.

Ich bin mir sicher, dass viele gebildete Amerikaner/innen richtiggehend schockiert wären, zu erfahren, dass Afrika lange mit Europa Handel getrieben hatte – mit Textilien, Bodenschätzen und Lebensmitteln –, und zwar Jahrhunderte, bevor deren Händler auf Land jenseits des Atlantiks stießen. Diese Handelsbeziehung war jedoch nichts im Vergleich zum unglaublichen Ausmaß und der Unmenschlichkeit der europäischen Ausbeutung und Ausplünderung Afrikas im 15. und 16. Jahrhundert, die zur Gründung des kolonialen Amerika beitrug. Historiker/innen des «National Museum of African American History and Culture» in Washington, D.C. gehen davon aus, dass bis zu 12 Millionen Menschen aus Afrika gewaltsam über den Atlantik verschleppt wurden; weitere Millionen starben während der Gefangennahme oder auf der Überfahrt. Jene, die überlebten, galten als «bewegliches Hab und nach Gut», ohne jede menschlichen Rechte oder Würde.

Der transatlantische Sklavenhandel ließ Europas Drang nach globaler Vorherrschaft und Gier nach geraubtem Reichtum wachsen. Den Anfang machten portugiesische Entdecker, die entlang der westafrikanischen Küste mit Gold und Menschen handelten. Handelsunterlagen belegen, wie diese Händler den transatlantischen Sklavenhandel einläuteten, als sie im Jahr 1444 235 Afrikaner/innen aus dem heutigen Senegal exportierten. Später, im Jahre 1564, begannen die Briten im Rahmen von John Hawkins Expeditionen, sich an diesem Geschäft zu beteiligen. Durch Habsucht und Gier der Europäer/innen wurde Afrika seiner Ressourcen und seiner Menschen beraubt. Der transatlantische Dreieckshandel trug dazu bei, dass sich eine Plantagenwirtschaft zuerst in Südamerika und der Karibik entwickelte, und schließlich in Nordamerika. Versklavte Afrikaner/innen, die mit unmenschlicher Grausamkeit behandelt wurden, waren die unbezahlten Arbeitskräfte, durch die sich gewinnbringend mit Edelmetallen, Zucker, Tabak und Baumwolle handeln ließ. Waren, die an europäische Industrielle exportiert wurden.

Die Siedlungen in Amerika waren nur ein Bruchteil der aggressiven und missbräuchlichen europäischen Kolonisierung. Noch bevor sie die Neue Welt betraten, hatten europäische Nationalstaaten und Handelsgesellschaften bereits ihre Fahnen in Asien und Afrika aufgepflanzt. Sie beanspruchten Land, welches sie «entdeckt» hatten, ohne die Rechte und die Kulturen der Menschen zu berücksichtigen, die lange vor ihnen dort gelebt hatten.

Ein Beispiel ist die koloniale Ausbeutung von Benin, wo die Briten, beinahe ein halbes Jahrhundert nachdem sie die Sklaverei im Jahr 1836 abgeschafft hatten, neue Quellen für billige Arbeitskräfte für ihre südasiatischen und afrikanischen Kolonien suchten und fanden. So brach das alte Königreich Benin, das unzählige Jahrhunderte überstanden hatte, im Jahr 1897 zusammen, nachdem britische Truppen einmarschiert und es dem Empire einverleibt hatten.

Bis vor relativ kurzer Zeit war mir dieser Teil der Geschichte unbekannt. Ich bezweifle, dass ich mit meiner Unwissenheit alleine war. Gina Abercrombie-Winstanley, eine erfahrene Schwarze US-amerikanische Diplomatin, erzählte mir, als ich sie kürzlich interviewte, erst in einem Seminar an der Uni habe sie erfahren, dass Europa die Sklaverei in den USA und anderswo finanzierte. «Erst als ich Internationale Beziehungen an der Universität studierte, habe ich davon gehört», sagte sie, «und selbst dann beschränkte sich der Lernstoff weitgehend auf die Gräueltaten der Belgier im Kongo».

Die ganz überwiegende Mehrheit der US-Amerikaner/innen weiß wenig über die globalen Dimensionen der Sklaverei in den Vereinigten Staaten oder über die Folgen, welche die weltweite Kolonialpolitik auf Handel, Politik und kulturelle Wahrnehmung noch heute hat. Der Mangel an historischem Wissen trägt dazu bei, dass viele Amerikaner/innen die Herausforderungen der Menschen und Länder in anderen Teilen der Welt missverstehen, und folglich nicht in der Lage sind, Einvernehmen darüber herzustellen, wie ihnen zu begegnen sei.

Gina Abercrombie-Winstanley wurde später von Barack Obama zur Botschafterin der USA in Malta ernannt. Sie weist darauf hin, dass ihr erst durch ihre Arbeit als Diplomatin bewusst wurde, dass historisches Unwissen keine geographischen Grenzen kennt. Europäer/innen, sagte sie mir, scheinen ebenso wenig zu wissen, wie der atlantische Dreieckshandel den Verlauf der Weltgeschichte geprägt hat: «Wenn sie merken, wie ignorant wir [Amerikaner/innen] sind, atmen sie leise auf, und sie profitieren dann weiter davon, dass sie scheinbar nichts mit unseren schwierigen Beziehungen zu ihnen zu tun haben. Niemals habe ich erlebt, dass ein Europäer die eigene Beteiligung am amerikanischen Sklavenhandel angesprochen hat. Nie.»

Ein Hoffnungsschimmer, dass sich dieser gemeinsame Mangel an Bewusstsein und Einfühlungsvermögen überwinden lässt, ist Alan Rices wegweisende Forschung und Erinnerungsarbeit zum «Black Atlantic» an der Universität von Central Lancashire in Preston in Großbritannien. Rice arbeitet mit Museen und lokalen Organisationen auf beiden Seiten des Atlantiks zusammen, um Aufmerksamkeit auf diesen Teil der Geschichte zu richten und zu verhindern, dass die europäische Mitverantwortung für das Erbe der Sklaverei in Vergessenheit gerät. Mit seinem bemerkenswerten Buch «Creating Memorials, Building Identities: The Politics of Memory in the Black Atlantic» bietet Rice interessierten Weltbürgerinnen und -bürgern auf beiden Seiten des Atlantiks die Möglichkeit, zu lernen und darüber zu diskutieren, wie das Vermächtnis der Sklaverei aus dem öffentlichen Raum und aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt wurde.

Diese Arbeit ist nicht einfach. Aber sie ist notwendig, denn wir leben in einer zunehmend voneinander abhängigen und miteinander verbundenen globalen Gesellschaft. Im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft sollten wir alle versuchen, jene Klüfte zu überwinden, die von der quälenden Erinnerung an den internationalen Sklavenhandel und den nach wie vor spürbaren Folgen herrühren, die dieser in unseren miteinander verbundenen Nationalgeschichten hinterlassen hat.


Sam Fulwood III ist Senior Fellow am Center for American Progress in Washington, DC. Er ist unter anderem Gründer des dortigen Leadership Institute, eines Programms zur Förderung von People of Color in öffentlichen Institutionen, und war mehrere Jahrzehnte als Journalist tätig.

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