Foto-Collage: InaValitskaya und Dzimitry Shershan

Balanceakt für Belarus

Der Exilverein Razam ist ein wichtiger Anker im Alltag der Menschen, die vor politischer Verfolgung nach Deutschland geflohen sind. Und für die Aktivist*innen in der Heimat, die sich gegen Lukaschenko und sein Unrechtsregime erheben. Ina Valitskaya und der Judoka Dzimitry Shershan helfen beide auf ihre Weise, dass ihre Landsleute weder Mut noch Kraft verlieren. 

Dzmitry Shershan weiß, wie man kämpft. Und er weiß, wie man mit fairen Mitteln kämpft. Shershan ist ein Judoka aus Belarus, ein berühmter Athlet in seinem Heimatland. Im Jahr 2016 war er Olympia-Teilnehmer, zwei Jahre später gewann er die Bronzemedaille bei den Europameisterschaften. Heute lebt der 35-Jährige in Duisburg, ist Trainer des Judo-Clubs 71 Düsseldorf. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt veranstaltet er auch Treffen für die belarussische Exilgemeinschaft in Deutschland, «bei denen Politik und Sport zusammenkommen und wir über die Situation in Belarus sprechen.» Shershan hat ein breites Lächeln, unter seinem weißen Muscle-Shirt lugen durchtrainierte Oberarme hervor. 

Dzimitry Shershan
Dzimitry Shershan

Shershan wird in seinem Heimatland politisch verfolgt, er floh Ende 2021 aus Belarus nach Deutschland. Kurz nachdem der belarussische Präsident Lukaschenko 2020 die Präsidentschaftswahlen manipuliert hatte und Oppositionelle auf den Straßen von Polizisten verprügelt worden waren, unterschrieb er mit mehr als 100 anderen bekannten belarussischen Sportler*innen einen offenen Brief. «Wir verurteilen die Fälschung der Wahlergebnisse durch den Präsidenten der Republik Belarus sowie das Ausüben grober Gewalt durch die Sicherheitskräfte gegen die friedlich protestierenden Bürger», hieß es darin. Shershan nahm 2020 auch an den Demonstrationen gegen den seit 30 Jahren regierenden Lukaschenko teil. «Ich war damals bestimmt zehn, fünfzehn Mal an den Wochenenden auf der Straße», sagt er rückblickend im Zoom-Gespräch. «Wir haben nur dort gestanden und wollten unser Demonstrationsrecht wahrnehmen. Keiner der Protestierenden war aggressiv. Die Polizisten jagten uns trotzdem, sie verprügelten die Teilnehmer, traten sie. Es war himmelsschreiend ungerecht.» 

Die Menschenrechtslage in Belarus hat sich seither eher noch verschlechtert. Mindestens 1.392 politische Gefangene hält das Regime Lukaschenko in Haft (Stand: Juli 2024) – so viel zählt die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna, die aus dem Exil agieren muss und vom belarussischen Innenministerium als «extremistische Vereinigung» eingestuft wird. Ales Bjaljazki, Mitgründer von Viasna und Friedens­nobel­preisträger 2022, sitzt in Haft. Viktor Babariko, Präsidentschaftskandidat von 2020, ebenfalls – wie seine Unterstützerin und Wahlkampfleiterin Maria Kolesnikowa. Wie es ihnen derzeit geht, weiß niemand. Auch Angehörige von Menschen, die sich für ein demokratisches Belarus einsetzen, werden von den Behörden drangsaliert. So machte der in der Schweiz lebende regimekritische Schriftsteller Sasha Filipenko Ende 2023 publik, dass sein Vater in Belarus mit Verweis auf die politische Haltung seines Sohns verhaftet wurde. Nach 15 Tagen kam er wieder frei. 

Dzimitry Shershan ist heute aktives Mitglied bei Razam, der bekanntesten belarussischen Exilorganisation in Deutschland. Der Verein gründete sich exakt am 9. August 2020 – dem Tag, als Lukaschenko die Wahlergebnisse manipulierte. Razam heißt im Deutschen «gemeinsam» oder «zusammen». Die Organisation hat rund 300 Mitglieder und ist in ganz Deutschland präsent, in München, Bremen, Hamburg, Berlin und mehreren Städten in Nordrhein-Westfalen. Razam begreift sich unter anderem als Kulturverein, so will der Verein etwa die belarussische Sprache und Kultur pflegen – auch, weil die Russifizierung innerhalb des Landes immer weiter vorangetrieben wird. In Deutschland lebten Ende 2022 etwa 29.000 Belaruss*innen, darunter viele im Exil. Für sie ist Razam ein wichtiger Anker im Alltag. 

Der Judoka Shershan organisiert Sportfeste und bringt belarussischen Kindern im Exil seinen Sport bei 

Shershan kämpft nun für die Verfolgten in seinem Heimatland. In einem Düsseldorfer Park veranstaltete er zum Beispiel vor zwei Jahren ein Sportfest. Er legte dort Judomatten aus, brachte belarussischen Kindern im Exil seinen Sport bei. Die Kids hüllten sich in weiß-rot-weiße Flaggen, die Farben der belarussischen Bürgerrechts­bewegung. Die mehr als 100 Teil­nehmer*innen schrieben gemeinsame Briefe an politische Gefangene in ihrem Heimat­­land, sammelten Spenden für deren Kinder. Die zu Unrecht Inhaftierten sind zu einem großen Thema bei Razam geworden. «Wir stehen in der moralischen Pflicht, den politischen Gefangenen und ihren Familien zu helfen, so gut es geht», sagt Dmitry Chigrin, Vorstandsmitglied von Razam, im Zoom-Gespräch. Laut offiziellen Zahlen sitzen in Belarus mehr Menschen in politischer Haft als in Russland – das 16-mal so viele Einwohner*innen hat (9 vs. 144 Millionen). In Belarus gibt es zurzeit 155 politische Gefangene pro einer Million Einwohner*innen, in Russland sechs. 

Razam organisiert auch konkrete Hilfe für die Familien der politischen Gefangenen in Belarus. Weihnachtsgeschenke mit Schulbedarf und Spielzeug für Kinder gehen in die Heimat. Der Kontakt zu Familien und Freunden kann derzeit nur über Messengerdienste gehalten werden. Zurück in ihr Land trauen sich die meisten Oppositionellen nicht, sie haben Angst, verhaftet zu werden. Eines der Hauptanliegen Razams in Deutschland ist es, wieder und wieder an die Situation in Belarus zu erinnern. «Unser Ziel ist es, die demokratische Bewegung zu unterstützen und die Stimme der Belaruss*innen in Deutschland zu sein. Wir wollen Belarus auf der Agenda halten», sagt Chigrin. Er lebt bereits seit 1998 hier, ist Experte für Computer-Physik und Privatdozent für theoretische Physik an der RWTH Aachen University. Bei Razam leitet er eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Aufbau zivilgesellschaftlicher und demokratischer Netzwerke und Kontakte in Deutschland und der EU für ein «hoffentlich bald freies Belarus» befasst. «Wichtig ist zudem die Advocacy-Arbeit für belarusssiche Bürger*innen in Deutschland und der EU. Wir verstehen uns auch als Interessenvereinigung.» 

Die Organisationsform als «eingetragener Verein» hat der Vorstand bewusst gewählt: «Es ist eine sehr demokratische Organisationsform, die sowohl unseren Zielen als auch unseren Werten und unserer Mentalität sehr gut entspricht», schreibt die erste Vorsitzende Yuliya Salauyova. Dennoch sei es manchmal ein Balanceakt, Lobby­arbeit für Belarus zu betreiben. Denn wie weit ein (gemeinnütziger) Verein politisch agieren darf, ist seit vielen Jahren Gegenstand der öffentlichen Debatte und juristischer Auseinandersetzungen. Allerdings gibt es durchaus Spielraum für politisches Engagement – Razam etwa wacht vor allem darüber, dass die Menschenrechte respektiert und eingehalten werden. Die Aufmerksamkeit für Belarus schwindet derweil. Seit der russischen Invasion in der Ukraine 2022 richtet sie sich ganz auf das Nachbarland, Belarus wird im russisch-ukrainischen Krieg als Ko-Agressor betrachtet. Mittlerweile schaut die Welt zudem auf Israel und Gaza. Der wohl härteste Staatsapparat auf europäischem Boden taucht da nur noch unter ferner liefen in den Medien auf. Razam hat deshalb im Juni gemeinsam mit anderen Initiativen eine Ausstellung zum inhaftierten Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki im Bundestag organisiert. Im Paul-Löbe-Haus wurde auf Stellwänden das Leben des Bürgerrechtlers nachgezeichnet, der in Belarus zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Zur Ausstellung reiste auch sein alter Weggefährte bei der NGO Viasna an, der Menschenrechtsanwalt Leanid Sudalenka. Auch er war zeitweilig inhaftiert, ist inzwischen wieder frei und lebt im Exil. Bei seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung sagte er: «Ich möchte immer wieder in Erinnerung rufen, dass Europa nicht irgendwo bei Warschau endet. Dahinter gibt es ein kleines, ganz schönes Land, das wir irgendwann einmal in einem demokratischen Europa sehen wollen.» 

Ina Valitskaya versteht sich als Kulturvermittlerin und hilft Exilbelaruss*innen, an einen neuen Pass zu kommen 

Ina Valitskay
Ina Valitskay

Ina Valitskaya stammt aus Orscha im Osten von Belarus, lebt aber schon seit 2003 in Deutschland. Sie wohnt heute in München, ist ebenfalls im Vorstand von Razam. Die 43-Jährige organisiert in der bayerischen Landeshauptstadt seit zwei Jahren das Festival Minsk x Minga (das im Herbst 2024 erneut stattfindet). Spricht man sie auf politischen Aktivismus an, winkt sie zunächst ab: «Politik ist eigentlich gar nicht so meins. Aber angesichts der politischen Lage in Belarus verstehe ich nicht, wie man sich nicht dafür interessieren kann, was dort passiert.» Valitskaya sieht sich als Kulturvermittlerin, bei Minsk x Minga organisiert sie Konzerte, Theaterstücke, Lesungen und Workshops. Auch Kulturfestivals sind für sie ein Raum des Politischen. «Kultur ist der Ausdruck des Denkens, der aktuellen politischen Lage und, im Falle von Belarus, auch der Protestbewegung.» Sie sieht mit Sorge, dass häufig als Erstes häufig bei Kultur­fördermitteln gespart wird. Das Minsk-x-Minga-Festival wird von der bayerischen Staatskanzlei mitfinanziert, ohne Subventionen ginge es wohl auch nicht. «Kultur ist eine Lokomotive», betont Valitskaya im Videochat, «ohne Kultur geht gar nichts. Kunst und Kultur sind sehr nah an den Menschen und ihren Problemen.» 

Mit Razam aber leistet sie auch sehr konkrete Hilfe für Exilbelaruss*innen. Seit rund einem Jahr können Belaruss*innen, die im Ausland leben, ausgelaufene Pässe nur noch innerhalb von Belarus verlängern, nicht mehr bei den Botschaften im Ausland. Eine Schikane des Regimes, das auf diese Weise zur Rückkehr zwingen will. «Wir setzen uns gemeinsam mit anderen Organisationen dafür ein, dass dieses Problem gelöst wird», sagt Valitskaya. Razam hat den Dialog mit der Bundesregierung, Ländern, Kreisen und Kommunen gesucht, denn viele Belaruss*innen leben ohne gültigen Pass in Deutschland, seitdem das Regime von Lukaschenko dieses Gesetz erlassen hat. 

Der Verein Razam vermittelt unter anderem psychologische und medizinische Hilfe für Opfer von Polizeigewalt 

Für Menschen, die unter Repression gelitten haben und geflohen sind, hält Razam psychologische Hilfsprogramme bereit. An der Seite anderer Organisationen wie Libereco bietet der Verein überdies medizinische Hilfe für jene, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind. Auf der LGBTQ-Community, die in Belarus kriminalisiert wird, liegt ein besonderes Augenmerk. In Hamburg und Berlin organisierte Razam Veranstaltungen, die sich ausdrücklich an sie richteten. Auch historische Veranstaltungen sind dabei: In mehreren Städten wurde an die «Nacht der erschossenen Dichter» 1937 erinnert. Bei den Stalin’schen Säuberungen ermordete der sowjetische Geheimdienst in Minsk in jenem Jahr in nur einer Nacht 132 Vertreter der intellektuellen Elite von Belarus, darunter viele Schriftsteller und Dichter. 

Ein weiteres wichtiges Thema für Razam: die Sprache. Eigentlich ist Belarus ein zweisprachiges Land, sowohl das Belarussische als auch das Russische sind Amtssprachen. In der Realität aber dominiert das Russische. Lukaschenko sucht die Nähe zu Russland, seine Sprachpolitik ist Teil der gezielten Russifizierung des Landes, deren Bürger*innen sich 2020 Richtung EU und Demokratie bewegen wollten. Die zivilgesellschaftliche Opposition im Land macht sich weiter für die belarussische Sprache stark – auch um sich vom russischen Nachbarn abzugrenzen. In Deutschland organisiert Razam Angebote in belarussischer Sprache: Lesungen, Diskussionen, Filmvorführungen, Kinderveranstaltungen. «Vielleicht fangen so noch mehr Menschen an, die Sprache zu sprechen», meint Valitskaya. «Auch ich habe erst vor einigen Jahren damit begonnen.» Dzmitry Shershan hat derzeit einen Meniskusschaden und wurde gerade operiert. Er musste eine Pause machen, wartet darauf, wieder fit zu werden. Bald beginnt er in Deutschland eine Ausbildung zum Physiotherapeuten, dann wird er weiter kämpfen: auf der Judomatte und natürlich bei Razam. 


Jens Uthoff ist Redakteur der taz. Er hat sich in den vergangenen Jahren mit der politischen Situation im osteuropäischen Raum befasst, insbesondere in Belarus, im Baltikum und in der Ukraine.

Der Verein Razam wurde am 9. August 2020 gegründet, dem Tag, als Lukaschenko die Wahl­ergebnisse manipulierte. Die Orga­ni­sation hat rund 300 Mitglieder und ist über Deutschland ver­streut, es existieren Zusammen­schlüsse in München, Bremen, Hamburg, Berlin und mehreren Städten in Nordrhein-­Westfalen. In Deutsch­land lebten Ende 2022 etwa 29.000 Belaruss*innen, darunter viele im Exil.

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