Peter Unfried: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zwingt zur Neujustierung von politischer Verantwortung in der Bundesrepublik. Der europäische Soziologe Ivan Krastev sagt, Europa müsse nun endlich aus seiner „romantischen Phase“ raus, nachdem man nach 1989 noch dachte, nur die anderen müssten sich ändern. Wie sehen Sie's?
Melis Sekmen (MS): Der Überfall Putins auf die Ukraine hat uns eindeutig vor Augen geführt, dass Demokratie und Menschenrechte in souveränen Staaten nicht selbstverständlich sind. Ich würde allerdings auch sagen, dass die Grünen keinen verklärenden Blick Richtung Russland hatten, sondern wir uns hier außenpolitisch immer klar positioniert haben. Eine langfristige neue Strategie im Umgang mit Autokratien ist nur im Rahmen unserer Partner in der EU, der G7 und der NATO möglich.
Anna Kassautzki (AK): Ich finde den Ausdruck der „Zeitenwende“, den Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung genutzt hat, sehr treffend. Putin und das Leid, das er mit seiner Armee in der Ukraine verursacht, zwingen uns, umzudenken und Bündnisse neu zu beleben, um unsere Freiheit und Demokratie verteidigen zu können. Im Übrigen würde ich der These der „romantischen Phase“ widersprechen wollen. Wir haben uns in Europa mit der Erinnerung von zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg im Nacken darauf geeinigt, Konflikte, wo möglich, friedlich und durch diplomatische Gespräche zu lösen. Von diesem Weg möchte ich nicht abweichen, außer wir werden – wie im aktuellen Fall – dazu gezwungen. Waffen bringen keinen Frieden, und ich für meinen Teil habe die Hoffnung auf eine bessere Welt noch nicht aufgegeben.
Jens Teutrine (JT): Unsere Generation konnte sich glücklich schätzen, dass wir Europa nur als Ort des Friedens kennengelernt haben. Nun ist der Krieg aber endgültig zurück in Europa. Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend auf ein solches Szenario vorbereitet, nicht entschlossen genug gehandelt haben und falsche Prioritäten gesetzt wurden. Wir haben uns in einer politischen Komfortzone eingemottet. Unser Staat ist in zentralen Aufgaben nicht handlungsfähig. Klingt hart, aber ist leider so. Das muss sich nun ändern. Wir müssen große Schritte hin zu mehr Unabhängigkeit in der Energieversorgung machen. Auch das Sondervermögen für die Bundeswehr, die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO und die Waffenlieferungen in die Ukraine sind wichtige erste Maßnahmen für ein Umdenken. Sie müssen aber natürlich verbunden sein mit weiteren Reformen – beispielsweise muss das bürokratische Beschaffungswesen der Bundeswehr dringend überarbeitet werden. Statt uns in Wohlfühlthemen zu verlieren, müssen wir wieder mehr über die Brot-und-Butter-Themen diskutieren. Das ist auch eine Erwartungshaltung unserer osteuropäischen Partner.
Das 21. Jahrhundert ist zu einem Fünftel schon vorbei, vieles ist politisch liegengeblieben, was gerade Ihre Zukunft als Unter-Dreißigjährige betrifft. Waren Angela Merkel und ihre 17 Regierungsjahre gut für die deutsche Gesellschaft oder schlecht?
MS: Ich finde, dass sie eine starke Frau ist, vor der ich große Achtung habe. Gerade für uns junge Frauen hat sie eine wichtige Vorbildrolle. Die Aufgaben, die sie hatte, waren keine einfachen, und sie hat es aber immer wieder geschafft, ihre Haltung klar darzulegen, auch wenn ihre Partei nicht immer auf ihrer Seite war. Auf der anderen Seite hätte ich mir gewünscht, dass sie klarer und entschlossener gewesen wäre, zum Beispiel, wenn es um die Gleichberechtigung der Geschlechter ging, wenn es um die Bekämpfung des Klimawandels ging. Die Folgen dessen bekommen wir jetzt zu spüren. Nichtsdestotrotz können wir froh sein, dass wir sie als eine Kanzlerin hatten, die ihre Bodenständigkeit nicht verloren hat.
Summa summarum war Merkel eine sozialdemokratische Kanzlerin in einer sozialdemokratischen Zeit. Oder, Frau Kassautzki?
AK: Sie hat in vielen Punkten nicht so ganz zu ihrer Partei gepasst, sie war eine ganze Ecke sozialer als die Union, aber sie war sicher keine sozialdemokratische Kanzlerin.
Was denn sonst?
AK: Ich fand das bezeichnend, dass sie mal in Harvard einen Ehrendoktortitel bekommen hat für so Sachen wie die Einführung des Mindestlohns, die Ehe für alle und weitere Projekte, die alle aus unserer Partei kamen und die die SPD-Fraktion gegen die Unionsfraktion hatte durchboxen müssen.
Herr Teutrine, was sagen Sie als Einziger aus einer nicht sozialdemokratisch geprägten Partei?
JT: Angela Merkel war bekanntlich kein Mitglied der SPD, aber sicherlich eine machtbewusste Kanzlerin, die wusste, dass man Modernisierungstendenzen in der Gesellschaft politisch aufgreifen muss oder zumindest angesichts der Mehrheiten nicht mehr drum herumkommt. Das hat sie gemacht, aber immer auf den letzten Drücker, auch um parteiinterne Diskurse aus dem Weg zu räumen. Bei aller Anerkennung wünsche ich mir gerade als junger Abgeordneter, dass wir uns wieder mehr politischen Diskurs zutrauen.
Die Annahme ist, dass Merkel ja auch deshalb so war, wie sie war, weil sie der Gesellschaft nicht viel zugetraut hat – und damit richtig lag. Mit genau dieser Herangehensweise ist Scholz Kanzler geworden: Kein Stress, Leute, geht alles schön weiter. Nicht die Klimakrise, sondern der Krieg in der Ukraine hat das endgültig ad absurdum geführt. Es wird härter, und wir selbst müssen mehr geben und mehr aushalten. Oder widersprechen Sie?
AK: Da möchte ich klar widersprechen – zumindest dem Part mit Olafs Herangehensweise. Wir werden die Krisen der Gegenwart und der Zukunft nicht lösen, indem wir uns zurücklehnen, und dass wir als Gesellschaft mehr geben müssen, erleben wir aktuell schon. Die Koalition hat deswegen zwei Unterstützungspakete auf den Weg gebracht, um die größten Spitzen einzufangen. Wir müssen uns nichts vormachen: Am härtesten trifft es gerade die Menschen, die auf dem Land leben, die weite Pendelstrecken zur Arbeit, kein ÖPNV in der Nähe und geringes Einkommen haben – die können nicht mal die Pendlerpauschale vorstrecken und haben keine Alternative zum PKW. Die Härten dieser Krisen federn wir unter anderen durch faire Löhne und sozialen Ausgleich ab – deswegen gibt’s den Mindestlohn von 12 Euro auch bereits ab Oktober. Olaf Scholz hat die Wahl also nicht gewonnen, weil er gesagt hat: Ich mache alles so weiter, wie es jetzt schon ist.
Sondern?
Er hat gewonnen mit dem Anspruch, den überfälligen Fortschritt umzusetzen, den wir im Programm schon hatten, der aber in der vorherigen Koalition schlicht und ergreifend nicht möglich war. Ich war selbst an den Koalitionsverhandlungen im Bund nicht beteiligt, aber nach dem, was ich erfahren habe, waren alle ziemlich begeistert davon, dass man einen Koalitionsvertrag gemacht hat mit Projekten, die man mit den Koalitionspartnern durchsetzen möchte und nicht trotz der Koalitionspartner. Das ist ein zentraler Unterschied.
Wie wirken sich die vielen jungen Abgeordneten in den Fraktionen aus?
AK: Ich war vor der Wahl noch nicht in der Fraktion, aber nach den Beschreibungen, die ich bekomme, merkt man durchaus, dass viele junge Neue dabei sind, die sagen: Hey, wir wollen mitmachen, wir sind nicht nur hier, um Sachen abzunicken, wir wollen auch mitentscheiden.
MS: Es ist für mich eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, jetzt diese Transformation mitgestalten zu können, weil ich ganz genau weiß: Wenn es in die Hose geht, dann sind mit einem Schlag, beispielsweise in Mannheim, mehrere tausend Arbeitsplätze weg. Und dieses verantwortungsbewusste und auch konkrete Handeln erfordert aber, dass wir die Menschen mitnehmen. Allein dieser Begriff Transformation schreckt viele ab. Deshalb müssen wir auch an unserer Sprache arbeiten, Politik nahbarer gestalten und die Leute an den Gewinnen dieser Transformation beteiligen. Und das ist die große Frage: Wie nehme ich die Benz-Arbeiter am Band, zu denen auch mein Vater gehört, mit bei dieser Transformation? Wie nehme ich aber auch die Gründerinnen und Gründer mit, die Innovationen vorantreiben? Das ist unsere Aufgabe, und das ist, finde ich, im Koalitionsvertrag als Kompass sehr gut beschrieben. Wie wir das umsetzen, daran werden uns die Leute auch messen.
Sie sagen völlig zu Recht, dass Politik anders werden und sprechen muss, gleichzeitig gebrauchen Sie, Frau Sekmen, die patriarchale Politikerfloskel vom „Menschen mitnehmen“. Ich möchte nicht mitgenommen, sondern ernst genommen werden.
MS: Es geht darum, „diese Floskel“– wie Sie es beschreiben –, also das „Mitnehmen“ konkret umzusetzen. Ich habe acht Jahre lang Kommunalpolitik gemacht. Ich weiß, wie aus Ideen konkrete Politik wird, das heißt auch Politik auf der Straße. Da lernt man unterschiedlichste Lebensrealitäten kennen und lernt auch, eine Sprache anzuwenden, die verständlich ist und nicht nur aus Parteisprech besteht. Ich kann jemanden nur ernst nehmen, wenn ich die Person verstehe und mich von ihr wertgeschätzt fühle. Hier in Baden-Württemberg haben wir mit Winfried Kretschmann die Politik des Gehörtwerdens etabliert. Ich habe auch in Mannheim Bürgerbeteiligung entwickelt. Die Kunst wird jetzt darin liegen, bundespolitische Entscheidungen auch in den Lebensalltag der Menschen zu übersetzen und richtig zu kommunizieren.
Herr Teutrine, wenn man sich das Wahlverhalten der Leute unter 30 anschaut, dann sind hier die Ex-Volksparteien schon marginalisiert und der neue Wettbewerb spielt sich zwischen Grünen und FDP ab. Was passiert da?
JT: Der Bundestagswahlkampf hat das Verhältnis von FDP und Grünen zu den ehemaligen Volksparteien neu justiert. In dem neuen, ausdifferenzierten Parteiensystem sind die einen jetzt kleinere Mittelgroße, die anderen größere Mittelgroße. Das Neue ist aber auch, dass innerhalb kürzester Zeit nach unten und oben viel möglich ist, wie wir bei den Grünen und bei Olaf Scholz gesehen haben, der ja bei seiner Nominierung noch ausgelacht wurde. Diese Volatilität der Wählergruppe betrifft vor allem auch Jung- und Erstwähler, die nicht mehr feste Bindungen zu Parteien haben. Und da frage ich mich jetzt als junger Abgeordneter und ehemaliger Vorsitzender unserer Jugendorganisation: Wie können wir den großen Zuspruch jetzt verfestigen, den wir bei Jung- und Erstwählern erlebt haben? Wie können wir diese jungen Menschen zu Stammwählern machen?
Die letzten 50 Jahre waren aus meiner Sicht das Zeitalter des fossilen Sozialdemokratismus, darunter verstehe ich im Grunde die Regierungspolitik aller liberaldemokratischen Parteien und Koalitionen. Das Zeitalter ist vorbei. Was haben Sie Neues anzubieten?
JT: Rechnen Sie die FDP auch zu Ihrem Sozialdemokratismus?
Die FDP war in den letzten Jahren die einzige Partei, die eine Alternative zum Sozialdemokratismus anzubieten schien. Das wurde in den linksliberalen und grünen Milieus als Asozialdemokratie interpretiert. Wenn nun aber die FDP bei den Jungen mit den Grünen um die Führung konkurriert, dann werden die ja von etwas angezogen. Was ist das?
AK: Zunächst möchte ich das Ende der Sozialdemokratie dementieren.
Notiert.
Wir brauchen eine liberale Perspektive, eine ökologische, eine sozialdemokratische. Die Zukunft der Politik besteht darin, das zusammenzubekommen.
AK: Wir sollten nicht mehr über bestimmte Lager oder Stereotypen sprechen, sondern darüber, welche Perspektiven wir brauchen. Wir brauchen eine liberale Perspektive, eine ökologische, eine sozialdemokratische. Die Zukunft der Politik besteht darin, das zusammenzubekommen. Diesen Anspruch hat die neue Generation ausgedrückt mit ihrem Wahlverhalten, und das kriegt die Ampel bisher ganz gut eingelöst.
JT: Ich widerspreche erst mal der Analyse zu meiner Partei: Natürlich haben wir auch ein soziales Profil. Warum die Grünen und die FDP besonders gut bei Jüngeren abgeschnitten haben, liegt unter anderem auch an der Wahlkampfführung. Olaf Scholz und die SPD haben konkrete Themen aus dem Profil der sozialen Gerechtigkeit aufs Wahlplakat geschrieben: Mindestlohnerhöhung und stabile Rente. Die Grünen haben ihre tiefsten Grundüberzeugungen aufs Plakat geschrieben, wenn es um Klima oder um Kinderarmut ging. Und wir haben auch unseren Grundwert Freiheit auf das Plakat geschrieben, dazu Innovationsfreude, das meint unser marktwirtschaftliches Profil. Und wir haben große Reformwünsche formuliert, etwa die kapitalgedeckte Aktienrente.
Worauf wollen Sie hinaus, Herr Teutrine?
JT: Beide Strategien waren erfolgreich, aber die der SPD mit dem „Sicherheit im Wandel“-Versprechen bei einer tendenziell älteren Bevölkerung. Aber es gibt eben auch ein Milieu von Jungen, die sich auf Veränderung freuen und sehr positiv darauf blicken. Die machen sich weniger Sorgen um die eigene Transformation und mehr um das große Ganze, die denken besonders langfristig und in großen gesellschaftlichen Linien, das kann man in der Shell-Jugendstudie nachlesen. Bei FDP und Grünen ging es mehr um die Grundsatzfragen der Politik als um kleinteilige Wahlversprechen. Das ist meine Analyse, warum die Jung- und Erstwähler besonders auf Grüne und FDP abgefahren sind, um jetzt kein Politikersprech mehr zu verwenden. Das könnte zum Aussterben der Sozialdemokratie führen, wenn man nicht bereit ist, auch im Großen zu denken.
AK: Ich glaube nicht, dass die Zeit der Sozialdemokratie zu Ende ist.
Das hätte mich jetzt auch gewundert.
AK: Das versucht man schon ziemlich lange herbeizureden. Ja, wir hatten ein Tief zwischendurch und ich glaube, dass viele Leute enttäuscht waren, dass die SPD wieder in die Große Koalition gegangen ist. Ich habe damals auch dagegen gestimmt. Aber es war eben so, dass jemand anders meinte, lieber nicht regieren zu wollen. Und da hat die SPD dann gesagt: Es geht nicht nur um Befindlichkeiten unserer Partei, es geht darum, in so einer Zeit auch Stabilität hineinzubringen. Ich bin aber froh, dass wir nicht mehr in einer großen Koalition sind. Und ich bin auch sehr froh, dass wir jetzt in der Ampelkoalition sind. Ich habe schon gesagt: Wir wollen viel voranbringen. Was den Menschen teilweise auch fehlt und vor allem bei uns im Osten: Wir brauchen ein neues Klassenbewusstsein im Osten.
Was meinen Sie mit „Klassenbewustsein“?
Das ist eine Frage des Respekts. Der größte Teil meines Wahlkreises ist der Landkreis Vorpommern-Rügen. Dort sind ungefähr 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen im Niedriglohnsektor beschäftigt – das machen sie ja nicht, weil sie gerne schlecht bezahlt werden, sondern weil sie keine Alternativen haben. Die Menschen müssen wieder lernen, für sich und ihre Interessen einzutreten. Viele Unternehmen sind lange mit einer Friss-oder-stirb-Mentalität an den Osten rangegangen: Entweder die Leute akzeptieren Löhne und Arbeitsbedingungen oder sie fliegen raus. So kann und darf das aber nicht laufen. Wir haben konkrete Sachen auf unsere Wahlplakate geschrieben wie den Mindestlohn. Weil die Leute wissen wollen: Was bringt das für uns? Sie glauben gar nicht, wie vielen Menschen allein in Mecklenburg-Vorpommern diese 12 Euro Mindestlohn massiv helfen werden. Nichtsdestotrotz wurde ich im Wahlkampf sehr wohl auf Hartz IV angesprochen und auf Dinge, die die SPD in den vergangenen Jahren aus deren Perspektive und teilweise auch aus meiner falsch gemacht hat. Wir haben im Osten ziemlich viele von diesen Direktmandaten geholt und Mecklenburg-Vorpommern und auch Brandenburg komplett. Das waren in Mecklenburg-Vorpommern vorher immer CDU-Direktmandate. Das heißt: Die Leute wollten eine Veränderung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, die sowohl den Wandel im Bereich der Digitalisierung als auch die sozialökologische Transformation integriert. Das geht ja nicht an den Leuten vorbei, wenn die Heringe in der Ostsee sterben und man abgehängt ist, weil man nicht ins Internet kommt. Da muss die öffentliche Hand mit öffentlichen Geldern einsteigen, und das ist eine der ganz wichtigen Aufgaben der Sozialdemokratie.
JT: Die Jusos, die jetzt im Deutschen Bundestag sind, die können sich alle bei Olaf Scholz bedanken für seine seriöse Regierungsarbeit und für seinen Mitte-Kurs.
AK: Das ist jetzt ironisch – oder?
JT: Nein, viele Jusos sind jetzt im Bundestag, weil Scholz eben nicht den Kühnert-Kurs gefahren hat, weil er nicht über Enteignungen gesprochen hat, nicht viel über eine Vermögenssteuer und ganz wenig über Rot-rot-Grün und linke Mehrheiten: Sein strategisches Ziel war eine Ampel. Der Wahlsieg der SPD wurde erzielt, indem Olaf Scholz den Politikstil von Angela Merkel verkörpert hat und mit dieser Strategie im direkten Vergleich zu Armin Laschet und der CDU punkten konnte.
Worüber Sie alle gar nicht reden: dass Scholz auch gewonnen hat, weil Merkel-Mitte-Wähler nicht die Grüne Annalena Baerbock wählen wollten. Ist das ein Tabu?
JT: Da sind sicher in der Wahlkampfführung Patzer entstanden, die handwerklich vielleicht nicht sinnvoll waren und zum Vorwurf fehlender Kompetenz geführt haben. Ich glaube, dass sie den einen oder anderen Kritiker, den sie im Wahlkampf hatte, mittlerweile mit ihrer Performance als Außenministerin vom Gegenteil überzeugt.
MS: Dazu vielleicht noch: Gegen die Grünen wurde im Wahlkampf eine massive Kampagne gefahren, ich habe als junge Frau meinen Teil abbekommen. Das kenne ich aus anderen Wahlkämpfen so nicht. Bei Annalena Baerbock war das nochmal ein ganz anderes Level. Das war richtig heftig, und man hat gemerkt, dass eine Strategie dahintersteckte, die Grünen als Feindbild hochzuziehen.
Frau Sekmen, ist es ironisch, dass die Grünen jetzt eine Law-and-Order-Partei sein müssen, um den politischen Rahmen so hinzubekommen, dass er den Markt mit Regulierung, Verboten, Innovation und Investition in eine sozialökologische Richtung schiebt?
JT: Warum ironisch? Natürlich sind die Grünen eine Law-and-Order-Partei.
MS: Das sehe ich nicht so. Ein guter Klimaschutz braucht den richtigen Ordnungsrahmen in Kombination mit wirkungsvollen Anreizen. Der CO2-Preis zum Beispiel ist ein Marktinstrument – natürlich mit Lenkungswirkung, aber das ist bei anderen Sachen auch so. Leider haben wir dafür ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gebraucht, das uns jetzt zum Schutz unserer Freiheit zum ökologischen Handeln verpflichtet. Und das machen wir. Also genug gebabbelt, jetzt wird weiter g’schafft, würden wir in Mannheim sagen.
Melis Sekmen, seit 2021 MdB Die Grünen, Jahrgang 1993, zuvor Fraktionsvorsitzende im Mannheimer Gemeinderat. Kommt aus dem Mannheimer Arbeiterstadtteil Waldhof.
Anna Kassautzki, seit 2021 MdB SPD, Jahrgang 1993, zuvor Mitarbeiterin eines Landtagsabgeordneten. Aufgewachsen bei Alsfeld in Hessen. Direkt gewählt im Wahlkreis Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald.
Jens Teutrine, seit 2021 MdB FDP, Jahrgang 1993, kommt aus Bielefeld, zuvor Juli-Vorsitzender. Sohn einer alleinerziehenden Putzfrau.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Chefredakteur von taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik. Er kommt aus Baden-Württemberg und steht dazu.