Zwischen Macht und Verantwortung

Deutschland wird sich nicht mehr auf eine rein vermittelnde Rolle zurückziehen können, wenn unsere demokratische europäische Zukunft gesichert werden soll.

Die russische Invasion in der Ukraine ist ein dramatischer Bruch des Völkerrechts, ein offener Angriff auf die freiheitliche, souveräne Entwicklung des Landes und eine massive Bedrohung der europäischen Sicherheitsordnung. Spätestens jetzt müsste auch dem letzten Putin-Apologeten in Berlin klar sein, dass Deutschland sich von manch außenpolitischem Wunschdenken der letzten dreißig Jahre dringend verabschieden muss. Zu lange hatte Deutschland nach Ende des Kalten Krieges gemäß der Prämisse agiert, dass sich alle Länder früher oder später zu liberalen Demokratien und sozialen Marktwirtschaften entwickeln würden. Demnach gab es keine internationalen „Gegner“ mehr, sondern nur noch Freunde und Partner unterschiedlichen Grades.

Die Realität sieht schon lange anders aus. Wir befinden uns in einer Phase zunehmender Machtkonkurrenz um militärische Dominanz, um Technologie, um Ressourcen und globalen Einfluss. Anstatt mit einer systemischen Konvergenz haben wir es mit einer Systemkonkurrenz zu tun, in der Akteure wie China und Russland mit allen Mitteln Gegenmodelle zur liberalen Demokratie durchzusetzen versuchen und in der die liberale Demokratie auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaften unter Druck gerät. Gleichzeitig wird die liberale Weltordnung, das Rahmenwerk internationaler Vereinbarungen und Organisationen, immer brüchiger. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der Herausforderungen wie der Klimawandel, die nukleare Sicherheit oder die COVID-19-Pandemie globale Antworten mehr denn je verlangen.

Deutschland ist kein machtloser Spielball dieser Entwicklungen. Als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und als einflussreichstes Land innerhalb der EU hat die Bundesrepublik vielmehr erhebliche Gestaltungsmacht. Mit dieser Macht geht Verantwortung einher für die regionale und globale Ordnung jenseits unserer Grenzen. Für den Rückzug auf eine rein vermittelnde Rolle in einer konfliktreichen Welt ist Deutschland zu bedeutsam.

Außerhalb der Bundesrepublik wird da oft klarer gesehen. Für die Biden-Regierung in Washington ist Deutschland ein unverzichtbarer Partner im globalen Macht- und Systemwettbewerb. Erst recht gilt dies in Europa und seiner Nachbarschaft. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an Berlin. Für Deutschlands Partner innerhalb der Europäischen Union ist die Bundesrepublik ein Akteur, der seine Macht zwar bereits heute häufig ausspielt, dies aber nicht immer im europäischen Interesse oder unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf unsere Nachbarländer. Die deutsche Russlandpolitik war dafür viele Jahre exemplarisch.

Solche äußere Kritik und solche äußeren Erwartungen sollten ernst genommen werden, denn sie sind so umfassend, weil so viel von Deutschland abhängt. Deutschland hat über Jahrzehnte profitiert von US-amerikanischen Sicherheitsgarantien, vom geeinten europäischen Wirtschafts- und Friedensraum und von einer offenen Welthandelsordnung.

Künftig aber werden diese Ordnungen nicht erhalten bleiben, wenn Berlin nicht mehr zu ihrer Bewahrung beiträgt. Das kann Deutschland auf vielen Ebenen tun, beispielsweise in der Handels-, Entwicklungs- und Technologiepolitik. Denn im künftigen Macht- und Systemwettbewerb geht es nicht zuletzt darum, wer technologisch die Nase vorn hat, wer auf die Rohstoffe und Lieferketten der Zukunft Zugriff hat, wer belastbare Beziehungen mit dem globalen Süden aufbaut und welche Standards sich weltweit durchsetzen.

Die neue Bundesregierung hat erste wichtige Schritte unternommen, um der Realität der heutigen Weltordnung Rechnung zu tragen. Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands kommt auf den Prüfstand, die Energiepolitik wird neu ausgerichtet - und erstmals wird eine nationale Sicherheitsstrategie erarbeitet. Das sind Elemente einer neuen außenpolitischen Orientierung. Einfach wird dieser Weg nicht: Er bedeutet eine Verabschiedung von der Vorstellung, die deutsche Handelspolitik ließe sich trennen von außenpolitischen Realitäten. Und er bedeutet auch, strategische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Eine aktive Rolle in einer konfliktreichen Welt hat einen Preis, einen wirtschaftlichen und einen politischen. Es wird unumgänglich sein, stärker in die Politikfelder moderner Außen- und Sicherheitspolitik zu investieren, von der militärischen Wehrhaftigkeit bis zur Klimaaußenpolitik. Es wird ebenso zentral sein, sowohl in die Resilienz der deutschen Wirtschaft als auch in die der Gesellschaft zu investieren. Das nicht zu tun, würde einen weit höheren Preis erfordern. Und die Kosten wären nicht nur ökonomisch, sondern beträfen unsere gemeinsame Sicherheit und die Zukunft unserer liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft.

An der Ukraine- und Russlandpolitik wird sich in den kommenden Monaten zeigen, ob die Bundesrepublik dieser Herausforderung gerecht wird. Ohne starkes deutsches Engagement wird es nicht möglich sein, die russischen Angriffe auf die europäische Friedensordnung abzuwehren.


Bastian Hermisson ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, DC. Davor leitete er das Büro Brüssel und das Referat EU/Nordamerika der Stiftung und verantwortete als Referent den Themenbereich Außen- und Sicherheitspolitik.

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