Berlin - Die entfremdete Stadt

Plakat: "Keine Angst, es ist nur Gentrification"
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Berlin Friedrichshain, April 2010

In diesem Sommer, ich war auf den Tag genau dreißig Jahre in Berlin, spazierte ich eines Abends die Schönhauser Allee entlang. Ich wollte mir die Gefühle von damals in Erinnerung zu rufen, als ich denselben Weg zum ersten Mal ging und zum ersten Mal den Satz: „Stadtluft macht frei“ begriff. Ein Glückszustand, der nicht ewig anhielt, aber mein Verhältnis zu Berlin doch bestimmte.

An der Kreuzung Eberswalder Straße begegnete mir an diesem Julitag 2013 ein junges Paar, das eine Matratze und noch etliches anderes Gepäck über die Straße trug. Die Matratze war nicht neu, eine Landkarte des Lebens bot sich den Blicken der Passanten, das Paar aber war jung und beschwingt, einmal kamen sie vor Lachen aus dem Tritt und mussten ihre Last kurz abstellen. In der Gegend hatte ich schon lange keinen solchen Umzug mehr gesehen, man fährt hier mittlerweile mit überlangen Möbelwagen vor, auf denen die Namen von Weltmetropolen stehen.

Gentrification ist kein Lebensstilphänomen

Verschwunden ist neben den Kohlenwagen und Außentoiletten auch das, was mich damals faszinierte: die Spuren in und an den Häusern, in mehreren Schichten übereinander gewachsen, die unzählige Geschichten erzählten, in die man sich wie der Poe’sche Mann der Menge begeben konnte, bis man nicht mehr wusste, wo man war und wie man wieder zurückfinden sollte. Die Spuren sind getilgt, die Alten mit ihren Erinnerungen wie vom Erdboden verschluckt, alles ist Gegenwart.

Es ist in den letzten Jahren viel über Gentrification oder „Gentrificationdingsbums“, wie der Hamburger Autor Christoph Twickel es genannt hat, geschrieben und diskutiert worden. Oft wird dieser aus der Soziologie stammende Begriff missverstanden, dann werden in ihrem Namen wahlweise Schwaben verbal von Berlin nach Baden-Württemberg zurückgeschickt oder Ostdeutschen wird zu verstehen gegeben, dass ihre Zeit zwischen Stuckdecken und abgezogenen Dielen abgelaufen sei. Gentrification ist für den Soziologen Andrej Holm kein Lebensstilphänomen, sondern ein wohnungswirtschaftlicher Prozess. Er geht einher mit der Umwandlung der Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft, die alles, auch das Wohnen, auf seine ökonomische Effizienz prüft. Alle Innenstädte begehrter Metropolen der Welt haben das Problem, dass Alteingesessene sich das Wohnen dort nicht mehr leisten können, seit das einkommensstarke Bürgertum die Umwidmung mehrstöckiger Mietshäuser für mehrere zu Luxuslofts für sich allein in Citylage der Villa im Grünen vorzieht. In Berlin ist das ein schleichender Prozess, aber die Kapitalflucht in die Immobilien hat den Prozess in den letzten Monaten erheblich beschleunigt, das eigentlich strenge deutsche Mietrecht wird immer öfter durch das Recht des Stärkeren, sprich des Eigentümers vor dem Mieter der Wohnung ersetzt.

Viele Wohnungen werden von Miet- zu Eigentumswohnungen

In Berlin fing dieser Prozess Mitte der neunziger Jahre an, als begonnen wurde, in den Innenstadtbezirken in großem Maßstab Miet- zu Eigentumswohnungen umzuwandeln, während die Anzahl der Genossenschaften klein gehalten und kommunale Mietwohnungen im großen Stil verkauft wurden, pikanterweise ausgerechnet zu Zeiten des rot-roten Senats. Berlin galt bis dahin als Mieterstadt, innerhalb des S-Bahnrings gab es kaum Eigentumswohnungen.

Kaum einer weiß noch, dass die heute so begehrten Gründerzeitviertel schon zu Zeiten ihrer Entstehung ein Ort der Spekulation waren. Bei der Umsetzung des von James Hobrecht 1862 ausgearbeiteten Bebauungsplans musste jeder geplante Schmuckplatz, jeder größere Hof oder Vorgarten den ausschließlich an Profit interessierten Terraingesellschaften abgetrotzt werden. Die Errichtung der bald Mietskasernen genannten Häuserkomplexe mit Vorderhaus, Seitenflügeln und ein bis fünf in die Tiefe gestaffelten Hinterhöfen war geprägt von Pfusch am Bau, die Mängellisten lang. Trotzdem erwiesen sich die Häuser als erstaunlich robust. Nur die Bomben und die Stadtplaner der Nachkriegszeit, die sämtliche Gründerzeitviertel dem Erdboden gleichmachen wollten, was in Berlin aber nur im Wedding gelang, konnten diesen Bauten etwas anhaben.

Wie viel Vielfalt braucht eine Stadt, um lebendig zu bleiben?

James Hobrecht blieb bis an sein Lebensende ein Befürworter des Durcheinanderwohnens im Berliner Mietshaus, wo die je nach Lage mehr oder weniger bürgerlichen Familien in den großzügigen Wohnungen des Vorderhauses residierten, der Eigentümer meist in der Beletage, während sich die Ärmeren im Hinterhaus die Außentoiletten teilten. Nach Hobrechts Überzeugung garantierte es eine soziale Mischung, integrierte die Zuwanderer schneller und verhinderte eine Herausbildung von Elendsvierteln. Außerdem glaubte er, dass sich durch sozialen Austausch die Klassengegensätze nivellieren ließen. Das Konzept ist viel kritisiert worden, aber es hat besser funktioniert als die mit der Charta von Athen beschlossene Entkoppelung von Wohnen und Arbeiten in den fünfziger Jahren, die zum Bau von Groß- und Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand und zur Vernachlässigung der Innenstädte führte.

Eine Umwandlung der Mietshausviertel in Eigentumswohnanlagen, um die man bei Bedarf einen Zaun bauen kann, wird Berlin mehr verändern als den stolzen Eroberern dieser Viertel lieb sein kann. Denn die Frage ist: Wie viel Entmischung verträgt die Stadt – politisch, sozial und kulturell? In einigen Vierteln der Innenstadt hat Berlin seine Vielfalt schon verloren, sehen die Individualisten alle gleich aus, wie auch die Häuser sich von außen nur in der Pastellfarbe der wärmedämmenden Styroporfassade voneinander unterscheiden.

Ist es vom vielbeschworenen Standpunkt der Effizienz eine Segregation nicht viel teurer, weil die Bewohner der abgehängten Viertel am Rand der Stadt von den Innenstadtbewohnern, die Angst um ihr Eigentum haben, ferngehalten werden müssen? Schon heute leben die meisten, die als Polizistinnen, Verkäufer, Grundschullehrerinnen, Straßenbahnfahrer oder Reinigungskräfte die Infrastruktur der City aufrechterhalten, jenseits des S-Bahn-Rings. Und worin besteht eigentlich die Aufwertung, wenn ein Bioladen den vietnamesischen Gemüseladen verdrängt?

Was als behutsame Stadterneuerung in den siebziger Jahren in den Gründerzeitvierteln Berlins begann, endete ohne das Attribut. Bei einer Veranstaltung zu Ehren des großen Nestors des sozialen Stadtumbaus, Hardt-Waltherr Hämer, der den Satz: „Wohnen heißt Bleiben“ prägte, hat einer seiner Nachfolger auf die Frage, ob es nicht eine Niederlage sei, dass die Milieus, die man halten wollte, nun zu mehr als 80 Prozent ausgetauscht seien, behauptet, in Prenzlauer Berg habe es schon in den achtziger Jahren keine angestammten Milieus mehr gegeben, die vor Verdrängung geschützt werden mussten. Als wären die Leute, die vor dreißig Jahren so zahlreich über die Schönhauser Allee liefen, in Wahrheit nur Zombies auf Durchreise gewesen. Und ein grüner Stadtrat hat kürzlich denjenigen, die Exklusion beklagten, vorgehalten, dass sie selber Schuld seien, weil es ihnen, als es angeblich noch erschwinglich war, „suspekt war, Wohneigentum zu kaufen".  Nach dem Motto: Selber schuld. Dass es Menschen gibt, die nicht willens oder in der Lage sind, sich am Ausverkauf der Stadt zu beteiligen, scheinen manche ehemalige Bürgerbewegte nicht zu verstehen.

Michael Voigtländer vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat neulich in der Tagesschau konstatiert, dass Miethaushalte in angesagten Metropolen wie München, Hamburg oder Berlin sich künftig umstellen und ins Umland ausweichen müssten. Die Innenstadt den Eigentümern — so hieß seine Antwort auf die Frage: Wem gehört die Stadt?

In meinem dreißigsten Jahr fängt Berlin an, mir fremd zu werden. Aber das ist noch lange kein Grund, der Stadt den Rücken zu kehren, sondern eher eine Aufforderung, sie gegen den Umbau von einer Integrations- in eine Konkurrenzmaschine zu verteidigen.

 

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Schwerpunkt Stadtentwicklung

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