Wessen Freiheit, wessen Verantwortung?

Die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz. 

Als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im April 2021 die Klimaschutzpolitik der damaligen Bundesregierung geißelte, erhielt es dafür Lob und Anerkennung. Nicht zuletzt ebendiese Bundesregierung fühlte sich durch den Gerichtsbeschluss „ermutigt“, das eigene Klimaschutzregime nachzubessern.

Wie kam es zu dieser Entscheidung des BVerfG? Im Jahr 2018 und vor allem im Jahr 2020 nach Verabschiedung des Klimaschutzgesetzes wandten sich zahlreiche junge Beschwerdeführer*innen, darunter auch Menschen aus Nepal und Bangladesch, an das BVerfG. Sie hielten die Klimaschutzpolitik des Bundes für unzureichend. Im Pariser Übereinkommen hat sich die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, den Anstieg der Erderwärmung auf 1,5 °C oder jedenfalls auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen. Das Klimaschutzgesetz, das Gegenstand der Verfassungsbeschwerden war, bildet den innerstaatlichen Rahmen, um die Klimaschutzmaßnahmen zu strukturieren. Das Gesetz in der damaligen Fassung ordnete an, dass die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 gesenkt werden müssen. Es regelte auch, in welchem Sektor wie viel CO2-Emissionen einzusparen sind. Für die Zeit ab 2031 war vorgesehen, dass die jährlich sinkenden Emissionsmengen durch Rechtsverordnungen – also durch die Exekutive, nicht nur das Parlament – fortgeschrieben werden.

Die Verfassungsbeschwerden hielten die meisten Beobachter*innen für wenig aussichtsreich. Das BVerfG kam zu einem anderen Ergebnis und erklärte das Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig. Es verpflichtete den Gesetzgeber, die Minderungsziele über das Jahr 2030 hinaus schon jetzt fortzuschreiben. Dabei sei er darauf verpflichtet, eine angemessene Lastenverteilung über die Zeit zu gewährleisten. Dieser Aufforderung kam der Gesetzgeber noch vor der Bundestagswahl durch Änderungen des Klimaschutzgesetzes nach, das nunmehr eine Minderung der CO2-Emissionen von 65 Prozent bis 2030 und Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 statt 2050 vorsieht.

Das BVerfG deutete die Grundrechte als intertemporale, d. h. auch generationenübergreifende Freiheitssicherung. Das heißt, dass die Grundrechte nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Freiheitsausübung schützen. Sie verlangen eine vorausschauende Lastenverteilung. Heute müssen wir uns so verhalten, dass wir auch in Zukunft noch unsere Freiheit ausüben können. Gerade zukünftige Freiheit berücksichtigte das Klimaschutzgesetz aber unzureichend. Denn es erlaubte, bis zum Jahr 2030 so viel Kohlendioxid zu emittieren, dass im anschließenden Zeitraum kaum noch CO2-Emissionen zulässig sein dürften, wenn das Pariser Klimaschutzziel erreicht werden soll. Auf dieses Ziel ist die Bundesrepublik aber völker- und verfassungsrechtlich verpflichtet. Der Gesetzgeber wäre deshalb ab 2030 gezwungen, die grundrechtlich geschützte Freiheit erheblich zu beschränken, um weitere CO2-Emissionen zu verhindern. Eine gerechte Lastenverteilung über die Zeit ist dem Klimaschutzgesetz also nicht gelungen.

Das BVerfG muss diese Fragen grundrechtlich adressieren, weil individuelle Menschen das Gesetz vor Gericht angegriffen haben und diese nur ihre eigenen Grundrechte geltend machen dürfen. Das führt im Ergebnis dazu, dass Grundrechte genutzt werden, um die Freiheit anderer zu beschränken, indem nämlich strengere Klimaschutzvorschriften erstritten werden. Deshalb mag man aus juristischer Sicht bezweifeln, ob die Semantik der Grundrechte geeignet ist, die intergenerationelle Freiheitsverteilung zu adressieren. Solche Zweifel ändern aber nichts an der Tatsache, dass das BVerfG die Politik zu Recht zur Verantwortung zieht. Die Verfassung ist nicht blind für die Belange der jungen Beschwerdeführer*innen sowie künftiger Generationen. Art. 20a des Grundgesetzes lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen […].“ Das BVerfG musste Gesetzgeber und Regierung an diese Verantwortung erinnern. Sie haben das Pariser Übereinkommen unterzeichnet und in nationales Recht überführt. Das Gericht misst die Politik an ihren eigenen Willensbekundungen.

Das Grundgesetz nimmt die Klimakrise ernst. Unser aller Freiheit – nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen – steht infrage. Die Verantwortung, diese Freiheit langfristig und für künftige Generationen zu sichern, trägt der Staat. Nur scheinbar fallen Freiheit und Verantwortung hier auseinander. Denn das „Wir“ als Träger der Freiheiten findet Ausdruck im politischen Prozess, der die Verantwortung trägt. Daran erinnert uns das BVerfG in seiner Klimaentscheidung: unsere Freiheit, unsere Verantwortung.


Nils Weinberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Doktorand im Graduiertenkolleg „Normativität, Kritik, Wandel“. 

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