Ein Stück von mir

In Care-Berufen ist die Übernahme von Verantwortung eine Selbst­verständlichkeit. Sechs Frauen erzählen, was das für sie bedeutet. Und warum im Alltag immer noch mehr möglich ist.

Ute Spiegel

Jahrgang 1968, ist Krankenschwester in den DRK Kliniken Berlin Westend. Seit April 2020 arbeitet sie auf der Intensivstation.

Ute Spiegel

Ihre Verantwortung als Krankenschwester ist für Ute Spiegel allgegenwärtig. Vor allem aber, wenn mal etwas schiefgeht: „Wenn man einen Fehler in seiner Arbeit bemerkt oder beinahe einen Fehler macht, dann wird einem bewusst, wie viel Verantwortung man trägt. Es kommt ja auch sehr viel Routine in diesem Beruf, wenn man Sachen schon hundertmal gemacht hat. Wenn man da nicht aufpasst und seine Gedanken nicht beisammen hat, trotz all dem Stress, kann das böse enden.“ Am Anfang der Pandemie war Ute Spiegel, wie alle anderen Menschen, verunsichert. Gerade deshalb entschied sie sich, auf die Intensiv­station zu wechseln, die zu diesem Zeitpunkt dringend Personal benötigte: „Auch um selber einschätzen zu können, wie dieses Krankheitsbild aussieht. Wie kann man sich selbst schützen? Mich hat das wahnsinnig interessiert, Input zu haben, auf den man sich verlassen kann, und nicht irgendwelchen Meldungen ausgesetzt zu sein, die man nicht nachvollziehen kann.“


Anja Ley

Jahrgang 1983, ist seit 2019 Einrichtungsleitung der Pro Seniore Residenz Am See in Joachimsthal, Brandenburg.

Anja Ley

Nach ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin hat Anja Ley schnell gemerkt, dass sie etwas anderes machen möchte: „In der Altenpflege habe ich für mich einen höheren Anspruch gesehen. In der Klinik arbeitet man immer mit einem Arzt oder einem Intensivteam zusammen. Das hat man in der Altenhilfe ja nicht, man ist wesentlich selbstständiger und hat auch mehr Verantwortung.“ Während der Pandemie alle sozialen Kontakte zu meiden, war für sie anfangs zwar schwierig, aber selbstverständlich. „Ich will niemals das Gefühl haben, dafür verantwortlich zu sein, dass sich jemand anderes ansteckt und einen schlimmen Verlauf hat.“ Die Zeit des Lockdowns hatte für Anja Ley auch positive Seiten: „Man hat viel mehr Zeit investiert, aber auch genossen. Denn so viel Dankbarkeit wie von den Menschen in den Pflegeheimen bekommt man sonst nicht.“

 

 


Mai Thy Phan-Nguyen

Jahrgang 1976, ist Ärztin in der Praxis Wünsche für innere Medizin und Infektiologie in Berlin-Charlottenburg, welche auch eine hausärztliche Versorgung anbietet. Sie wurde in Vietnam geboren und kam mit drei Jahren nach Deutschland.

Mai Thy Phan Nguyen

„Mit Beginn der Pandemie wurde mir meine Verantwortung als Ärztin noch mal viel deutlicher bewusst“, sagt Mai Thy Phan-Nguyen. Als eine der wenigen vietnamesischsprachigen Ärztinnen in Berlin erlebte sie einen Ansturm an Patient*innen. Über eine Stunde fuhren viele Menschen aus dem Bezirk Lichtenberg, wo ein großer Teil der vietnamesischen Community lebt, in die Praxis Wünsche am Kurfürstendamm. Schnell wurde klar, dass sie stattdessen vor Ort tätig werden muss. In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt Lichtenberg führte die Praxis mit Mai Thy Phan-Nguyen Tests und später auch Impfungen für vietnamesischstämmige Menschen durch. Die Situation in Lichtenberg zeigte aber auch einmal mehr, wie sehr die Pandemie ein Schlaglicht auf die tatsachlichen Verhältnisse im Gesundheitswesen wirft: „Es war doch erstaunlich, wie schlecht die Menschen teilweise medizinisch versorgt sind. Wir haben festgestellt, dass einige hier seit 30 Jahren leben und noch nie beim Arzt waren.“ Das Team vom Kurfürstendamm will demnächst eine Praxis in Lichtenberg eröffnen.


Dr. Dipl.-Psych. Lea Gutz

Jahrgang 1982, ist Psychothera­peutin für kognitive Verhaltens­therapie. Sie ist Mitglied der Deutschen Psychotherapeutenvereini­gung und sitzt im Vorstand der Psycho­therapeutenkammer Berlin.

Lea Lutz

„Ich fühle mich bei jedem Patienten, jeder Patientin, von Therapiebeginn an dafür verantwortlich, das Beste von mir aus dafür zu tun, dass ihm oder ihr geholfen wird“, sagt Dr. Lea Gutz. Dazu gehört für sie auch, für sich selbst zu sorgen. „Man muss lernen, dass nach der Arbeit Feierabend ist. Wenn ich abends noch fünf Stunden darüber nachdenke, ist keinem geholfen. Dann bin ich am nächsten Tag nicht ausreichend fit für die Therapien. Die Verantwortung in dem Beruf besteht auch darin, auf sich selbst zu achten.“ Bedingt durch die Pandemie ist der Bedarf an psychologischer Unterstützung gestiegen. Auch Dr. Gutz erhält unzählige Anfragen von Menschen, die keinen Therapieplatz finden. Das ist für sie sehr frustrierend. „Auch gesamtwirtschaftlich ist es sinnvoll, Psychotherapie frühzeitig zur Verfügung zu stellen. Psychische Störungen sind der häufigste Grund für Frühberentung und der zweithäufigste für Arbeitsunfähigkeitstage. Wenn die Patient*innen nicht rechtzeitig eine Behandlung bekommen, dann ist die Chronifizierungsgefahr viel höher. Da tragen wir auch als Gesamtgesellschaft eine Verantwortung, insbesondere die Politik und die Versicherungsträger.“


Dena Rostamzadeh

Jahrgang 1981, ist Apothekerin. Seit 2018 ist sie Inhaberin der Marien-Apotheke in Berlin-Lankwitz.

Dena Rostamzadeh

„Wir haben hauptsächlich Stammkunden, das sind vor allem ältere Menschen. Verantwortung bedeutet für mich, für diese Menschen da zu sein. Nicht nur, weil ich etwas verkaufen möchte, sondern weil ich eine Bezugsperson für diese Menschen bin“, sagt Dena Rostamzadeh. Das galt besonders am Anfang der Coronapandemie: „Wir hatten viele Menschen hier, die gar nichts aus der Apotheke haben wollten. Die sind nur zu uns gekommen, um nach unserer Meinung zu fragen.“ Eine neue Aufgabe für die Apotheke besteht seit einiger Zeit auch darin, Impfzertifikate auszustellen. „Die große Verantwortung dabei ist zu prüfen, ob diese Person tatsächlich geimpft wurde oder nicht.“ Um das festzustellen, recherchiert Dena Rostamzadeh auch mal im Internet nach oder telefoniert von Praxis zu Praxis. „Für mich war es wichtig, die Kunden, bei denen ein Verdacht auf Fälschung bestand, nicht einfach wegzuschicken. Ich habe meinen Mitarbeitern gesagt, wir müssen die rausfischen, wir müssen das melden. Einmal habe ich auch die Polizei gerufen.“


Vanessa Neroch

Jahrgang 1982, ist Zahnärztin. Seit 2018 betreibt sie die Zahnarztpraxis mit Herz in Berlin-Moabit.

Verantwortung bedeutet für Zahnärztin Vanessa Neroch nicht nur die Mundgesundheit ihrer Patient*innen zu verbessern, sondern auch in der Praxis möglichst wenig Müll zu produzieren: „Was bei uns sehr schwierig ist, denn wir bekommen immer höhere Hygieneanforderungen und sollen möglichst auf Einwegartikel setzen. Aber wir versuchen mit ganz kleinen Schritten, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf Ressourcen zu setzen, die weniger umweltbelastend sind.“ So stellt Vanessa Neroch etwa Bambuszahnbürsten für ihre Patient*innen bereit und nutzt Utensilien aus Glas, die wiederverwendet werden können. Besonders intensiv widmet sie sich Angstpatient*innen und Kindern. Durch die Pandemie wurde ihre Arbeit jedoch erschwert. „Vor der Pandemie habe ich alle Gespräche ohne Mundschutz geführt, weil Sie so eine ganz andere Verbindung zum Patienten aufbauen können. Der sieht Sie lächeln. Der sieht Sie als Mensch. Mit dem FFP2-Mundschutz, der alles verdeckt, ist es gerade bei Kindern und Angstpatienten ganz schwierig, eine Verbindung aufzubauen.“ Inzwischen kann Vanessa Neroch zumindest Erstgespräche mit Angstpatient*innen wieder ohne Maske führen, dafür mit Abstand und offener Balkontür.


Christina Focken studiert Global Studies in Berlin. Ihren Bachelor absolvierte sie in Regionalstudien Asien/Afrika und Gender Studies. Journalistisch und akademisch beschäftigt sie sich unter anderem mit den Themen Feminismus und Geschlecht.

Lena Giovanazzi lebt als Fotografin in Berlin und Freiburg. Sie arbeitet für nationale (u.a. Zeit und Süddeutsche) und internationale Publikationen. 

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