«Wir haben nicht gefragt, nicht hin­gehört, nicht hingeschaut.»

Der Bundestag hat eine Enquete-Kommission eingerichtet, um die Fehler des 20-jährigen Engagements in Afghanistan zu analysieren. Eines steht jetzt schon fest: Die Ziele der Demokratieförderung waren von Anfang zu optimistisch gesetzt und ignorierten kulturelle sowie gesellschaftliche Realitäten des Landes. Doch es gibt auch positive Effekte.

In der Enquete-Kommission «Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands» arbeiten Abgeordnete und Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis seit zwei Jahren daran, die Fehler unseres Engagements im Lande zu identifizieren und daraus Lehren für unser zukünftiges entwicklungs-, sicherheits- und außenpolitisches Engagement zu ziehen. 

Heute wissen wir: Die Ziele, die wir uns für die Förderung der Demokratie vorgenommen hatten, waren von Anfang an zu optimistisch. Wir haben uns lediglich auf Bereiche fokussiert, die wir selbst mit erfolgreicher Demokratisierung verbinden.

So haben wir uns frühzeitig auf Wahlen als alleiniges Mittel zur Stärkung demokratischer Institutionen konzentriert – und das ist nur ein Beispiel, das unsere oft kulturblinden Bemühungen in Afghanistan verdeutlicht. Die frühen Parlamentswahlen 2005 wurden noch als Erfolg gefeiert, doch der alleinige Fokus auf Wahlen vernachlässigte andere wichtige Legitimationsquellen einer jungen Demokratie: zum Beispiel die Pressefreiheit, die Möglichkeit der Parteienbildung und die Entwicklung eines in der Breite akzeptierten Rechtsstaates. 

Die Lehren, die wir ziehen müssen, können zur neuen Maxime für die Demokratie­förderung werden 

«Wir haben Afghanistan nicht verstanden.» So könnte das Fazit des Zwischenberichts der Enquete-Kommission vom Februar dieses Jahres lauten. Zu Beginn des Engagements wurden Ziele festgelegt, die kaum zu erreichen waren und nicht zu den Realitäten vor Ort passten. Diese Zielsetzungen wurden auch danach nicht ressortübergreifend geprüft oder evaluiert und dementsprechend angepasst. Es entstand eine Pfadabhängigkeit. Die Kommission konnte im Zwischenbericht herausarbeiten, dass mangelnde Informationen eindeutig die gravierendsten Fehler in der Frühphase des deutschen Engagements für Demokratieförderung waren. Weder die aktuelle Lage noch die gesellschaftliche Struktur wurden hinreichend analysiert. Kurz gesagt: Wir haben nicht richtig zugehört, nicht richtig hingeschaut und auch nicht die richtigen Menschen gefragt. Es fehlte eine umfassende Analyse der ethnischen, kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Aspekte sowie der Sozialstruktur und des Stadt-Land-Gefälles, auf der ein fundiertes Konzept zur Demokratisierung Afghanistans erst hätte aufsetzen können. 

Die Auswahl der afghanischen Akteurinnen und Akteure, die in die Entscheidungsfindung miteinbezogen wurden, war nicht vielfältig genug. Insbesondere das übermäßige Gewicht, das der afghanischen Diaspora beigemessen wurde, schränkte die Perspektive auf die aktuelle Situation im Land erheblich ein. Breite Teile der afghanischen Zivilgesellschaft, insbesondere die Interessen der afghanischen Frauen, wurden nicht ausreichend berücksichtigt, oft sogar eklatant vernachlässigt. 

Die Zivilgesellschaft wurde darüber hinaus fast ausschließlich über NGOs definiert. In Afghanistan, vor allem im ländlichen Raum, manifestiert sich die «traditionelle Zivilgesellschaft» jedoch in Formen wie Ältestenräten, Schuras, Jirgas und Moscheen. Da die Zusammenarbeit aber hauptsächlich auf NGOs beschränkt blieb, wurden ländliche Bevölkerungsgruppen des Südens nicht erreicht und Verteilungskonflikte im Land massiv verstärkt. Nicht selten dienten NGOs nämlich primär dem klientilistischen Zugriff auf Finanzmittel. 

Allerdings wäre es ebenso falsch, die bisher herausgestellten Unzulänglichkeiten bei dem Einsatz für die Demokratie in Afghanistan als «westliche Arroganz» oder schiere Fehleinschätzungen abzutun. Zum einen gab es einige erfreuliche demokratische Entwicklungen, zum Beispiel die logistische Unterstützung während der nationalen Wahlen und die Stärkung der Medienvielfalt. Zum anderen können die Lehren, die wir aus vergangenem Handeln ziehen müssen, zur neuen Maxime für außenpolitisches Handeln insgesamt und Demokratieförderung außerhalb Deutschlands im Einzelnen werden. 

Demokratieförderung im Ausland ist kein kurzfristiges Projekt. Sie muss sorgsam geplant werden, unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gegebenheiten vor Ort, der betroffenen Bevölkerung und ihrem Wertesystem, und sie muss langfristig finanziert werden. Demokratieförderung erfordert Flexibilität. Sie muss anpassungs- und kritikfähig sein und stets einen inklusiven Ansatz verfolgen, der alle gesellschaftlichen Gruppen einbezieht, und eben nicht einen Top-down-Ansatz, der exkludiert und neue Konflikte schafft oder Konflikte weiter verschärft. 

Nur so können wir langfristig dabei unterstützen, stabile politische Systeme aufzubauen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind und die universellen Aspirationen nach Menschenrechten, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Partizipation verwirklichen. Nur wenn wir zuhören, verstehen wollen und unser Engagement regelmäßig auf den Prüfstand stellen, sind wir eine helfende Hand und Stütze auf dem schwierigen und langwierigen Weg hin zu einer nachhaltigen Demokratieförderung.


Schahina Gambir ist Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen und Obfrau in der Enquete-Kommission «Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands». Sie ist ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat.

Dieser Beitrag ist lizensiert mit Creative Commons License