Die zwei Seiten der Proteste

Sie kämpfen gegen Korruption, soziale Ungleichheit oder den Klimawandel: Soziale Bewegungen haben weltweit eine Schlüsselrolle im poli­tischen Wandel ein­genommen. Wie können internationale Geberorganisationen diese Bewegungen unterstützen? Und damit auch verhindern, dass sie zerstörerische Kräfte freisetzen oder von Demagogen vereinnahmt werden?

Illustration zweier Personen, eine hält eine Vielzahl von Schildern in der Hand und hat viele Pfeifen um den Hals

Wenn künftige Historiker*innen auf die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts zurückblicken, wird ihnen eine unbestreitbare Tatsache auffallen: Proteste wurden immer häufiger und als gängigste Form der Mobilisierung einer der Hauptmotoren des politischen Wandels. Und vielleicht ergibt sich im Rückblick dann ja auch ein besseres und tieferes Verständnis dieses Musters, das weltweit und sowohl in Demokratien als auch in autokratischen Regimen auftritt (so unterschiedlich die beiden Systeme auch damit umgehen). Proteste sind jedoch so allgegenwärtig und relevant für unser Verständnis der Geopolitik geworden, dass wir möglicherweise nicht auf zukünftige Historiker*innen warten müssen, um sie zu erklären, da wir bereits auf hochmoderne und aktuelle Forschung zurückgreifen können. 

Die Forschung nutzt eine Mischung aus qualitativen und quantitativen Quellen und Techniken, von Medienberichten, Beobachtungen, Fallstudien und Augenzeugenberichten bis hin zu Umfragen, Geo-Daten oder großen Datensätzen, erfasst von einer stets wachsenden Zahl an Instrumenten zur Beobachtung und Datenerhebung. Damit untersucht sie Proteste auf ihre interne Dynamik und treibenden Kräfte, auf die Faktoren, die sie gewaltfrei halten, auf ihren Beitrag zur Demokratisierung, auf Folgeereignisse oder auch auf die positiven und negativen Auswirkungen der Unterstützung aus dem Ausland. 

Der letztgenannte Aspekt ist besonders wichtig für die Interessen der internationalen Gemeinschaft. Sie erkennt die Bedeutung sozialer Bewegungen für Demokratie, Entwicklung und Konfliktbewältigung zwar an, tut sich aber schwer, sie auf legitime und wirksame Weise zu unterstützen. Legitimität und Wirksamkeit sind tatsächlich die beiden entscheidenden Variablen, die die Haltung von Geberorganisationen gegenüber Protesten bestimmen. Ich habe aus erster Hand erfahren, wie wirksam es sein kann, wenn sie sie sich engagieren. Aber auch, wie sie ihre Chance auf politische Einflussnahme verspielen, weil sie passiv blieben und gewaltfreie Bewegungen nicht unterstützten – selbst auf die Gefahr hin, jahrelange Entwicklungshilfe- und Demokratieförderung zunichtezumachen. 

Wenn Menschen zusammenkommen, ist das auch eine Form von Macht, die kippen kann 

Ob es um Korruption, Ungleichheit, Umweltkatastrophen oder Klimawandel geht: Proteste sind immer eine Reaktion auf Handlungen von Machthabern, die als unannehmbarer Missbrauch empfunden werden. Sie sind aus Sicht der Teilnehmenden die letzte Möglichkeit, die Stellen der Macht zur Verantwortung zu ziehen. Das erklärt vielleicht, warum neben Wählen oder Zahlen von Steuern der Gang auf die Straße zu einer der wichtigsten Formen politischer Beteiligung geworden ist – insbesondere bei Jugendlichen und anderen Gruppen, die sich von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlen. Das Risiko, das mit der Herausforderung von Macht einhergeht, ist selbst in noch unvollkommenen demokratischen Systemen viel geringer als in voll ausgeprägten Diktaturen. Letztere setzen vor allem auf den sogenannten Chilling Effect, eine Art Selbstzensur, bei der Einzelne aus Angst vor Repressalien und Misstrauen gegenüber ihren Mitbürger*innen nicht mehr wagen, ihre Meinung offen zu äußern. 

Daher nennt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als eine der wichtigsten politischen Freiheiten. Es wäre allerdings äußerst naiv, sie ausschließlich als Mittel zur Kontrolle von Macht zu betrachten. Allein der Akt des Zusammenkommens von Menschen ist an sich eine Form von Macht und kann daher sowohl konstruktive als auch destruktive Kräfte freisetzen. Deshalb ist Gewaltlosigkeit das Schlüsselkriterium bei der Frage, ob sich eine Bewegung ihrer dunkelsten Seite zuwendet. In dem Fall hätten wir es nämlich damit zu tun, was Hannah Arendt als «Mob» verachtete; Elias Canetti sprach mystifizierend in fast esoterischen Begriffen von der «Menge», die eine zentrale Rolle beim Aufstieg des Faschismus spielte und für totalitäre Regime maßgeblich war. 

Die internationale Gemeinschaft darf die klare politische Botschaft einer Bewegung nicht überhören 

Soziale Bewegungen und Proteste sind ihrem Wesen nach dynamisch und somit unbeständig und schwer vorhersehbar. Doch rechtfertigen diese Unwägbarkeiten kaum, die Augen vor ihnen zu verschließen, sie zu ignorieren. Wie komplex sie auch sein mag: Die internationale Gemeinschaft darf die klare politische Botschaft nicht überhören, die von Protestierenden ausgeht, die gemeinsam zum Ausdruck bringen, dass sie mit etwas nicht einverstanden sind. In diesem Sinne ist Unterstützung aus dem Ausland gerechtfertigt, nicht nur, um die Menschenrechte zu schützen und diejenigen, die sie respektieren und verteidigen. Es gilt auch zu verhindern, dass Bewegungen gewalttätig oder von Demagogen übernommen werden. 

In Kirgisistan beispielsweise konnte ich beobachten, dass Vertreter*innen der Zivilgesellschaft recht zuversichtlich waren, Präsidenten, die ihr Amt missbrauchen, durch Straßenproteste absetzen zu können – so wie sie es bei der Tulpenrevolution im Jahr 2005 mit Askar Akajew und fünf Jahre später mit Kurmanbek Bakijew getan hatten. Als jedoch prodemokratische Aktivist*innen versuchten, Sooronbay Jeenbekov wegen mutmaßlichem Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen 2020 zu entmachten, wurden ihre zunächst friedlichen Proteste von einer gewalttätigen Gruppe gekapert. Diese nutzte das Machtvakuum und stürmte das Gefängnis, in dem der ehemalige Parlamentsabgeordnete und nationalistische Politiker Sadyr Japarov wegen des Verdachts der Entführung eines Provinzgouverneurs einsaß. Japarov machte sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Politiker*innen zunutze und ergriff mit politischen Manövern die Macht. Dies gelang ihm nicht zuletzt dank der Einschüchterungstaktiken seiner Anhängerschaft, die sich gewaltsam der Protestbewegung bemächtigte. Seitdem befindet sich das Land, das einst als einzige Demokratie in Zentralasien galt, in einem steilen Niedergang und politische Freiheiten wurden drastisch beschnitten. 

In Armenien konnte ich den gegenteiligen Trend beobachten: Friedliche Proteste und große landesweite Märsche führten zu der armenischen «Samtenen Revolution» und brachten Nikol Pashinyan an die Macht. Zu der Zeit war ich für das Netzwerk Europäische Partnerschaft für Demokratie (EPD) an einem politischen Dialogprozess über die sozioökonomischen Rechte von Frauen beteiligt, der darauf abzielte, das Arbeitsgesetzbuch zu verbessern. Aufgrund des Umbruchs gerieten unsere Gespräche mit dem Ministerium zunächst über Monate hinweg ins Stocken. Das Warten lohnte sich jedoch, denn mit dem Amtsantritt der neuen Regierung wurde unser Dialog wieder aufgenommen. Er führte zu vielversprechenderen Ergebnissen als eine Art Auftakt und, wie wir hoffen, auch als ein Beitrag zu den bemerkenswerten Fortschritten, die Armenien in den vergangenen Jahren in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gemacht hat. Doch auch dieses hoffnungsvolle Bild verdüstert sich: Seit der Invasion des Nachbarlands Aserbaidschan in Bergkarabach im Jahr 2020 und dem dramatischen Zustrom von Geflüchteten zieht es viele Armenier*innen wieder auf die Straße. Im Rahmen nationalistischer und immer gewalttätiger Proteste beschuldigen sie Paschinyan des Verrats. 

Was also kann die internationale Gemeinschaft tun ‒ einschließlich der Zivilgesellschaft und philanthropischen Geberorganisationen? Viel mehr, als man vielleicht zunächst denken könnte. Zunächst einmal müssen ausländische Akteure aufmerksam sein und die Dynamik der Proteste sowie die Beweggründe der verschiedenen, heterogenen Gruppierungen hinter diesen sozialen Bewegungen analysieren und zu verstehen versuchen. Auf Basis einer guten Forschung kann sich die internationale Gemeinschaft besser durchsetzen und ihre diplomatischen Ressourcen mobilisieren, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben (z. B. durch Sanktionen) und die Rechteinhaber zu unterstützen (durch Präsenz bei Gerichtsverfahren oder Bereitstellung von Visa und juristische Unterstützung, um nur einige Beispiele zu nennen). 

Es kann aber auch sehr wirkungsvoll sein, wenn die Geberorganisationen die Bewegungen an sich unterstützen, indem sie Aktivist*innen in interner Organisation, Verhandlungsführung und gewaltfreien Techniken schulen. Sie können weiter einen Austausch mit Aktivist*innen aus anderen Ländern vermitteln oder sie dabei unterstützen, Koalitionen zu bilden und Kampagnen zu organisieren. Mit anderen Worten: Indem sie die Macht- und Organisationsdynamik hinter den Protesten verstehen und ihre Hilfe auf die Bedürfnisse der verschiedenen Beteiligten abstimmen, können Geberorganisationen gewaltfreien Bewegungen helfen, widerstandsfähiger zu werden und ihre Ziele mit friedlichen Mitteln effektiv zu erreichen. 

Ich behaupte nicht, dass diese Art von Engagement ohne Risiken ist. Die Alternative ist jedoch, abwartend im Abseits zu stehen, während friedliche Proteste gewaltsam unterdrückt werden und in Krawalle ausarten. Das kann zu weiterem Blutvergießen, einem Coup oder einem Rückschritt für die Demokratie führen. 


Sergio Rodriguez Prieto ist Entwicklungsexperte für Regierungs- und Demokratieförderung mit 20 Jahren Erfahrung in Lateinamerika, Osteuropa, der MENA-Region sowie Zentral- und Südostasien. Er ist Strategieberater bei der Europäischen Partnerschaft für Demokratie und berät Pax for Peace und die Berghof Foundation bei der Entwicklung von Werkzeugen und Methoden zur Unter­stützung gewaltfreier Bewegungen und anderer Formen kollektiven Handelns.

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