„Demokratie kann sich selbst nicht schützen“

Věra Jourová, von 2019-2024 Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz, blickt zurück auf fünf Jahre Arbeit für den Schutz von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in der EU. Für die Zukunft fordert sie die Stärkung von Medienkompetenz und digitaler Bildung, mehr Investitionen, um Propaganda aus autoritären Staaten zu bekämpfen, und eine stärkere Zusammenarbeit der EU-Institutionen.

Das Interview führte Sophie Pornschlegel.

Frau Vizepräsidentin, das Mandat der letzten Europäischen Kommission begann 2019: Warum hat Präsidentin Ursula von der Leyen sich damals entschieden, die Demokratie zu einer der sechs Prioritäten zu erklären?

Im Jahr 2019 sahen wir die Demokratie eigentlich noch nicht ernsthaft gefährdet, doch die Bedrohungen nahmen zu: die Diskriminierung von Minderheiten, die Zunahme von Hassrede und Desinformation sowie Rückschritte in der Rechtsstaatlichkeit in mehreren Mitgliedstaaten. Ein wachsender Prozentsatz der Bevölkerung hatte das Gefühl, dass die Demokratie für sie nicht mehr funktioniert. Deswegen hat sich Ursula von der Leyen so entschieden – und das war auch eine Entscheidung zwischen Popularität und Prinzipientreue: Wenn man an der Demokratie-Agenda arbeitet, schafft man sich nicht nur Gegner*innen, sondern mächtige Feind*innen.

Welche Initiativen waren erfolgreich und welche Lektionen haben Sie während dieser Amtszeit gelernt?

Wir haben erkannt, dass die Demokratie nicht „zaubern“ und sich nicht selbst schützen kann. Also begannen wir, an drei Säulen zu arbeiten, die ich als „Heilige Dreifaltigkeit“ bezeichne und die eng miteinander verbunden sind: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Wir haben als erste Säule den Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit veröffentlicht, der alle 27 Mitgliedstaaten erfasst, die Trends beobachtet und einen frühzeitigen Dialog einleitet. Die zweite Säule war der Europäische Aktionsplan für Demokratie (EDAP) mit konkreten Maßnahmen zum Schutz freier und fairer Wahlen, einer wirksameren Bekämpfung von Desinformation und der Stärkung der Medien. Die dritte Säule schließlich sind die Grundrechte, zu denen wir viele verschiedene Aktionen durchgeführt haben, wie die Strategien für LGBTQI, für die Roma und gegen Antisemitismus, und wir haben in diesem Mandat viel für Geschlechtergerechtigkeit erreicht.

Was hätten Sie rückblickend noch mehr bedenken müssen?

Einen Aspekt haben wir vernachlässigt: unser Verständnis von Russland. Während die Menschen glücklicherweise wissen, was Auschwitz bedeutet, wissen viele nicht, was Kolyma bedeutet (ein stalinistisches Gulag in Sibirien, Anm. d. Red.). Diese Unterschätzung erwies sich als sehr gefährlich, als Russland den Krieg in der Ukraine begann. Das war der Moment, in dem die Menschen im Osten den Menschen im Westen sagen konnten: „Seht her, wir wissen, was Putin plant.“

Viele Kompetenzen liegen in den Händen der Mitgliedstaaten. Welche Themen und Dossiers waren deshalb besonders schwierig voranzubringen und warum?

Unsere Kompetenzen sind besonders stark im Bereich Technologie und Innovation, die den individuellen Rechten der Menschen dienen und den öffentlichen Raum stärken sollen. Das neue Gesetz über künstliche Intelligenz, das Digitale-Dienste-Gesetz, die Verordnung über politische Werbung und das europäische Medienfreiheitsgesetz geben neuen Technologien und Innovationen einen angemessenen Rechtsrahmen, der sicherstellt, dass sie sich nicht gegen die Menschen und die Demokratie wenden. Die Mitgliedstaaten haben die Europäische Kommission wirklich unterstützt, da sie wussten, dass sie allein nicht groß genug sind, um die großen Technologieunternehmen zu bändigen.

Ist die Europäische Kommission ausreichend befugt, die Demokratie in Bereichen wie Wahlsicherheit und Korruption zu schützen?

Ich denke, die derzeitige Rechtsgrundlage für die Kommission reicht aus. Gleichzeitig müssen wir die Medienkompetenz und die digitale Bildung noch stärker fördern. Das Verständnis für unsere jüngste Geschichte ist etwas mangelhaft, was zu einer möglichen Wiederholung der schlimmsten Ereignisse führen könnte. Unsere Probleme werden immer größer, und die Mittel für die Förderung der „Köpfe und Herzen“ der Europäer*innen immer knapper. Wir brauchen eine Finanzierung ohne Indoktrination. Auch mehr kritisches Denken, mehr Unterstützung für die Bürger*innen, damit wir mit der Informationsflut umgehen können und die Fähigkeit erwerben, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.

Die Beziehungen zu Ungarn und Polen waren eine Herausforderung, und es gibt wachsende Bedenken gegenüber Italien. Wie gut war die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten bei der Demokratie-Agenda? Hatten Sie Unterstützung von größeren Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland?

Oft sagten mir Entscheidungsträger*innen, die Kommission solle sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen, während andere uns baten, einzugreifen und zu helfen. Die Kommission muss sich ihrer eigenen Macht sehr bewusst sein. Das ist ein ständiges Streben nach Gleichgewicht. Insgesamt sind wir jetzt in einer recht guten Position gegenüber den Mitgliedstaaten. Der Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit hat es uns ermöglicht, den Dialog mit einer klaren methodologischen Bewertung zu strukturieren. Alle lassen sich darauf ein, auch wenn sie unterschiedliche Ansichten zu unserer Bewertung haben.

Die letzten EU-Ratspräsidentschaften waren sehr zurückhaltend in puncto Rechtsstaatlichkeit, weil sie befürchteten, dass dies die Zusammenarbeit in anderen Bereichen wie zum Beispiel in der Außenpolitik beeinträchtigen könnte. Wie steht es um die Beziehungen der EU-Kommission zum EU-Rat?

Was die verschiedenen Zuständigkeiten angeht, halte ich das EU-System für sehr ausgewogen. Im Großen und Ganzen liegen präventive Maßnahmen in den Händen der Kommission. Repressive Maßnahmen, wie das Einfrieren von Finanzmitteln und die Aussetzung von Stimmrechten, liegen bei den Mitgliedstaaten, auch wenn sie auf genauen Analysen und Empfehlungen der Kommission beruhen. Auslegende Maßnahmen liegen in der Hand des Europäischen Gerichtshofs. Es wäre eine schlechte Entwicklung, wenn die Kommission versuchen würde, irgendwo am Rande des Lissabon-Vertrags weitere Kompetenzen hinzuzufügen. Mit den Befugnissen, die wir haben, kann man schon viel machen – und auf jeden Fall sollte die Kommission nicht die nationalen Verfassungsgerichte und den freien Willen der Bürger*innen ersetzen.

Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 haben Vertreter*innen von NGOs in Bulgarien von fortdauerndem Stimmenkauf berichtet. Haben Sie mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass alle Bedrohungen – von innen und von außen – für die Demokratie berücksichtigt werden?

Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Demokratie selbst kannibalisieren kann. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel, der Wiege der modernen Demokratie, könnte die Person, die den Putsch gegen den demokratischen Staat organisiert hat (der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, Anm. der Red.), wiedergewählt werden. Das bedeutet, dass die Hälfte der Wähler*innen in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich glauben wird, dass die Wahlen manipuliert wurden, falls Trump scheitert. In diesen 100 Tagen vor den Wahlen sollte etwas getan werden, um das Wahlsystem zu schützen, um den Menschen die bestmögliche Sicherheit zu geben, dass es keine Manipulationen gibt.

Welche Formen der Bedrohung von außen sehen Sie für Europa?

Erstens gibt es Desinformation und den Missbrauch künstlicher Intelligenz mit Einmischung von staatlichen Akteuren wie Russland, China und Iran. Die zweite Form ist die Spionage. Das liegt nicht in der Zuständigkeit der Kommission, sondern wird von Geheimdiensten koordiniert und geregelt. Der dritte Bereich ist die Cybersicherheit. Hier haben wir ein gut etabliertes System der Zusammenarbeit zwischen unseren Expert*innengremien, mit der Generaldirektion Connect, der ENISA und nationalen Stellen. Wir haben die Gesetze verbessert und die Mittel aufgestockt. Schließlich sind da noch die Korruption und die verdeckte Finanzierung von Parteien und politischen Akteur*innen. Die nächste Europäische Kommission wird mehr tun müssen, um die Interessenvertretung und die ausländische Finanzierung in der EU zu regeln. Dabei wird sie auf unserem Vorschlag zur Verteidigung der Demokratie aufbauen können, in dem wir zu neuen Vorschriften über die verdeckte Einflussnahme durch Drittländer anregen.

Was würden Sie Ihrem/ Ihrer Nachfolger*in für das Ressort Demokratie empfehlen?

Die Bemühungen um den Schutz der Demokratie in Verbindung mit der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten müssen fortgesetzt werden, und das ist eine gemeinsame Aufgabe aller Mitgliedstaaten. Zweitens wird die Finanzierung entscheidend sein. Wenn man sich anschaut, wie viele Milliarden Russland in die Verbreitung von Propaganda in Europa investiert, und wie viel wir in unsere Verteidigung investieren, dann besteht da ein absolutes Ungleichgewicht. Und schließlich sollten die EU-Institutionen stärkere interne Synergien schaffen – wir müssen besser zusammenarbeiten, um die Demokratie zu schützen.


Věra Jourová ist seit 2019 Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz.

Sophie Pornschlegel ist Director of Studies and Development bei Europe Jacques Delors, einem Thinktank mit Sitz in Brüssel. Sie lehrt EU-Integration an der Sciences Po Paris und hat im November 2023 das Buch „Am Ende der gewohnten Ordnung – Warum wir Macht neu denken müssen“ auf Deutsch veröffentlicht.

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