Menschenrechte, verstanden als politisch-rechtlich ausgestaltete Ansprüche auf gleichberechtigte Freiheit, sind historisch erstmals im „Westen“ – genauer: in Nordamerika und Westeuropa – entstanden. Ungeachtet dessen enthalten sie einen Anspruch auf weltweite Geltung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 spricht davon, dass die „Anerkennung der innewohnenden Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bilden.
Wie passen die beiden genannten Aspekte – westliche Entstehung und universaler Geltungsanspruch – zusammen? Diese Frage ist nicht nur von akademischem Interesse. Vor allem in den 1990er-Jahren wurde die Universalität der Menschenrechte mit Hinweis auf ihre Genese im Westen politisch massiv bestritten. Einige Vertreter asiatischer Staaten – allen voran China, Singapur, Malaysia, Iran – stellten den, wie es hieß, „westlichen“ Menschenrechten „asiatische Werte“ oder islamische Rechtsnormen gegenüber. Hinter dem Anspruch auf weltweite Geltung der Menschenrechte, so die Botschaft der Kritiker, stehe ein kultureller und politischer Imperialismus des Westens. Menschenrechte seien letztlich nichts anderes als eine Fortsetzung des europäischen Kolonialismus mit anderen Mitteln, nämlich eine eurozentrische Bevormundung, die es abzuwehren gelte. Inzwischen ist die kulturrelativistische Fundamentalkritik an den Menschenrechten seltener und leiser geworden, denn seit dem 11. September 2001 sind Sicherheitsgesichtspunkte in den Vordergrund auch der Menschenrechtsdebatte gerückt. Verschwunden ist die kulturrelativistische Menschenrechtskritik allerdings nicht.
Die kulturrelativistische Anfrage nach dem Geltungsanspruch der Menschenrechte muss ernst genommen werden. Der ideologiekritische Hinweis auf mögliche unlautere Motive derjenigen, die diese Anfrage vorbringen – auffallend oft handelt es sich um Vertreter diktatorischer Regime – liegt zwar nahe, reicht aber nicht aus. Es ist auch eine Antwort in der Sache notwendig, die ich im Folgenden in fünf Schritten formulieren möchte.
Auch im Westen eine politische Konfliktgeschichte
Die Menschenrechte mussten auch im Westen gegen erhebliche politische und kulturelle Widerstände erkämpft werden, das gilt es zunächst einmal festzustellen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war beispielsweise die Position der christlichen Kirchen zu den Menschenrechten zumindest ambivalent. Die katholische Kirche hat erst vor vierzig Jahren ihr klares Bekenntnis zur Religionsfreiheit ausgesprochen, die noch in päpstlichen Dokumenten des 19. Jahrhunderts als gesellschaftlicher Irrweg verdammt worden war. Unter den bekannten europäischen Philosophen der Moderne lassen sich vermutlich mehr Gegner als Befürworter finden; zu den Gegnern zählen Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Gehlen. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts als Anspruch in zähen Auseinandersetzungen allmählich durchgesetzt; bis zur tatsächlichen Einlösung dieses Anspruchs bleibt noch viel zu tun. Mit anderen Worten: Die Vorstellung, Menschenrechte seien in der Tradition des Westens tief „verwurzelt“, erweist sich bei näherem Hinsehen als vordergründig. Die Geschichte der Menschenrechte im Westen lässt sich nicht angemessen als gleichsam organischer Reifungs- und Entwicklungsprozess beschreiben, wie dies oft geschieht. Vielmehr handelt es sich um eine politische Konfliktgeschichte, die zugleich eine (unabgeschlossene) gesellschaftliche Lerngeschichte darstellt.
Lernprozesse und Lernergebnisse sind interkulturell „übersetzbar“
Menschenrechte sind nicht in einem kulturellen Vakuum entstanden. Dass ihre historische Formulierung, Konzeptionalisierung und Reflexion von Ideen der westlichen Aufklärung, der europäischen Naturrechtstradition und auch von Motiven der christlichen Theologie mitgeprägt worden ist, kann also nicht überraschen. Wichtiger als die kulturellen „Sprachen“, in denen sie erstmals zu Wort kamen, sind allerdings die gesellschaftlichen Lernprozesse, die ihnen zugrunde liegen. An ihrem Beginn stehen Erfahrungen strukturellen Unrechts, auf die die Menschenrechte eine politisch-rechtliche Antwort gaben. Entscheidend ist, dass die durch Unrechtserfahrungen ausgelösten Lernprozesse und Lernergebnisse interkulturell „übersetzbar“ sind. Mit anderen Worten: Auch wenn die Menschenrechte zunächst im Medium westlicher Kultur formuliert wurden, ist ein Zugang zu ihrem Verständnis nicht nur im Horizont westlicher Kultur möglich.
Politische Auseinandersetzung gibt es auch innerhalb verschiedener Kulturen
Dass Menschen auch außerhalb des „Westens“ sich auf die Menschenrechte berufen, ist nicht nur möglich, sondern längst unbestreitbares Faktum. Dies gilt es zur Kenntnis zu nehmen. Nachdem etwa mit Shirin Ebadi 2003 eine muslimische Menschenrechtsanwältin und Frauenrechtlerin aus dem Iran mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, sollte sich die Frage, ob ein islamisches Bekenntnis mit den Menschenrechten vereinbar sei, eigentlich erledigt haben. Zweifellos gibt es nach wie vor starke konservative und fundamentalistische Strömungen im Islam, die gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Religionsfreiheit und andere Menschenrechte teils massiven Widerstand leisten. Statt die Menschenrechte in einem Konzept des „Kampfs der Kulturen“ zu verorten, wäre es aber angemessen, den Streit um die Menschenrechte als politische Auseinandersetzung zu begreifen, die immer auch innerhalb der verschiedenen kulturellen Kontexte – etwa innerhalb des Islams, aber auch innerhalb des „Westens“ – stattfindet. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass kulturelle und religiöse Faktoren allenfalls einen Teil des Widerstands gegen die Menschenrechte erklären. Zu den anderen Faktoren zählen etwa verengte Sicherheitskonzepte, technokratische Maßnahmen der Wirtschaftsentwicklung und nicht zuletzt – kulturenübergreifend (!) – die Sorge um die Wahrung von Macht und Privilegien.
Länder des Südens haben Debatte mitgeprägt
Die internationale Menschenrechtsdebatte ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend von den Ländern des Südens mitgeprägt worden, die ihre besonderen Unrechtserfahrungen – Kolonialismus, imperialistische Bevormundung, Armut, wirtschaftliche Abhängigkeit – in die Sprache und Institutionen der Menschenrechte einbringen. Im Rahmen der UNO haben die Länder des Südens – gegen den Widerstand einiger westlicher Staaten – den Stellenwert wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte gestärkt. Auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien hat man sich schließlich auf die Formulierung geeinigt, dass alle Menschenrechte – bürgerliche und politische wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – im Einsatz für menschenwürdige und freiheitliche Lebensverhältnisse „unteilbar“ zusammengehören.
Menschenrechte sind auf Pluralismus angelegt
Dem Anspruch nach sind Menschenrechte das Gegenteil von Imperialismus bzw. Kulturimperialismus. Denn sie zielen auf „Empowerment“, auf die Ermächtigung der Menschen, denen es ermöglicht werden soll, in Gleichberechtigung ihren je eigenen Weg zu gehen. Menschenrechte sind daher von vornherein auf Pluralismus – auch die Entfaltung eines kulturellen Pluralismus – angelegt. Sofern Menschenrechte als Vorwand für eine imperiale Politik eingesetzt werden – wie dies gelegentlich zu beobachten ist –, handelt es sich um einen Missbrauch, der im Blick auf ihren freiheitlichen Geist thematisiert und kritisiert werden muss. Die Kritik an der miss- bräuchlichen Berufung auf Menschenrechte zum Zweck machtpolitischer Interessendurchsetzung ist zugleich ein Beitrag dazu, den Universalismus der Menschenrechte zu stärken.
Heiner Bielefeldt ist Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte. VERÖFFENTLICHUNGEN ZUM THEMA: „Philosophie der Menschenrechte”, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. „Muslime im säkularen Rechtsstaat”, transcript, Bielefeld 2003.