Eine Collage aus drei Fotos, die Szenen des "Theaters der Unterdrückten" zeigen.

«Wir müssen die Jugend ihre Fehler machen lassen, sonst werden wir sie verlieren.»

Der Theatermacher Hosni el Mokhlis hat sich in der Bewegung des 20. Februar 2011, dem sogenannten Arabischen Frühling, in Marokko politisch engagiert – und wechselte dann mit jungen Leuten zum «Theater der Unterdrückten». Ein Gespräch über die Kraft der Kunst, die Fähigkeit zur Kritik und die Notwendigkeit, Freiräume für Debatten zu schaffen.

Das Interview führte Rasmus Randig. 

Hosni, in einem Interview vor einigen Jahren hast du mal gesagt, du träumst von einem würdevollen Leben in Marokko, du träumst davon, in einer Demokratie zu leben. Was ist aus diesem Traum geworden? 

Der Traum ist immer noch ein Traum. Um zu sagen, dass wir in einer Demokratie leben, muss man ja folgende Fragen beantworten: «Sind die Gewalten getrennt? Sind Justiz und politische Macht miteinander verflochten? Wie steht es um die Qualität der Meinungsfreiheit, der Gedankenfreiheit?» Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. 

Um diesen Weg zu gehen, engagierst du dich im «Theater der Unterdrückten». Kannst du mir erzählen, was das genau ist? Und was ihr dort für eine Arbeit macht? 

«Das Theater der Unterdrückten» ist eine Theatermethodologie, die vom brasilianischen Dramatiker Augusto Boal in den Ende der 1960er Jahre während der Diktatur in Brasilien erfunden wurde. Es ist ein Theater, das die Teilnahme des Publikums ermöglicht. Wir nennen das Publikum den «Spect-Actor», das heißt: Das Publikum schaut zu und nimmt an der theatralischen Handlung teil. Es ist ein Theater, das die Menschen zum Nachdenken anregt, aber auch dazu, in Richtung Veränderung zu handeln. Es ist ein Theater, das Probleme aufwirft und versucht, gemeinsam mit dem Publikum Lösungen und Alternativen zu finden. 

Wie genau macht ihr das? Habt ihr eine besondere Technik? 

Wir sind spezialisiert auf das sogenannte Forumtheater. Das bedeutet vor allem, in der Gruppe eine bestimmte Dynamik zu schaffen. Es ist nicht diese Art von Theater, bei dem der Regisseur eine Idee hat und dann die Schauspieler und Schauspielerinnen ruft. Nein. Die ganze Gruppe ist an diesem Prozess beteiligt. Forumtheater bedeutet weiter, dass wir ausbilden und schulen. Jedes Jahr bieten wir zum Beispiel einen offenen Workshop an, und mittlerweile kommen deswegen Leute aus von Casablanca weit entfernten Gegenden zu uns. 

Damit wir uns etwas mehr vorstellen können: Welches Stück führt ihr gerade auf?

Wir haben gerade zwei Schwerpunkte. Da ist zum einen das Stück, das es schon lange gibt und das wir auch schon oft mit der Heinrich-Böll-Stiftung gemacht haben. Es heißt «Le Conte Des Nez» (Das Märchen der Nasen) und spricht über die Akzeptanz des Anderen, über Migration und Unterschiede. Das ist unser vielleicht berühmtestes oder bekanntestes Stück, mit dem wir ständig unterwegs sind. Und dann haben wir uns in den letzten zwei Jahren mit der Gewalt gegen Frauen während der Covid -Zeit auseinandergesetzt. Dieses Stück heißt «Il n’y a rien à prouver» (Es gibt nichts zu beweisen).

Du warst bei der Protestbewegung in Marokko dabei, die am 20. Februar 2011 begann, hast also politisch gearbeitet. Gab es eine Erfahrung oder ein Schlüsselerlebnis, das dich dazu brachte, nach einem Jahr ins Theater und zur Kunst zu wechseln? 

Ich hatte ja schon vorher Theater gemacht. Vor dem 20. Februar habe ich in Spanien, in Barcelona, fünf Jahre lang gelebt und hatte eine Ausbildung im «Theater der Unterdrückten» hinter mir. Im Jahr des 20. Februar war ich im Kommunikationskomitee dieser Bewegung, weil ich mehrere Sprachen spreche, nämlich Arabisch, Französisch und Spanisch. Nach etwa einem Jahr begannen die Demonstrationen nachzulassen, und wir, die Demonstranten, wurden immer weniger im Vergleich zu denen, die uns zusahen. Wir marschierten durch die Straße und die Leute sahen uns zu. 

War es diese Erfahrung, die dich motivierte, einen anderen Weg zu suchen? 

Mich hat das damals schockiert und ich dachte: «Ich kenne das ‹Theater der Unterdrückten›, warum es nicht den jungen Leuten vorschlagen?». Und die waren sehr motiviert, etwas Neues auszuprobieren, nach all diesen schlechten Erfahrungen. Also begannen wir mit Proben in dem Raum, in dem wir die Generalversammlungen der Bewegung hatten. Nach drei oder vier Monaten gingen wir auf die Straße und begannen unsere Arbeit, die wir bis jetzt tun. 

Jetzt, mehr als zehn Jahre nach den Ereignissen und zehn Jahren Theater: Hat sich etwas durch eure Arbeit verändert im Vergleich zu dem, was du 2011 erlebt hast? 

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, wir hätten auf der Makroebene viel bewegt. Aber auf der Mikroebene eben doch eine ganze Menge. Ich denke, wir haben dazu beigetragen, dass die marokkanische Zivilgesellschaft beginnt, das Forumtheater oder Kultur im Allgemeinen als Motor des Wandels oder als Motor für die Entwicklung von Veränderungsprojekten zu sehen. Nicht als Sahnehäubchen auf dem Kuchen oder als Abschlussvorstellung eines Projekts. Wir versuchen zu vermitteln, dass Kunst, dass Theater zum sozialen und politischen Wandel beitragen oder zumindest den Menschen helfen kann, zu kritisieren und eine Entscheidung zu treffen. Ich denke, wir konnten viele Debatte öffnen und öffnen sie weiterhin. 

Kannst du mir ein Beispiel geben, ein Thema nennen, das ihr gemeinsam mit den Menschen mit eurem Theater angestoßen habt? 

Wie spielten ein Stück über Demokratie, Korruption und das marokkanische Justizsystem, vor etwa sieben oder acht Jahren. In diesem Stück gab es einen Richter, der ein Urteil fällen sollte, aber er erhielt einen Anruf. In diesem Moment haben wir den Leuten gesagt, sie sollten teilnehmen und wir fragten sie: «Was wird der Richter tun, wenn er diesen Anruf erhält?». Viele Leute wollten nicht eingreifen, aber ich werde mich immer an einen Mann erinnern, den wir «den Verrückten des Viertels» nannten. Er ergriff das Wort, der Richter wehrte ihn ab und er erwiderte: «Nein! Das Problem bin nicht ich, man muss denjenigen suchen, der anruft.» Alle begannen zu applaudieren. Auf Mikroebene ist das Ziel, das Bewusstsein zu schärfen. Das mag wenig erscheinen, aber für uns ist es sehr wichtig, wenn die Menschen erkennen, dass es ein kollektives Bewusstsein gibt, weil die Leute bereit sind zu sehen, zu kritisieren und eine Entscheidung zu treffen. 

Hast du jemals darüber nachgedacht, dich auf andere Weise für die Gesellschaft zu engagieren? Als Journalist zum Beispiel oder in einer etablierten oder neuen politischen Partei? 

Ich habe es mit einer politischen Partei versucht, aber nach einem Jahr konnte ich nicht mehr. Schon bei der zweiten oder dritten Sitzung wusste ich, dass das nicht mein Weg ist, einfach weil es so viele Diskussionen gab. Meine Freunde kennen mich, ich benutze oft das Wort «Sprachproduktion». Es kam mir seltsam vor, von einer Sitzung zur nächsten zu gehen, von einer Pressemitteilung zur nächsten. Es war nicht mein Weg, aber es gibt andere junge Leute in dieser Bewegung, die diesen Weg gegangen sind und gut zurechtkommen. 

Ermöglicht das Theater Dinge, die die Politik nicht kann, und umgekehrt? 

Aus meiner Sicht entscheiden Politiker ein wenig für die anderen, während in dieser Art von Theater gemeinsam entschieden wird. Hier in Marokko sehen wir die Politiker nur zu den Wahlen. Sie sind etwas entfernt. Was das Theater tun kann, ist, die Distanz zum Publikum zu verringern oder diese Distanz sogar ganz aufzuheben und zur Aktion überzugehen. Politiker oder Politikerinnen, selbst wenn sie zuhören, sind diejenigen, die die Aktion alleine für die anderen durchführen. Das bedeutet nicht, dass die Politik schlecht ist, sie hat auch ihre Rolle auf der Makroebene. Sie kann Lobbyarbeit auf institutioneller Ebene leisten. Sie kann Themen im Parlament diskutieren. Sie kann Dinge in den Gemeinden bewegen. Wenn man echte Politik macht. 

Bei der Europawahl haben viele junge Leute für rechts­extreme Parteien gestimmt. Wie kann man sie dazu bringen, frei zu debattieren, und nicht nur in den fragmentierten sozialen Netzwerken? 

Es gibt einen Unterschied, ob man jemand wirklich unterstützt oder die Rolle des weisen oder wissenden Mannes annimmt, der sagt, was zu tun ist. Wir haben das Gefühl, dass es immer noch der weiße Mann ist, der uns sagt: «Das ist gut für dich und das ist nicht gut für dich.» Die marokkanische Jugend wird zunehmend empfindlich gegenüber dieser Bevormundung. Ein Jugendlicher hat seine Eltern, er hat die Schule, er hat die Institutionen. Wenn du in Vertretung der Zivilgesellschaft oder als Akteur *in des Wandels kommst und bevormundest, wird es Widerstand geben. 

Wie sieht gute «Unterstützung» denn konkret aus? 

Man muss die jungen Leute träumen lassen, ihnen vertrauen und vor allem sie ihre Fehler machen lassen. Es ist nun mal so in der Politik: Wenn jemand lange regiert oder überhaupt regiert, macht er Fehler, und wenn er nichts tut, gewinnt er, weil er nichts gemacht hat. Das ist gefährlich, besonders wenn es die jungen Leute sind, die so abgestimmt haben. Wir müssen Räume für sie schaffen. Wir müssen sie ihre Fehler machen lassen, ihnen zuhören, sie begleiten und nicht den Pädagogen, die Eltern oder Schule spielen. Sonst werden wir sie noch mehr verlieren. 


Hosni el Mokhlis ist Regisseur und gleichzeitig der künstlerische Leiter des Theaters der Unterdrückten in Casablanca sowie der Vereinigung Gorara für Kunst und Kulturen. Parallel arbeitet er als Trainer im Forumtheater und nimmt an zahlreichen Kulturprojekten als Berater teil. 

Rasmus Randig ist Referent für internationale Demokratie und stellvertretender Leiter der globalen Einheit für Demokratie und Menschenrechte der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel. Er studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Glasgow und Konstanz und arbeitete im Bereich Krisen­prävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt. 

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