Böll.Thema Verantwortung: Bergmannstraße

Ernsthafte Absichten

Im Idealfall handelt es sich bei Zivilgesellschaft und politischen Institutionen nicht um Gegner, sondern um Partner. Aber wie funktioniert das in der Praxis? Eine Reportage über die Bürgerinitiative leiser-bergmannkiez.de und den neu eingeführten Klimabürger*innenrat.

Noch brummt er leise. Die Ampel springt auf Grün. Der Sattelschlepper beginnt zu rattern, er holt Luft und rollt langsam an, Richtung Friesenstraße, den Berg hinauf. Auto um Auto folgt, ein Motorroller röhrt vorbei. Dann ist es plötzlich still. Für einen Moment kommt kein Fahrzeug. Stattdessen hört man Vögel zwitschern und Gesprächsfetzen der Passant*innen. Wenn es nach Barbara Rolfes-Poneß und Norbert Rheinländer ginge, wäre das immer so, hier an der Straßenkreuzung im Berliner Bergmannkiez.

Die beiden engagieren sich in der Bürgerinitiative leiser-bergmannkiez.de. Seit 2012 fordert diese die Sperrung der Zossener- und Friesenstraße für den Durchgangsverkehr. Rolfes-Poneß wohnt in einer angrenzenden Querstraße, dort hat die Stadtplanerin ein genossenschaftliches Wohnprojekt mit initiiert. „Der Verkehrslärm ist unerträglich“, sagt die 74-Jährige. Ihr Mitstreiter Norbert Rheinländer zeigt auf die Kreuzung, wo längst schon wieder ein brummender LKW vor der roten Ampel steht. „Ideal wäre es, wenn hier ein versenkbarer Poller den Großteil des Verkehrs fernhalten könnte.“ Nur Linienbusse und Versorgungsfahrzeuge dürften dann passieren.

Da es sich um eine der Haupttangenten für den Fernverkehr handelt, von der Leipziger Straße in Mitte bis hin zur Stadtautobahn, entscheidet nicht die Bezirksregierung, sondern der Berliner Senat über eine Sperrung. „Man braucht einen langen Atem“, sagt Rheinländer und lächelt. Er engagiert sich seit den 1970er Jahren in verschiedenen Berliner Initiativen für die Verkehrswende und hat eine entscheidende Erfahrung während all dieser Zeit gemacht: Es kommt weniger auf die Parteizugehörigkeit von Politiker*innen an, sondern auf deren Bereitschaft, Expertise und Erfahrungen von Bürger*innen ernst zu nehmen. Denn im Idealfall handelt es sich bei Zivilgesellschaft und politischen Institutionen nicht um Gegner, sondern um Partner.

Hans-Peter Hubert, Politikwissenschaftler und Sprecher von leiser-bergmannkiez.de, hält es für eine wichtige Aufgabe von Parteien, die Türen für die Interaktion mit der Zivilgesellschaft offen zu halten. „Sie sollten einerseits ihre eigene Politik transparent machen und sie verständlich kommunizieren“, sagt Hubert. Zum anderen seien sie gut damit beraten, wechselseitige Verbindungen zu zivilgesellschaftlichen Initiativen zu wahren und die Anliegen der Bürger*innen in die parlamentarische Arbeit sowie konkretes Handeln der politischen Administration zu überführen. Umgekehrt bräuchte es auf Seiten der Zivilgesellschaft aber auch die Bereitschaft, die Entscheidungsprozesse der institutionalisierten Politik zu respektieren. „Wenn beide Seiten das mit ernsthafter Absicht tun, dann kann etwas Gutes dabei herauskommen“, so Hubert. Er sieht beide Seiten in geteilter Verantwortung.

Böll.Thema Verantwortung: Bergmannstraße

In Berlin wird dies im Bereich der Klimapolitik künftig sogar institutionalisiert stattfinden. Das Land hat einen Klimabürger*innenrat eingesetzt, der am 26. April zum ersten Mal tagen wird. Das Gremium besteht aus 100 Berliner*innen, die nach dem Zufallsprinzip ausgelost wurden. Ziel bei der Besetzung ist es, ein repräsentatives Mini-Berlin hinsichtlich soziodemographischer Merkmale wie Altersgruppe, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationserfahrung abzubilden. Der Rat soll Empfehlungen für klimapolitische Maßnahmen des Senats in den Bereichen Verkehr, Gebäude / Wärme und Energie aussprechen. Das Interessante daran: Der Klimabürger*innenrat geht selbst auf eine erfolgreiche Bürger*inneninitiative zurück. Klimaneustart Berlin hat dem Abgeordnetenhaus vor zwei Jahren im Rahmen einer Volksinitiative 32.011 Unterschriften für die Einsetzung eines Bürger*innenrats zum Klimaschutz überreicht. Infolge einer offiziellen Anhörung empfahlen die Parlamentarier im Anschluss offiziell die Umsetzung. Nach einer Ausschreibung des Senats sind nun drei unabhängige Organisationen für den Rat zuständig: das Beteiligungsinstitut nexus, das wissenschaftliche Institut IASS Potsdam und der gemeinnützige Verein Klima-Mitbestimmung JETZT.

Auch wenn es nicht das erste partizipative Organ dieser Art in Deutschland ist, so zeichnet den Rat doch etwas Einmaliges aus: „Es ist der erste Klimabürger*innenrat bundesweit, der von der Politik beschlossen wurde“, sagt Michaela Zimmermann. Die 35-Jährige engagiert sich seit 2020 in der Initiative Klimaneustart Berlin und hat die Kampagne für den Rat von Beginn an begleitet. „Damit haben wir als Initiative erreicht, dass die Bevölkerung stärker in die klimapolitischen Prozesse einbezogen wird und auch Menschen gehört werden, die sonst an der Klimadebatte nicht teilhaben“, so Zimmermann.

Zunächst gibt es auf den Sitzungen des Rates vor allem Input von Expertinnen und Experten zu jenen Themen, die der Senat für dringlich im Klimaschutz hält. „Ziel ist es, konsensorientiert miteinander zu sprechen und auszuloten, für welche Maßnahmen es eine Akzeptanz in der breiten Bevölkerung gibt“, erklärt Zimmermann, die auch beruflich in der Kommunikation und Kampagnenarbeit tätig ist. Am Ende überreicht der Bürger*innenrat ein Gutachten. „Die Politik kann auf diese Weise sehr gut abstecken, ob ihre Maßnahmen von den Menschen in der Stadt mitgetragen werden“, so Zimmermann. Die Bürger*innen wiederum könnten auf ihre Interessen und Bedürfnisse hinweisen. „Der Rat ist maximal unabhängig, es sind keine organisierten Einzelinteressen vertreten“, sagt Zimmermann. Die Sitzungen, in denen Expert*innen sprechen, sollen zudem öffentlich sein. Auf diese Weise können sich Bürger*innen besser über Klimaschutzpolitik informieren. Im besten Fall profitieren damit beide Seiten vom neuen Gremium.

Da das Gutachten des Rates keine bindende Wirkung hat, ist das Organ jedoch auch auf die Akzeptanz seitens der institutionellen Politik angewiesen. „Wir haben uns daher bereits während der Volksinitiative mit den klimapolitischen Sprecher*innen der demokratischen Parteien getroffen und Gespräche geführt“, sagt Zimmermann. Auch wenn nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 viele von ihnen nun nicht mehr im Amt sind, bleibt Zimmermann zuversichtlich. „Bettina Jarasch hat bei der Vorstellung des Klimabürger*innenrats signalisiert, dass die empfohlenen Maßnahmen auf jeden Fall berücksichtigt werden“, so Zimmermann. Sie habe betont, auch wenn der Senat sich nicht nach den Empfehlungen richten sollte, so müsse erklärt werden, warum er es nicht tue. In einem Videostatement zum Bürger*innenrat sagte die Umwelt- und Verkehrssenatorin, sie wolle „die Empfehlung aus der Mitte der Gesellschaft“ ernst nehmen. „Ich freue mich auf die Beteiligung der Berlinerinnen und Berliner und auf einen engagierten Austausch“, so Jarasch.

Böll.Thema Verantwortung: Bergmannstraße

Auch bei der Forderung der Initiative leiser-bergmannkiez.de könnte Jarasch demnächst eine Schlüsselrolle einnehmen. Momentan wird ein Gutachten erstellt, das prüfen soll, ob die umliegenden Straßen bei einer Sperrung der Zossener/ Friesenstraße überlastet wären. Fällt das Gutachten positiv im Sinne der Initiative aus, liegt der Ball bei der Senatsverwaltung für Mobilität und der grünen Verkehrssenatorin. Einen Zwischenerfolg hat die Initiative immerhin über ein anderes partizipatives Element, die Bürger*innenbeteiligung zum Lärmaktionsplan (LAP), den die Europäische Union gesetzlich für alle großen Städte vorschreibt, bereits erwirkt: Das Kopfsteinpflaster in der Friesenstraße wurde mit Flüsterasphalt ersetzt. Seither sind zumindest die Dezibel etwas gesunken. „Es ist hilfreich, sich an Prozessen zu beteiligen, die bereits von der institutionalisierten Politik betrieben werden“, sagt Hubert. „Unsere Aufgabe damals war es, möglichst viele Menschen für unser Anliegen zu mobilisieren.“ Mit Erfolg: Bei der Onlineabstimmung erzielte die Initiative ein sehr gutes Ergebnis, Platz eins der drängendsten Lärmprobleme im Bereich Autoverkehr. Daraufhin hatte der Berliner Senat die Friesenstraße in den Lärmaktionsplan aufgenommen und das Kopfsteinpflaster austauschen lassen – mit EU-Fördergeldern, die für LAP-Projekte beantragt werden können. Zufriedengeben will sich die Initiative leiser-bergmannkiez.de damit jedoch nicht. Sie kämpft weiter für eine Sperrung der Straßen für den Durchgangsverkehr. Und wer weiß, vielleicht gibt es zum diesjährigen 10. Jubiläum der Initiative einen Anlass zu feiern. Andernfalls wird sie weitermachen.


Susanne Lang lebt als freie Redakteurin und Autorin in Berlin.

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