Das Interview führten Zora Siebert und Rasmus Randig Anfang Juli 2025.
Rosa Balfour, wie wird sich die gestärkte extreme Rechte aus Ihrer Sicht auf die Beziehungen innerhalb der EU, aber auch auf die Außenpolitik auswirken?
Wir müssen uns zunächst im Klaren darüber sein, worüber wir reden. In den Medien werden die Begriffe Populismus, Rechtspopulismus, radikale Rechte und populistische Rechte bunt durcheinandergeworfen. In den letzten 15 Jahren war viel vom Populismus die Rede, und in der europäischen Politik hat der Populismus tatsächlich auch zugenommen, im Grunde in einer lange Welle seit den 1980er Jahren. Aber heute geht das Problem von rechtsradikalen Parteien aus, also Parteien, die der extremen Rechten angehören, die demokratisch, aber illiberal sind. Sie haben bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sehr gut abgeschnitten und vereinen zusammen ein Viertel der Wählerstimmen auf sich. Sie sind jedoch nach wie vor in verschiedene Gruppierungen zersplittert. Wie einflussreich sie tatsächlich sein werden, bleibt abzuwarten.
Wenn wir an das Europäische Parlament, aber auch an mögliche Mehrheiten im Europäischen Rat denken ...
... im Europäischen Rat haben wir heute acht Regierungen, in denen die radikale Rechte mitregiert, sei es als führende Partei einer Koalitionsregierung, unterstützender Koalitionspartner oder als alleinverantwortliche Regierung wie in Ungarn. In einigen Tagen* könnten es mit der neuen niederländischen Regierung sogar neun sein. Das ist ein Viertel des Europäischen Rates, und das macht schon etwas aus. Es bedeutet, dass die radikale Rechte als Minderheit Vorgänge blockieren kann. Es bedeutet, dass die radikale Rechte das Potenzial hat, die europäische Politik in einer bisher nie dagewesenen Weise zu gestalten. Das hat sich bislang noch nicht ergeben, weil sie zersplittert sind, doch die Situation könnte sich ändern.
In welche Richtung könnte sich die Außenpolitik der EU bewegen?
In einigen Dingen sind sich diese Parteien einig. Sie alle sind nationalistisch, sie alle sind gegen Einwanderung und sie alle sind zutiefst euroskeptisch. Aus der Kombination dieser drei Faktoren kann sich ergeben, dass eine einwanderungsfeindliche Politik – die Stärkung der Außengrenzen zur Abschreckung von Einwanderung und moralisch zweifelhafte Abkommen mit Drittländern, selbst mit autoritären Staaten – fortgesetzt wird. Das schockiert heute niemanden mehr, weil es schon seit zehn Jahren so geht, und es wird sich wahrscheinlich fortsetzen.
Wie erklären Sie sich den Zuwachs bei den extremen Rechten?
Es gibt eine Fülle von Erklärungen in den Medien. Die dominanten Narrative lassen sich in zwei große Kategorien einteilen. Da ist zum einen das wirtschaftliche Argument der Globalisierung und ihrer Auswirkungen: zunehmende Ungleichheit, Menschen, die «ins Hintertreffen geraten», und Gesellschaftsschichten im Wandel. Beim zweiten großen Narrativ geht es um die Themen Kultur und Identität, die Angst vor Einwanderung, die Befürchtung, dass Einwanderung unsere Kulturen zerstört, zum Beispiel durch die Theorie vom «Großen Austausch». Das sind Meta-Erklärungen.
Und tragen diese Erklärungen?
Wenn man sich anschaut, wo der Populismus und die radikale Rechte zugelegt haben, gibt es nicht unbedingt einen empirischen Zusammenhang zwischen diesen Erklärungen und dem, was tatsächlich geschieht. Mit anderen Worten, diese Erklärungen lassen sich nicht durch empirische Untersuchungen bestätigen. Der Populismus steigt in wohlhabenden Ländern wie Skandinavien und in Ländern, wo Einwanderung gar kein Thema ist, wie etwa in Ungarn. Diese Erklärungen begründen also nicht hinreichend, warum unsere Demokratien heute mit einer erstarkenden radikalen Rechten zu kämpfen haben.
Welche Entwicklungen sind wichtig, um den Aufstieg der radikalen Rechten zu verstehen?
Wir sollten die 1980er Jahre als Ausgangspunkt für die schrittweise Erosion unserer demokratischen Systeme betrachten. Eine der vielen relevanten Entwicklungen war, dass die politischen Parteien ihre traditionelle Basis immer weniger repräsentiert haben. Sie begannen, Mitglieder zu verlieren, was letztlich die Kluft zwischen den politischen Eliten und der Wählerschaft immer weiter vergrößerte, ob sie nun real war oder nur so wahrgenommen wurde.
Auf der Makroebene haben Globalisierung und die europäische Integration die Regierungsarbeit grundlegend verändert. Immer mehr Zuständigkeiten und Entscheidungen werden jenseits der nationalen Ebene getroffen. Macht und Entscheidungsbefugnisse werden von der nationalen und der lokalen Ebene weg verlagert.
Das bedeutet auch, dass die Bürger*innen in der Politik nicht ausreichend vertreten sind?
Genau. Ein Beispiel dafür sind die «Fratelli» in Italien, eine postfaschistische Partei mit tiefen Wurzeln im Faschismus, die immer mehr Menschen gewinnen. Die Wählerschaft ist rasant von sechs Prozent auf über 20 Prozent gestiegen. Es sind ja nicht alle, die für sie gestimmt haben, von heute auf morgen der faschistischen Ideologie verfallen. Die italienische Bevölkerung war von allen politischen Parteien enttäuscht und hat für einen Wandel gestimmt.
«Es gibt Demokratieverdrossenheit, aber es gibt auch viele Beispiele für bürgerschaftliches Engagement. Die Politik verpasst es, hier anzuknüpfen.»
Politik muss also Ansatzpunkte für die Stärkung der Demokratie auf lokaler Ebene suchen?
Ja. Aber lassen Sie uns eines klarstellen. Es herrscht Demokratieverdrossenheit, aber es gibt auch viele Beispiele für bürgerschaftliches Engagement. Die Politik verpasst es, hier anzuknüpfen. Ich glaube, dass es neben den großen Themen der Globalisierung und der gefühlten Bedrohung von Identitäten ein viel banaleres Problem gibt, nämlich das Verhältnis zwischen den Bürger*innen und den Institutionen der repräsentativen Demokratie. Wir müssen wirklich kreativer über Demokratie nachdenken, und zwar auf mehreren Ebenen, in Richtung einer Demokratie, bei der Entscheidungen auf lokaler, regionaler, staatlicher, europäischer und auch auf internationaler Ebene getroffen werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wegen des Aufstiegs der radikalen Rechten verfolgt die EU eine defensive Migrationspolitik. Die Probleme in Bezug auf Einwanderung hängen jedoch oft mit der lokalen Bereitstellung von Dienstleistungen wie Bildung und Wohnraum zusammen. Diese Probleme lassen sich am besten auf lokaler Ebene lösen und nicht, indem man Drittländer dafür bezahlt, unsere Grenzen zu patrouillieren. Die von staatlicher Seite ergriffenen Lösungsansätze passen nicht zum Problem.
Sie nennen als Ursache für den Aufstieg rechtsextremer Parteien eine schon länger währende Aushöhlung der Demokratie. Aber eben diese Parteien fordern ihrerseits die Demokratie heraus. Was sind wichtige Strategien?
Sobald sie an der Macht sind, untergraben diese Parteien demokratische Institutionen und Praktiken mit einem größeren Selbstbewusstsein, als das früher der Fall war. Zweitens schenken sie kulturellen Fragen viel mehr Aufmerksamkeit. Wenn man sich die Politik dieser Parteien ansieht, dann setzen sie sich als Regierungsparteien sehr intensiv auf der lokalen oder nationalen Ebene mit Kultur-, Identitäts-, Erinnerungs- und Geschichtspolitik auseinander und wollen ein anderes Narrativ schaffen. Oft sind das Opfernarrative, womit sich viele emotional identifizieren können. Sie schaffen ein alternatives Narrativ zu dem Weltbild, das ihnen in ihrer Wahrnehmung von den liberalen, kosmopolitischen Eliten aufgezwungen wurde. Deshalb ist Kultur zu einem Schlachtfeld für die radikale Rechte geworden.
Diesen Parteien gelingt es auch immer besser, sich zu vernetzen.
Genau. Es gibt eine «internationale radikale Rechte», und das nicht nur in Europa. Sie haben natürlich Verbindungen zu Russland, aber auch zu anderen Akteuren. Traditionell haben sich diese Parteien aufgrund ihres Nationalismus überwiegend auf innenpolitische Themen konzentriert. Jetzt bauen sie ihre internationalen Verbindungen aus, lernen von den Erfahrungen der anderen und entwickeln außenpolitische Positionen. Das ist neu.
Welche Fehler machen Demokrat*innen mit Blick auf diese Gruppen?
Auf jeden Fall sollten wir Menschen, die rechtsradikale Parteien wählen, nicht als ignorant abstempeln. Vielmehr müssen wir uns selbst und unsere Annahmen infrage stellen und nicht davon ausgehen, alles sei reine Protestwahl. In Frankreich hat ein Drittel der Bevölkerung für «Rassemblement National» gestimmt, eine zutiefst illiberale Partei mit stark autoritären Zügen. Wir müssen verstehen, dass ein Drittel der französischen Bevölkerung eine abgemilderte Form von Autoritarismus in Ordnung findet. Das kann man nicht einfach als Protestpolitik abtun. Auf der Seite der liberalen Demokratie wurden im Umgang mit dem Erstarken der radikalen Rechten viele Fehler gemacht.
Warum ist die Demokratie Ihrer Meinung nach für die Außenpolitik wichtig? Ist aus realpolitischer Sicht nicht Sicherheit entscheidender?
Ich habe mich lange sowohl mit Sicherheit und Demokratie beschäftigt und beobachtet, dass es da zwei Fachgemeinschaften gibt, die nicht gut verbunden sind. Spricht man in der außenpolitischen Expertengemeinschaft das Thema Demokratie an, wird man für eine Wischiwaschi-Liberale gehalten, die sich mit Nebensächlichkeiten befasst. Es geht dort immer nur um Geopolitik, Realpolitik, Sicherheit, harte Interessen. Geht man in die andere Gemeinschaft, die sich aktiv mit Demokratie befasst, und spricht dort Sicherheitsthemen an, wird man eher als konservativ wahrgenommen. Ich behaupte: Wenn die Demokratie innerhalb der Europäischen Union scheitert, wird das auch außenpolitische Konsequenzen haben.
Können Sie das an einem Beispiel zeigen?
Orbán untergräbt den Entscheidungsprozess in der EU zum Beispiel in Bezug auf die Unterstützung für die Ukraine und Verteidigung. Ungarn sabotiert systematisch die EU-Außenpolitik in Bezug auf zentrale Interessen: Die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression soll auch der Stärkung ihrer eigenen Sicherheit dienen. Es ist keine liberale Wischiwaschi-Position zu behaupten, dass Ungarn zunehmend das Trojanische Pferd Russlands und Chinas innerhalb der Europäischen Union ist. Das ist eine sehr reale Politik. Warum tut Orbán das? Weil er die Demokratie in seinem Land abgebaut hat. Und um seine innenpolitische Macht und seinen Einfluss in der Europäischen Union zu wahren, muss er eine nationalistische, gegen die EU gerichtete Politik verfolgen, sonst könnte er auf die eine oder andere Weise hinausgedrängt oder isoliert werden. Er braucht jetzt mehr gleichgesinnte Länder, die im Europäischen Rat mit am Tisch sitzen. Seit den jüngsten Wahlen gibt es mehr rechtsradikale Regierungen in Europa. Orbán hofft auch auf einen Wahlsieg Donald Trumps in den Vereinigten Staaten im November.
Die Zivilgesellschaft spielt bei der Demokratie sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch in den Erweiterungsländern eine große Rolle. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, sie dabei zu unterstützen?
Erstens werden autoritäre Kräfte immer besser darin, auswärtige Demokratien zu stören. Dazu nutzen sie zunehmend digitale Werkzeuge. Die EU ist hier gefordert, Maßnahmen zum Schutz und zur Verteidigung der Demokratie vor externer Einmischung zu ergreifen. Und dann muss sie die Zivilgesellschaft durch verschiedenen Programme effektiver unterstützen.
Die Zivilgesellschaft spielt eine grundlegende Rolle dabei, die Kandidatenländer in lebendige, beitrittsreife Demokratien zu verwandeln. Doch in den letzten Jahren haben die Staats- und Regierungschefs der EU die politischen Reformkräfte in diesen Ländern nicht ausreichend unterstützt. Wenn die nächste Erweiterungsrunde eher von geopolitischen Erwägungen als vom demokratischen Wandel getrieben wird, wird das der EU als Ganzes schaden. Lippenbekenntnisse zu Werten wie Multilateralismus, einer regelbasierten Ordnung, internationalen Institutionen, Menschenrechten und Demokratie reichen nicht aus. Die EU muss die Zivilgesellschaft mit ihren verschiedenen Programmen effektiver unterstützen.
Wie kann die EU Ihrer Meinung nach ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen an Transparenz und dem Schutz vor unrechtmäßiger externer Einmischung herstellen und zugleich eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft wahren?
Autoritäre Staaten haben sicherlich ihre Bemühungen verstärkt, Demokratien durch Einmischung zu stören. Wir müssen ganz gewiss aufmerksamer werden, vor allem, was den Informationsbereich anbelangt, auch mit Blick auf die aufstrebenden politischen Kräfte der radikalen Rechten. Russland und die Partei «Einiges Russland» unterstützen beispielsweise rechtsextreme Parteien in Europa finanziell. Die Instrumente der EU müssen hier gestärkt und geschärft werden.
Desinformation – damit haben wir ja auch innerhalb der Staaten zu kämpfen?
Genau. Bei dem Thema Desinformation geht nicht nur um bösartige Einmischung und um Menschen, die Fake News glauben. Das Geschäftsmodell der Medien steckt seit vielen Jahren in einer Krise. Die sich aus dem technologischen Wandel ergebenden Probleme haben den Raum für Desinformation geschaffen. Das Geschäftsmodell der Medien und seine Finanzierung, die Notwendigkeit, in Fakten-Checks zu investieren, und Unterstützung für Bildungsansätze, die der Jugend Medienkompetenz vermitteln – das alles müssen wir angehen.
Ihr Fazit?
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Desinformation nicht nur von anderswo kommt. Es kommt von innerhalb unserer Gesellschaften. Wir müssen uns damit abfinden, dass Antisemitismus in vielen Kreisen akzeptiert wird, dass sich Islamophobie ausbreitet und dass wir selbst auch dazu beitragen, das Informationsökosystem zu vergiften. Deswegen geht es nicht nur darum, was die EU tun kann. Nationale Politik und lokale Politik müssen eine größere Rolle spielen.
* Das Interview wurde Anfang Juli geführt.
Rosa Balfour ist Direktorin von Carnegie Europe. Ihre Fachgebiete umfassen europäische Politik, Institutionen sowie Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die Beziehung zwischen innenpolitischen Entwicklungen und der globalen Rolle Europas.
Zora Siebert leitet das Programm für Demokratie und Digitalpolitik in der EU im Brüsseler Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie hat einen deutsch-französischen Master in Europäischen Studien und Internationale Beziehungen der Universtitäten Passau und Straßburg. Zuvor arbeitete sie für ein Mitglied des europäischen Parlaments zu den Themen Datenschutz, IT-Sicherheit und Künstliche Intelligenz.
Rasmus Randig ist Referent für internationale Demokratie und stellvertretender Leiter der globalen Einheit für Demokratie und Menschenrechte der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel. Er studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Glasgow und Konstanz und arbeitete im Bereich Krisenprävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt.