«Menschen müssen im Umbruchsprozess ihren Platz finden.»

Hans-Jürgen Urban ist im Vorstand der IG-Metall. Er sagt, dass wir den Wandel nicht allein den Märkten überlassen dürfen. Für die Zukunft fordert er erst recht verlässliche Strukturen für Arbeitnehmer*innen – und setzt auf die Kraft von Fortbildungen. 

Susanne Lang: Herr Urban, wann sind Sie zuletzt von der Post beliefert worden?

Hans-Jürgen Urban: Vor drei Tagen mit einem kleinen Paket an Briefen, das mich über einen Nachsendeantrag zehn Tage später erreicht hat als unter Normalbedingungen.

Da geht es Ihnen derzeit wie vielen Menschen, denn auch die Post ist wie andere Unternehmen und Branchen akut von Personalmangel betroffen. Wie kann man dieses Problem lösen, das die Arbeitswelt stark verändert?

Momentan sind wir mit einem sogenannten Mismatch-Problem konfrontiert: Einerseits verzeichnen wir Rekorde bei der Anzahl von Erwerbstätigen, andererseits klagen nahezu alle Branchen über einen Arbeits- und Fachkräftemangel. Das resultiert unter anderem daher, dass die vorhandenen Arbeitskräfte mit ihren Berufswünschen, Qualifikationen und der regionalen Herkunft nicht mit den Wunschvorstellungen der Arbeitgeber zusammenpassen. Neben dieser Qualitätsfrage gibt es auch quantitative Engpässe. Um dem entgegenzuwirken, steht eine Reihe von bekannten Maßnahmen zur Verfügung, die bisher aber nicht ausgeschöpft sind. Als erstes müssten Unternehmen quer durch alle Branchen wieder hinreichend ausbilden. Hier rächen sich die eklatanten Versäumnisse der letzten Jahre.

Welche Maßnahmen gibt es noch?

Sehr viele Arbeitskräfte würden gerne Vollzeit erwerbstätig sein, können dies aber nicht, da die gesellschaftliche Infrastruktur dafür nicht vorhanden ist. Vor allem Frauen stecken in der Teilzeitfalle fest, weil nicht genügend Kitaplätze bereitgestellt werden und die Unterstützung von Sorgearbeit fehlt. Und den Preis dafür müssen sie oft auch noch bezahlen, mit Niedrigeinkommen und Niedrig­renten. Hier gibt es ein enormes Potenzial. Gleiches gilt für die Menschen, die in den deutschen Arbeitsmarkt einwandern. Es fehlt an arbeitsmarktpolitischen Brücken und passgenauen individuellen Unterstützungen.

Wie sieht es mit Technologie und Digitalisierung aus, könnte KI nicht menschliche Arbeitskraft ersetzen? Um beim Beispiel Post zu bleiben: Dann bringt die Drohne die Briefe.

Da gibt es bestimmt Potenziale. Aber ich glaube nicht daran, dass Technologie den Mangel an menschlicher Arbeitskraft insgesamt ausgleichen wird. Wir brauchen stattdessen einen Kulturwandel in den Unternehmen. Der Arbeitsmarkt hat sich stark verändert, weg von einem Arbeitgebermarkt, auf dem  sich Unternehmen die genehmsten Leute auswählen konnten, hin zu einem Arbeitnehmermarkt. Nun haben Fachkräfte vielfach ihrerseits die Möglichkeit, sich attraktive Arbeitgeber auszusuchen. Daher braucht es in den Unternehmen eine neue Kultur der Wertschätzung von Arbeit, eine andere Art der Werbung und auch der Fürsorge für Arbeitskräfte. Ohne akzeptable Arbeitsbedingungen – ich spreche von tariflich geregelten Arbeitsbedingungen etwa beim Entgelt und der Arbeitszeit – und ohne eine gewisse Wertschätzung des Arbeitgebers gegenüber den Beschäftigten werden Unternehmen ihre Probleme behalten. Die bisherige Strategie des Outsourcings und der Privatisierung wird sich auf Dauer nicht bewähren.

Hauptargument der Unternehmen dafür war der hohe Kostendruck im globalen Wettbewerb. Ist es realistisch, dass Unternehmen wieder mehr in Personal investieren?

Unternehmen, die unter kapitalistischen Marktbedingungen arbeiten, unterliegen immer einem hohen Kostendruck. In den vergangenen 20 bis 30 Jahren, in der gerne als neoliberal bezeichneten Periode, haben viele Unternehmen versucht, den Konkurrenzdruck über die Reduzierung der Arbeitskosten abzufangen. Aber das ist in den Märkten heute in der Regel eine nur sehr kurzfristig erfolgreiche Strategie. Wir brauchen harte Regeln, die den Unternehmen diesen vermeintlich leichten Weg versperren. Und die Aufmerksamkeit der Unternehmen muss auf die Felder gelenkt werden, die auch mittelfristig erfolgreich sind.

Welche sind das?

Die effiziente Arbeitsorganisation, eine gute und gesunde Kombination aus Arbeitskraft und Technik sowie die Suche nach neuen, zukunftsfähigen Produkten und Märkten. Das Paradigma der schnellen Kostenreduzierung auf Kosten von Sozialstandards ist vor allem in unserer Hightech-Ökonomie nicht zukunftsfähig. Deshalb engagieren wir uns für einheitliche Wettbewerbsbedingungen durch gesicherte Sozialstandards. Je mehr Unternehmen einem Tarifvertrag unterliegen und an Mindeststandards bei der Arbeitszeit sowie der Lohnfrage gebunden sind, um so einfacher ist es für das einzelne Unternehmen, sich daran zu halten.

Nicht nur die digitale, auch die sozial-ökologische Transformation verändert die Arbeitswelt. Viele Arbeitsplätze werden künftig überflüssig sein, wenn beispielsweise der Verbrennermotor durch nachhaltigere Antriebsquellen ersetzt wird. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sieht in einem Gutachten die berufliche Weiterbildung als Lösung. Sie auch?

Wir können als Gewerkschaften den Kolleginnen und Kollegen zwar keine Arbeitsplatzgarantie geben, aber wir wollen und müssen ihnen eine Perspektive auf Beschäftigung verschaffen.

Ich halte Weiterbildung für unverzichtbar. Wir können als Gewerkschaften den Kolleginnen und Kollegen zwar keine Arbeitsplatzgarantie geben, aber wir wollen und müssen ihnen eine Beschäftigungsperspektive verschaffen. Denn nur wer für sich eine Perspektive sieht, ist auch bereit, sich an der sozial-ökologischen Transformation zu beteiligen. Neben Angeboten, andere Qualifikationen erwerben zu können, müssen auch weitere Kompetenzen in die Weiterbildung einbezogen werden: Sozial-, Kommunikations-, Reflexions- und Eingriffskompetenzen werden künftig noch bedeutender. Wir müssen die Menschen befähigen, in dem Umbruchprozess ihren Platz zu finden und die neuen Arbeitsbedingungen mitzugestalten. Kluge Unternehmen wissen längst, dass die menschliche Arbeitskraft nach wie vor die eigentliche Produktivkraft ist. Das gilt auch in der Transformation.

Welche Perspektive haben hoch qualifizierte Fachkräfte, die bisher Verbrennermotoren gebaut haben?

Heute arbeiten rund um den Verbrennermotor circa 280.000 Beschäftigte, diese Zahl wird deutlich zurückgehen. Wir als Gewerkschaft unterstützen die Antriebswende weg von der fossilen hin zur elektrischen Mobilität. Die Arbeitsplätze, die dabei verloren gehen, werden vermutlich nicht eins zu eins ersetzt werden können. Im Gegenzug werden aber andere Wirtschaftsbereiche wachsen, beispielsweise die Batterieproduktion oder die Ladeinfrastruktur. Die große Kunst besteht darin, diesen Wandel nicht den Märkten zu überlassen, weil sie Massenarbeitslosigkeit, viel Leid und hohe gesellschaftliche Kosten produzieren. Politik und gesellschaftliche Akteure wie die Gewerkschaften müssen regulierend eingreifen und einen guten Übergang ermöglichen: mit mitbestimmten, langfristigen Unternehmensstrategien, realistischen Qualifizierungschancen und sozialen Perspektiven für jede und jeden Einzelne(n).

In vielen Bereichen wird die Arbeit anspruchsvoller werden. Produziert die Transformation auch Verlierer, die keinen Platz mehr in der Arbeitswelt finden?

Selbstverständlich werden viele Tätigkeiten sehr anspruchsvoll sein, aber die sogenannte Einfacharbeit wird nicht verschwinden. Nehmen Sie die Elektroroller, die nun in allen Großstädten verfügbar sind. Für ihren Betrieb benötigt man nicht nur IT-Experten und Ingenieure, sondern auch Menschen, die die Roller einsammeln, wiederaufladen und bereitstellen. Je größer der Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften allerdings wird, desto mehr muss unser Augenmerk auf denjenigen liegen, die damit alleine nicht Schritt halten können. Gering qualifizierte Menschen sind häufig auch nicht geübt in Weiterbildung, haben Vorbehalte und benötigen Unterstützung, weil sich ihr Arbeitsplatz besonders verändert. Wir werden zudem akzeptieren müssen, dass in den rentennahen Jahrgängen nicht alle den Sprung in die neue Arbeitswelt schaffen werden. Hier müssen wir über flexible Übergänge in den Ruhestand diskutieren. Gerade in Umbruchzeiten sind wir dazu verpflichtet, den Menschen ein sozialstaatliches Sicherungsangebot zu machen.

Müsste die Arbeitswelt nicht generell flexibler werden? Modelle wie Lebensarbeitszeitkonten, Sabbaticals oder die 4-Tage-Woche werden bereits diskutiert, um Arbeit menschlicher zu gestalten.

Grundsätzlich bin ich aufgeschlossen gegenüber Modellen, die Arbeit entdichten, Ruhepausen organisieren und die Erwerbsarbeit mit anderen Bedürfnissen vereinbarer machen. In den Tarifverträgen der IG Metall gibt es beispielsweise schon heute Regelungen, dass die Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden pro Woche reduziert werden kann, um etwa Sorgearbeit zu organisieren. Und für die besonders belastende Schichtarbeit existieren Möglichkeiten, durch zusätzliche freie Tage eine Belastungsminderung herbeizuführen. Auch für Arbeitsunterbrechungen durch sogenannte Sabbaticals habe ich Sympathie. Was damit aber nicht einhergehen darf, sind unzumutbare Einbußen bei der Rente. Gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten müssen in der Rentenbiografie aufgewertet werden, bei Kindererziehungszeiten geschieht dies bereits in Ansätzen. Aber wir brauchen weitere Anstrengungen zur sozialen Absicherung von differenzierten Erwerbsbiografien.


Hans-Jürgen Urban, geb. 1961, ist seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort für Sozialpolitik, Gesundheitsschutz und Qualifizierungspolitik zuständig. Zudem ist er Mitglied des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit. Seit 2011 gehört er dem Herausgeberkreis der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik an.

Susanne Lang lebt als freie Redakteurin und Journalistin in Berlin.
 

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