Die Grauzone zwischen Hauseingang und Fußgängerzone

Böll.Thema Verantwortung: Illustration einer Pflanze mit "zu verschenken" Schild

Ein Bügelbrett, das sich nicht mehr einklappen lässt, ein Fernseher, angeblich „voll funktionstüchtig“, der erst mal minutenlang die Programme sucht, oder die "zu verschenken"-Kiste mit Reiseführern aus den Siebzigern: Oft haben Dinge, die an der Straße stehen, einen Haken oder landen dort nur, weil jemand sie loswerden will. Manchmal aber auch, weil jemand einfach etwas hergeben möchte.

Für den französischen Ethnologen Marcel Mauss war le don (dt. „die Gabe“) ein allumfassendes soziales Phänomen, das die Mitglieder einer Gesellschaft verbindet. Wird man mit anderen Menschen über ihren Hausrat liiert, weckt das tatsächlich Emotionen. Wo hat der alte Korbstuhl gestanden, wer saß darin, welche Geschichte hatte er? Wer, wie ich, in den Bann eines aufblühenden mikrolokalen Tauschsystems geraten ist, entdeckt vieles, vieles Wundersame, auch vieles Brauchbare. Und steht dann mit beiden Beinen in einer Welt voller kleiner Entdeckungen und Entscheidungen. Mitnehmen, reparieren, weiterverschenken …? Gaben verbinden. Geschenkt.

Viele allerdings sehen darin mittlerweile einen Auswuchs von Bequemlichkeit, Egoismus, ja Verantwortungslosigkeit und rufen sicherheitshalber gleich die Stadtreinigung, damit sie das Häufchen Gerümpel, das schlimmstenfalls auch noch Nachahmer:innen findet, vor der Tür entfernt. Und ja: Spätestens seit der Pandemie, in der sich viele auf die Einrichtung ihrer Wohnungen und Häuser gestürzt haben, mag man kaum noch an die Kunst der Gabe glauben. Kein Recyclinghof, kein Umsonstladen und keine Tauschbox ist offenbar so niedrigschwellig wie die gefühlte Grauzone zwischen Hauseingang und Fußgängerweg. Natürlich darf man fragen: Was ist verkehrt daran, einem Becher mit Prilblumen oder dem Ableger einer Pflanze, die einem über den Kopf wächst, auf diese Weise noch eine Chance zu geben? Wo hört die Gabe auf? Wo fängt die Verantwortung an – zum Beispiel für den eigenen Müll?

Für mich verläuft die Grenze da, wo man beim Rausstellen eben nicht mehr an die anderen denkt und seinen Unrat einfach stehen lässt, insgeheim wissend, dass er kaum noch jemanden erfreuen oder nützen kann. Eine Regel könnte sein, ausrangierte Sachen mit einer kleinen Widmung zu versehen, um anderen seine Absicht zu erklären und sie auch für sich selbst zu prüfen. Warum brauche ich es nicht mehr? Was könnten andere damit anfangen? Sozusagen frei nach Marie Condo „Does it spark joy?“. Und so die Kunst der Gabe zu retten.

Viele der aus Abstellräumen, Dachböden und Kellern hervorgezogenen Sammelsurien sind auch kleine Mahnmale. Mahnmale des Überflusses, eines außer Kontrolle geratenen, verantwortungslosen Konsums. Wenn das so ist, wie befreiend wäre es, damit mal Schluss zu machen. 


Lena Kaiser ist Redakteurin und Projektentwicklerin bei der taz Berlin.

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