In verschiedenen Regionen weltweit ist ein bemerkenswerter Anstieg oder in einigen Fällen eine Wiederbelebung rechtsradikaler Ideologien zu beobachten. Dieser Trend steht in engem Zusammenhang mit zunehmender Fremdenfeinlichkeit und Mehrheitsgefühlen, die die demokratischen Prinzipien und Freiheiten, insbesondere die Religionsfreiheit und die Gewissensfreiheit, stärker ins Visier nehmen. Europa, das historisch als Wiege der Aufklärung und der Renaissance gefeiert wurde, kämpft derzeit mit rasanten demografischen und sozialen Veränderungen durch Migration, einer verstärkten Ablehnung von Migrant*innen und einem bemerkenswerten Anstieg der Islamophobie. Dieser Rückschlag wird oft als Bedrohung für etablierte kulturelle Normen und Weltanschauungen wahrgenommen, wie das umstrittene Kopftuchverbot in Frankreich zeigt, das eine breitere Debatte über die Regulierung der Beziehungen zwischen Staat und Religion ausgelöst hat.
Indien ist als junge und dynamische Demokratie anerkannt und sieht sich gleichzeitig ebenfalls mit zunehmenden Problemen des Mehrheitsdenkens konfrontiert; einige wähnen das Land bereits auf dem Weg in eine gewählte Autokratie. Dennoch scheint das Land die Balance wiederzufinden. Ein Blick auf die indische Demokratie kann Chancen aufzeigen, wie gegengesteuert werden kann.
Europa folgt keinem einheitlichen Modell der Beziehungen zwischen Staat und Kirche; stattdessen zeigt es ein vielfältiges Spektrum von Beziehungen in verschiedenen Ländern. Während die Vorstellung einer strikten Trennung zwischen Kirche und Staat aus externer Sicht als charakteristisch erscheinen mag, ist die Realität erheblich nuancierter. Verschiedene europäische Nationen erkennen unterschiedliche christliche Konfessionen innerhalb ihrer jeweiligen staatlichen Rahmenwerke an und privilegieren sie.
In mehreren nordischen Ländern – nämlich Norwegen, Finnland, Island, Dänemark und Schweden – ist die evangelisch-lutherische Kirche sowohl etabliert als auch mit bestimmten Privilegien durch den Staat ausgestattet. In England hat die anglikanische Kirche einen hervorgehobenen Status, in Schottland ist es die presbyterianische Kirche, in Griechenland bestimmt die östlich-orthodoxe Kirche Christi das religiöse Leben. Diese Beispiele veranschaulichen die komplexe und facettenreiche Natur der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Europa.
Das Konzept des Säkularismus in Indien, das ein grundlegendes Element der indischen Demokratie darstellt, ergibt sich aus der inhärenten Vielfalt des Landes. Im Gegensatz zu europäischen Nationalstaaten, die oft um eine einzige Religion und Sprache herum entstanden sind, entstand Indien nach seiner Unabhängigkeit vom britischen Empire als Nationalstaat. Die Vielfalt Indiens umfasst eine breite Palette von Sprachen, Ethnien, Religionen und Kasten. Die Vision der Gründer des unabhängigen Indiens ist in der Verfassung und ihrer Präambel verankert und spiegelt das Engagement für eine säkulare Demokratie wider, in der allen Bürgern – unabhängig von Sprache, Religion, Kaste oder Ethnie – Gleichheit gewährt wird. Dieses Rahmenwerk unterstreicht die Bedeutung des Säkularismus für die Wahrung der Integrität und Einheit einer vielfältigen Nation.
Ein Säkularismus, der die Religionsfreiheit sowohl von Gemeinschaften als auch von Einzelnen schützen soll
Um Gleichheit zu gewährleisten, übernahm der indische Staat ein Prinzip des Säkularismus, das sich grundlegend von dem Konzept der strikten Neutralität oder Trennung von Staat und Religion unterscheidet, wie es in Europa allgemein verstanden wird. Der indische Säkularismus soll die Religionsfreiheit sowohl von Gemeinschaften als auch von Einzelnen schützen. Das bedeutet, dass der Staat keine bestimmte Religion als offizielle Religion unterstützt und zu allen gleichermaßen Abstand oder eine «grundsätzliche Distanz» wahrt. So will er sicherstellen, dass alle Religionen geschützt werden. Es gibt keine Staatsreligion, weder Steuern noch öffentliche Mittel dürfen zur Förderung einer bestimmten Religion verwendet werden.
Darüber hinaus darf in öffentlichen Schulen keine Religion unterrichtet werden. Trotzdem dürfen religiöse Gemeinschaften in Indien ihre kulturellen Praktiken fördern, religiöse Eigentümer pflegen und religiöse Prozessionen durchführen. Allerdings wurden solche Prozessionen gelegentlich als Vorwand genutzt, um religiöse Gewalt gegen Muslime zu schüren. Kürzlich haben einige Universitäten Kopftuchverbote auf dem Campus erlassen, die sich unverhältnismäßig stark auf muslimische Studierende auswirken. Darüber hinaus haben einige Bundesstaaten begonnen, islamische Lehreinrichtungen (Madrasas) nicht mehr anzuerkennen, was zu ihrer Schließung führen könnte. Es gibt auch einen Gesetzesvorschlag, um strengere Vorschriften für Waqf-Liegenschaften (Institution islamischen Rechtes) durchzusetzen. Das ist durchaus von Bedeutung angesichts der laufenden Bestrebungen, den Status von Moscheen oder dargahs in Frage zu stellen oder «zurückzufordern», indem argumentiert wird, an den Orten hätten zuvor Hindu-Tempel gestanden.
Ein multikulturalistischer Säkularismus, der keine Angst vor religiösen Gemeinschaften und Religion im öffentlichen Leben hat
Derzeit erlebt das Land einen Aufstieg des Hindu-Nationalismus, einer Ideologie, die vom derzeitigen Regierungsregime erheblich unterstützt wird. Sie hat das erklärte Ziel, eine Hindu-Nation zu etablieren, und sie ist mit institutionalisierter Diskriminierung religiöser Minderheiten, insbesondere Muslimen und Christen, verbunden. Im vergangenen Jahr nahmen kommunale Unruhen, Lynchmorde durch den Mob, Hassreden und Hassverbrechen gegen Muslime und Christen erheblich zu. Diese Zunahme an Gewalt wird durch die systematische Aushöhlung demokratischer Institutionen erleichtert.
Das Ergebnis der Parlamentswahlen 2024 deutet jedoch darauf hin, dass die indische Demokratie widerstandsfähiger ist als zuvor erwartet und dass sie in der Lage ist, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Diese Widerstandsfähigkeit lässt sich auf das lange Erbe des Pluralismus, der kompositären Kultur und der verfassungsmäßigen Demokratie zurückführen, die auf Gleichheit und Inklusion setzt. In diesem Zusammenhang ist sicher auch Indiens Modell des multikulturellen Säkularismus wichtig, der keine Angst vor religiösen Gemeinschaften und Religion im öffentlichen Leben hat.
Der indische Staat erlaubt und schützt Orte der Anbetung aller Religionen. Darüber hinaus weisen einige Feste und religiöse Bräuche Elemente aus mehreren Religionen auf. Während des Ganesha-Festes zum Beispiel ziehen die großen Prozessionen oft durch muslimisch geprägte Gebiete, Muslime nehmen begeistert Teil und erbitten bisweilen den Segen von muslimischen Darghas. Ebenso ersuchen Prozessionen während des Muharram, einem der vier heiligen Monate im Islam, möglicherweise den Segen von Hindu-Tempeln, bevor sie beginnen. Die Routen für diese Prozessionen werden in der Regel von «Friedenskomitees» festgelegt, die aus Angehörigen verschiedener Religionen bestehen.
Zusätzlich hält das indische Modell des Säkularismus das Recht auf Religionswechsel aufrecht, sofern solche Bekehrungen frei von Zwang, Betrug oder Anreizen erfolgen. Damit interveniert der Staat auch gegen kastenbasierte Diskriminierung, die weiterhin besteht, gleichzeitig bleiben Kasten ein Bestandteil der hinduistischen Identität. Jüngste Eingriffe des Staates sollen Frauen den Zugang zu bestimmten Tempeln gewähren, der ihnen zuvor aufgrund religiöser Traditionen verwehrt war.
Es ist von entscheidender Bedeutung, starke demokratische Werte wie Pluralismus und religiöse Toleranz zu fördern. Pluralismus erfordert kontinuierlichen Dialog und Konsultation, die entscheidend für den Aufbau von Vertrauen und die Lösung von Konflikten sind, die das Zusammenleben bedrohen. Anhaltende Stereotype gegenüber Minderheiten in Indien und Migrant*innen in Europa zeigen, wie wichtig es ist, Desinformation wirksam zu bekämpfen. Diese Stereotype zu entkräften und eine positive Erzählung des Pluralismus zu konstruieren, ist wesentlich. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Staaten Institutionen entwickeln, die die gerechte Teilhabe aller Bürger*innen fördern und diskriminierende Praktiken angehen.
Neha Dabhade ist Geschäftsführerin des Centre for Study of Society and Secularism in Mumbai. Sie hat zahlreiche Artikel und Berichte in Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Ihre Arbeitsbereiche umfassen Geschlechterfragen, Konflikte, Frieden und Konfliktlösung, Religions- und Glaubensfreiheit, gemeinschaftliche Harmonie und Pluralismus. Sie ist Absolventin des renommierten Tata Institute of Social Sciences in Mumbai.