«Keine nachhaltigen Ernährungssysteme ohne gerechte Macht­­­ver­hältnisse»

Ernährungssysteme verändern zu wollen und dabei nicht explizit auf Machtverhältnisse einzugehen, ist im besten Fall naiv. De ­facto werden hierdurch Verantwortlichkeiten verschleiert. ­Machtvolle Akteure können ungestört von kritischen Fragen und Rechenschaftspflichten weiterhin ihre Interessen verfolgen – zum Schaden der Allgemeinheit.

Betrachten wir den Zugang zu Land: Etwa 80 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe sind kleiner als zwei Hektar; sie bedecken etwa zwölf Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Hingegen kontrolliert ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe mehr als 70 Prozent der Agrarflächen. Landkonzentration ist zunehmend auch in der EU ein Problem, denn hier geht der freie Kapital­verkehr Hand in Hand mit den Subventionen der gemeinsamen Agrarpolitik, die an die Landfläche gebunden sind.

Sofia Monsalve

Eine starke Landkonzentration verleiht Großgrund­besitzer*innen viel Macht. Im Falle der EU bedeutet dies die Bevorzugung der Interessen großer Agrarproduzent*innen zum Nachteil der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Diese Diskriminierung hat verheerende Konsequenzen für eine dezentrale, möglichst lokale Versorgung mit Lebensmitteln. Sie beeinträchtigt den Erhalt der Biodiversität, die Landschaftspflege und unterminiert das praktische und traditionelle Wissen der Kleinbäuer*innen.

Ein weiteres Beispiel sind Pestizide. Die fünf größten Pestizidhersteller besitzen einen Weltmarktanteil von über 80 Prozent.  Etwa ein Drittel ihres Umsatzes machen sie mit dem Verkauf für Mensch und Natur gefährlicher Pestizide. Diese sind meist in ihren Herkunftsländern verboten, werden aber in Länder mit unzureichender Regulierung exportiert:  25 bis 30 Prozent der in Brasilien am häufigsten verwendeten Pestizide werden nicht in ihren Herkunftsländern – darunter auch Deutschland – verkauft.

Trotz der enormen Schäden hat der Einsatz von Pestiziden drastisch zugenommen. Die Hersteller wenden aggressive Marketing­taktiken an und leugnen das Ausmaß der Schäden, indem sie darauf beharren, dass die ordnungsgemäße Anwendung sicher sei. Darüber hinaus betreibt die Industrie intensive Lobbyarbeit bei Regierungen und UN-Organisationen. So gaben im Oktober 2020 die Welternährungsorganisation (FAO) und CropLife International eine offizielle Partnerschaft bekannt. CropLife ist der internationale Lobby­verband der Agrarchemie-, Pestizid- und Saatgutbranche.

Angesichts der mangelnden Fortschritte bei dem Programm zur Beendigung von Hunger und Mangelernährung bis zum Jahr 2030 hatte UN-Generalsekretär António Guterres für den 23. September in New York einen Gipfel für Ernährungssysteme einberufen. Das Treffen wurde als Gelegenheit angekündigt, «mutige neue Maßnahmen» zu erörtern, die die Art und Weise, wie die Welt Lebensmittel produziert und konsumiert, verändern sollen.

Das Problem: Der Gipfel wurde zusammen mit dem Weltwirtschaftsforum ersonnen. Und so gehörte am Ende die Infragestellung ungerechter Machtverhältnisse nicht zu diesen «mutigen Maßnahmen». Umverteilung von Land, das Verbot gefährlicher Pestizide, menschenrechtsbasierte Saatgutgesetzgebungen, aber auch die Besteuerung von ungesunder Nahrung, die Bekämpfung der Marktdominanz weniger Konzerne in zentralen Bereichen unserer Ernährungssysteme – allesamt Konflikte zwischen machtvollen Akteuren und marginalisierten Bevölkerungsgruppen und Ländern – spielen auf dem UN-Gipfel keine Rolle. Stattdessen setzt der Gipfel einseitig auf neue Technologien, die das Hungerproblem lösen sollen.

Durch das geschickte Ignorieren zentraler Themen dient der Gipfel daher der Machtfestigung von transnationalen Konzernen und den Ländern des Nordens im Weltagrarhandel. Auf diese Weise erlaubt es die UNO dem Agrobusiness, seine Kontrolle über Land, Wasser und Fischerei auszuweiten, kommerzielles Saatgut quasi zu monopolisieren und den Verkauf von Pestiziden und chemischen Düngemitteln als Lösung umzuetikettieren, anstatt die damit verbundenen Schäden anzuerkennen, geschweige denn zu beheben.

1948 erkannte die UNO an, dass Nahrung ein Menschenrecht ist. Mit dem naiven oder gewollten Ignorieren der Machtfrage wird der UN-Gipfel die Machtstellung von Konzernen ausweiten, anstatt der Stimme Hunderten von Millionen hungernden Menschen Gewicht und damit Hoffnung zu geben.

Lesen Sie den zweiten Teil zum UN Food Summit 2021 von Dr. Martin Frick hier.

 


Sofía Monsalve ist Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation FIAN International, die sich für das Recht auf Ernährung einsetzt.

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