Das Interview wurde von Eva van de Rakt Ende November 2023 geführt.
Eva van de Rakt: Ihr Film «Green Border» wirft einen schonungslosen Blick auf die Situation von Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien, Irak, Jemen und der Demokratischen Republik Kongo im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen. Was hat Sie motiviert, diesen Film zu machen?
Agnieszka Holland: Ich wollte die Realität abbilden. Was sich an der polnisch-belarusischen Grenze abspielt, ist wie ein Blick in ein Labor der Gewalt und der Lüge. Aus politischen Gründen legalisiert der Staat Gewalt gegen Zivilist*innen als eine angemessene Antwort auf eine humanitäre Krise. Ich finde es übrigens irrelevant, ob diese Krise von feindlichen Regimen provoziert wurde oder nicht. Die Frage ist doch, ob Menschenrechte und Menschenleben uns etwas bedeuten. Die polnisch-belarusische Grenze ist keine Ausnahme. Die gesamte EU verwandelt sich derzeit in eine Art Festung und akzeptiert aus Angst vor Massenmigration und dem Aufstieg populistischer und faschistischer Parteien Gewalt auf der See und dem Land als einfachste Lösung.
Die Schutzsuchenden sind auf beiden Seiten des Grenzzauns der Gewalt von Grenzsoldaten ausgesetzt. Sie werden im Wald hin- und hergejagt und in einem rechtsfreien Raum Opfer brutaler Pushbacks. Einige Schauspieler*innen haben selbst Fluchterfahrungen. Wie haben Sie mit Geflüchteten zusammengearbeitet, um ihre Geschichten und Perspektiven im Film zu berücksichtigen?
Während wir das Drehbuch geschrieben haben, haben wir umfangreich recherchiert. Wir haben viel gelesen und mit Geflüchteten, Aktivist*innen, Bewohner*innen vor Ort und auch mit Grenzschutzpersonal gesprochen. Durch die Zusammenarbeit mit Schauspieler*innen, die selbst Fluchterfahrungen haben und engagiert sind, konnten wir die Details und den Hintergrund der Geschichte erarbeiten. Sie brachten ihre Kenntnisse der Lage, ihre persönlichen Erfahrungen und Emotionen in den Film ein.
Wie haben die Geflüchteten, deren Geschichten Sie erzählen, auf den Film reagiert?
Die allgemeine Reaktion auf den Film war sehr emotional, sowohl von Menschen, die Ähnliches erlebt haben, als auch von Zuschauer*innen, die zuvor kaum etwas über das Thema wussten. Außerdem haben die Menschen, deren Geschichte wir erzählen, uns für den Film gedankt. Sie fanden ihn sehr wahrheitsgetreu, weder manipulativ noch übertrieben.
Sie haben die polnischen Charaktere in vielen Facetten gefilmt und zeigen, wie Ratlosigkeit, Verzweiflung und innere Zerrissenheit ihr Handeln bestimmen. Ein Grenzsoldat zum Beispiel kämpft mit seinem Gewissen. Und zwischen den Aktivist*innen entstehen Konflikte, weil sie sich fragen, inwieweit sie sich den Anweisungen der polnischen Behörden widersetzen müssen, um das Leben der Schutzsuchenden zu retten. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach zivilgesellschaftliches Engagement und Zivilcourage in der aktuellen Situation?
Alle Hilfe lag und liegt bei der Zivilgesellschaft, bei Aktivist*innen, der lokalen Bevölkerung, bei Menschen, die auf eigene Faust Entscheidungen treffen müssen, weil die Staatsmacht nichts tut. Dabei handeln sie sich oft selbst Ärger ein, da der Staat ihre Hilfe kriminalisiert. Es ist sehr anstrengend und frustrierend. Viele der Aktivist*innen leiden unter posttraumatischem Stress. Dennoch machen sie weiter, denn sie wissen, dass es für sie keinen Ersatz gibt. Einige tun dies bereits seit zwei Jahren Tag für Tag und Nacht für Nacht. Sie suchen Vermisste, doch statt Überlebenden finden sie oft nur Leichen.
Gegen Ende des Films zeigen Sie das sehr unterschiedliche Verhalten von polnischen Grenzsoldaten und Bürger*innen gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine. Woher kommt Ihrer Meinung nach diese diametral entgegengesetzte Haltung von Ablehnung und Härte auf der einen und Empathie sowie Hilfsbereitschaft auf der anderen Seite?
Polnische Bürger*innen können sich mit dem ukrainischen Leid viel leichter identifizieren. Dabei sind die geografische Nähe entscheidend, die ähnliche Sprache und Kultur, der gemeinsame Feind Russland und die Tatsache, dass die Regierung in diesem Fall ihr Handeln unterstützt, anstatt es zu kriminalisieren. Bei der Ablehnung und Härte spielt Rassismus gegen Geflüchtete, die nicht aus der Ukraine kommen, eine Rolle. Rassismus kommt überall auf der Welt wieder zurück. Was wir glaubten, längst hinter uns gelassen zu haben, kehrt mit gefährlicher Geschwindigkeit zurück.
Die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat Ihren Film scharf kritisiert. Wie hat sich die Kampagne der Regierung gegen den Film auf Ihr Leben ausgewirkt?
Ich habe mit feindseligen Reaktionen gerechnet und damit, dass die Regierung versuchen wird, den Film für Wahlkampfzwecke auszunutzen und eine hasserfüllte, nationalistische Kampagne gegen Geflüchtete zu führen. Ich habe auch mit Angriffen auf mich selbst gerechnet. Überrascht hat mich allerdings das Ausmaß. Der Präsident, der Premierminister, der Vorsitzende der Regierungspartei, der Justizminister, sie alle stürzten sich mit absurden Anschuldigungen auf mich. Ich sei eine Verräterin, ein Nazi, Goebbels, Hitler, Stalin und Putin. Damit haben sie wohl etwas übertrieben, denn im Endeffekt haben wir davon profitiert, politisch und an den Kinokassen. Wir haben aber durchaus befürchtet, dass diese hasserfüllten Worte echte Aggressionen auslösen könnten. Ich habe meinen Aufenthalt in Polen um die Zeit der Filmpremiere herum verkürzt und Sicherheitskräfte eingestellt. Zum Glück hat die demokratische Koalition die Wahlen gewonnen. Das kommt fast einem Wunder gleich, da die PiS das mit allen Mitteln zu verhindern versucht hat. Nach den Wahlen hat sich die Situation für mich beruhigt.
Die Filmpremiere fand bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vor den Parlamentswahlen in Polen vom 15. Oktober 2023 statt. Wie wurde «Green Border» in Polen aufgenommen?
Der Film war ein Riesenerfolg, sowohl an den Kinokassen als auch bei Filmkritiker*innen und dem Publikum. Ich habe noch nie so starke Reaktionen erlebt. So emotional, so moralisch herausfordernd. Wir sind wirklich stolz darauf, dass wir diesen Film mit all unserer Ehrlichkeit und unserem Mut gemacht haben, und wir waren sehr zufrieden mit ihm, als wir ihn unserem Publikum gezeigt haben.
In welchen anderen Ländern wurde der Film bisher gezeigt?
Bisher nur auf Festivals in Polen und Tschechien. Er wird in den ersten Monaten des Jahres 2024 in weiteren Ländern in die Kinos kommen. Zuerst in Deutschland, Italien, Frankreich und den Benelux-Staaten, danach in Spanien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern.
Welche Reaktionen erhoffen Sie sich in Deutschland?
Die meisten Migrant*innen, die der Falle an der polnisch-belarusischen Grenze entkommen konnten, landeten in Deutschland. Es ist also auch eure Geschichte, eure und die eurer neuen Mitbürger*innen. Migration ist eine der zentralen Fragen und Herausforderungen für die Zukunft Europas. Ich hoffe, dass das deutsche Publikum für das Thema und für die humanistische Dimension unserer Geschichte empfänglich ist.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach in der Migrations- und Asylpolitik der EU ändern?
Alles. Es muss eine globale, ehrliche Zusammenarbeit geben. Wir können nicht wieder den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass Mauern oder Diktatoren anderswo die Situation von uns fernhalten.
Ihr Film geht unter die Haut und rüttelt auf, er zeigt nur wenige Momente, die Hoffnung machen – zum Beispiel, wenn junge Geflüchtete und polnische Jugendliche gemeinsam einen französischen Song singen. Was gibt Ihnen Hoffnung für die Zukunft Europas?
Jugend. Kunst. Vorstellungskraft. Und Empathie. Make Empathy Great Again! Wir sind in der Lage, unsere Herzen und Häuser Fremden zu öffnen. Doch wir tun es nicht. Nicht etwa, weil uns die Mittel fehlen, sondern weil wir es nicht wollen.
Eva van de Rakt leitet das Referat Europäische Union und Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung.
Die Regisseurin: Agnieszka Holland wurde 1948 in Warschau geboren. Sie studierte Film an der Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste (FAMU) in Prag und begann 1971 ihre Filmkarriere als Regieassistentin von Krzysztof Zanussi. Im Laufe ihres Arbeitslebens wurde sie dreimal für den Oscar nominiert: 1985 für «Bittere Ernte» (bester fremdsprachiger Film), 1990 für «Hitlerjunge Salomon» (bestes adaptiertes Drehbuch) und 2012 für «In der Finsternis» (bester fremdsprachiger Film). Zu Hollands zahlreichen, vielfach international ausgezeichneten Spielfilmen gehören unter anderem «Olivier, Olivier» (1992), «The Secret Garden» (1993), «Total Eclipse» (1995), «Julie Walking Home» (2001), «Spoor» (2017), «Mr. Jones» (2019) und «Charlatan» (2020). Sie führte auch Regie bei herausragenden Fernsehserien wie «Treme» oder «House of Cards».
Der Film: 2021. Angelockt von den Versprechungen des belarusischen Diktators Lukaschenko haben Bashir und Amina mit ihrer syrischen Familie wie viele andere Geflüchtete den Flug nach Minsk gebucht, um von dort über die grüne Grenze nach Polen und dann zu ihren Verwandten in Schweden zu gelangen. Doch die Verheißung wird zur Falle. Zusammen mit Tausenden anderen steckt die Familie im sumpfigen Niemandsland zwischen Polen und Belarus fest, von den Grenzschützern beider Länder im streng abgeschirmten Sperrgebiet hin und her getrieben, abgeschnitten von jeder Hilfe. An der Grenze entfaltet sich ein vielstimmiges Drama zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Zynismus und Menschlichkeit. Wegschauen ist nicht möglich. Es geht um Leben und Tod. Seit 1. Februar 2024 bundesweit in den Kinos.