Wie geht's weiter mit der Rente?

Demografie

Wie geht's weiter mit der Rente?
Ergebnisse der Demografie-Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung
"Sicherheit und Fairness in der alternden Gesellschaft"

 

Zehn Merkpunkte der notwendigen Reformen

Die folgenden Merkpunkte sollen ermöglichen, dass aus dem widersprüchlichen Konglomerat der gesetzlich geregelten Alterssicherung tatsächlich ein System wird.

Leitgesichtspunkte sind die Begriffe „Sicherheit und Fairness“ – wie im Titel der Broschüre.

Sie bedeuten erstens, dass alle, die nicht mehr im Arbeitsleben stehen, ein sicheres und ausrei­chendes Alterseinkommen erhalten sollen.

Zweitens müssen die im Arbeitsleben Stehenden darauf vertrauen können, im Rentenalter eine faire Gegenleistung für ihre Beiträge zur Altersvorsorge zu erhalten.

Drittens muss das Verhältnis zwischen Beitragszahlende und Rentenbeziehenden zu jedem gegebe­nen Zeitpunkt den Prinzipien sozialer Fairness genügen, d. h. die Solidarität der Genera­tionen ausdrücken. (Der jeweilige finanzielle Spielraum darf nicht einseitig zugunsten der Rentenbe­zie­henden oder der Beitragszahlenden verfrühstückt werden.)

Die folgenden Merkpunkte sind an dem Ziel orientiert, das widersprüchliche Gemenge staatlich geregelter Alterssicherungen in ein konsistentes, leistungsfähiges und finanzierbares System zu verwandeln.
 

1.) Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) wird auch in Zukunft die Hauptlast der Alterssicherung tragen.

Obwohl von Entwicklungen am Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und im Bildungssystem sowie durch politische Prioritäten beeinflusst, hat sich die GRV als zuverlässigste und leistungsfähigste Säule der Alterssicherung erwiesen. Die vom Kapitalmarkt unabhängige Umlagefinanzierung, die Anpas­sung der Renten an die Lohnentwicklung, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten, die Leistungen bei Invalidität und zur Rehabilitation sowie die Hinterbliebenenversorgung machen die GRV zur zentralen, inklusiven Institution der Alterssicherung. Sie ist eine wichtige Orientierungs­größe für die Lebensplanung von 52 Millionen aktiven und passiven Mitgliedern. Ihre Fort­entwick­lung muss der Wahrung ihrer Kernaufgaben und Funktionsprinzipien verpflichtet bleiben.
 

2.) Die Umlagefinanzierung, die Beitragsäquivalenz der Rentenansprüche und der Ausgleich  versicherungsfremder Leistungen aus dem Bundeshaushalt bilden den Identitätskern der gesetzlichen Rentenversicherung.

Diese drei institutionellen Merkmale und das ihnen zugrunde liegende Leistungsprinzip sind für die Arbeitsgesellschaft konstitutiv. Das versicherungsrechtliche Leistungsprinzip korrespondiert mit der im gesellschaftlichen Verkehr maßgeblichen Gratifikationsregel und fungiert auf individueller Ebene als unverzichtbarer Anreiz zur wirtschaftlichen Partizipation und sozialen Inklusion.

Die Akzeptanz der allgemeinen Versicherungspflicht bleibt nur gewahrt, wenn die Alters­rente ihren Bezug zur Erwerbsbiografie und der Höhe der entrichteten Beiträge behält. Mindest­leistungen der GRV müssen deshalb an beitragsanaloge Leistungen von gesellschaftlicher Bedeutung bzw. langfristige Mitgliedschaft geknüpft sein. Rentenzahlungen ohne Bezug zu Beiträgen bzw. beitragsanalogen Leistungen sowie ein Rekurs auf Bedürftigkeitsprüfungen widersprechen den Prinzipien der GRV.

Das Äquivalenzprinzip erfordert, dass gleiche Beitragsleistungen ein annähernd gleiches Versor­gungsniveau begründen. Eine Entwicklung der GRV in Richtung Grundrente würde das Äquiva­lenz­prinzip verletzen und Akzeptanzverluste verursachen.

 

3.) Im Interesse einer fairen Risikoverteilung, der Akzeptanz des Umlageverfahrens und der sparsamen Mittelverwendung ist die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf weitere Gruppen bzw. alle Bürger/innen geboten.

Empfohlen wird die schrittweise Einbeziehung von derzeit nicht rentenversicherungspflichtigen

Personengruppen, vor allem der Selbständigen. In weiteren Schritten wäre die Ausdehnung der GRV-Mitgliedschaft auf Beamte und Beamtinnen bzw. alle neu eingestellten Beschäftigten im öffentlichen Dienst anzustreben.

Von der Einbeziehung von Nichterwerbseinkommen (Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen u.ä.) in die Bemessungsbasis der Rentenversicherungsbeiträge wird abgeraten, weil diese Einkünfte beim Übergang in den Ruhestand erhalten bleiben und keinen Ersatzbedarf begründen.
 

4.) Zur Akzeptanzsicherung und Verringerung des Armutsrisikos müssen sich die während des Arbeitslebens entrichteten (freiwilligen und Pflicht-) Beiträge auf die Höhe des Alterseinkommens auswirken.

Auch in den Fällen, in denen Altersrenten durch Leistungen der Grundsicherung im Alter ergänzt werden, müssen die geleisteten Beiträge zumindest einen proportionalen Ausdruck in der Höhe des Alterseinkommens finden. Die verschiedenen Modelle der Zuschuss‑, Solidar- und Garantie­rente werden diesem Erfordernis nicht gerecht, weil sie Mindestzeiten der Versicherung oder Beitragsleistung voraussetzen und die Eigenbeiträge i.d.R. unberücksichtigt lassen. Davon hebt sich vorteilhaft das Modell «Rentenzuschuss» des Sozialverbands Deutschland (SoVD) und der Gewerkschaft ver.di ab. Die Kommission empfiehlt, einem solchen Konzept den Vorzug zu geben.

Nach dem SoVD/ver.di-Modell erhöht sich die Grundsicherung im Alter um einen degressiven Teilbetrag der erworbenen Rentenansprüche (aus GRV, privater oder betrieblicher Altersvorsorge). Gemäß einer Beispielrechnung von SoVD und ver.di würden die ersten 100 Euro der eigenen Rente ungekürzt, Beträge zwischen 100 und 200 Euro zur Hälfte und Beträge zwischen 200 und 300 Euro zu 25 Prozent über die Grundsicherungsleistung hinaus gezahlt. Alle, die eigene Renten­ansprüche von mindestens 300 Euro besitzen, kämen danach auf einen Gesamtbezug von 855 Euro. Dieses Modell würde nicht nur langjährig Versicherten mit unzureichenden Entgeltpunkten gerecht, sondern es gewährte auch Personen mit einer Versicherungszeit zwischen fünf und 30 Jahren ein Mindestmaß von Beitragsäquivalenz. Gleichzeitig würde die geleistete Eigenvorsorge erkennbar belohnt und der Anreiz zur sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit bliebe gewahrt. Schließ­lich würde der Zuschuss aus den eigenen Beitragsleistungen auch vor der weiteren Stigmatisie­rung des Grund­sicherungsbezugs schützen.
 

5.) Angesichts der wachsenden Verbreitung von diskontinuierlichen Erwerbsverläufen ist eine Erweiterung der Teilhaberechte der GRV-Mitglieder in der Form angebracht, dass auch definierte gesellschaftlich anerkannte Leistungen den Anspruch auf eine Mindestteilhabe-Rente begründen.

Das Konzept der Mindestteilhabe basiert auf einem nach Maßgabe der gesellschaftlichen Akzep­tanz abgestimmten Verhältnis von beitragsbegründeter Teilhabe und Anerkennung beitragsloser Tätigkeiten -- etwa des Engagements in den Bereichen Bildung, Erziehung, Betreuung oder an­derer gemeinnütziger Ehrenamtlichkeit – unter der Voraussetzung einer Mindestdauer der Mitglied­schaft (einschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit und Erwerbsminderung).

Wenn unentgeltliche gemeinnützige und im Umfang erhebliche Tätigkeiten als beitragsanaloge Leistungen angerechnet werden, erlangen die Bezieher/innen von Niedrigrenten eine verbesserte Ausgangsbasis für den Anspruch auf Rentenzuschuss gemäß dem SoVD/ver.di-Konzept. Einer solchen Ausweitung des Teilhabeprinzips muss jedoch ein entsprechender Wandel der gesell­schaftlichen Akzeptanz vorausgehen.
 

6.) Die gesetzliche Rente und die bedarfsabhängige Grundsicherung im Alter erfüllen unterschied­liche Funktionen und beruhen auf je besonderen Rechtsgrundlagen. Ihre institutionelle Trennung muss erhalten bleiben.

Die Zuteilung bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen und die Vermeidung von Armut gehören nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung. Beitragsabhängige und dem Äquivalenz­prinzip unterliegende Ansprüche schließen Bedürftigkeitsprüfungen zwingend aus. Auch begrenzte Bedürftigkeitsprüfungen, die z.B. nur Einkommen, aber nicht Vermögen betreffen, würden die Akzep­tanzgrundlage der GRV beschädigen.

Demgegenüber stellt der Bezug von Grundsicherung ein Bürgerrecht dar. Auf die steuerfinanzierte

Grundsicherung im Alter besteht ein Rechtsanspruch allein nach Maßgabe der Bedürftigkeit und – im Regelfall – ohne Rückgriff auf das Einkommen der unterhaltsverpflichteten Angehörigen.

Allerdings ist die Grundsicherung durch die restriktiven Bewilligungsverfahren im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen in Verruf geraten. Auch wurde nicht immer deutlich gemacht, was die Grund­sicherung im Alter von der Hartz-IV-Praxis unterscheidet (z.B. Wegfall der Pflicht zur Arbeitssuche). Die staatliche Sozialpolitik steht in der Pflicht, der Stigmatisierung des Grundsicherungsbezugs entgegenzutreten.
 

7.) Der Haushaltsbezug der Grundsicherung ist bis zu einer umfassenden Individualisierung der sozialstaatlichen Leistungen unverzichtbar.

Die mit der Inanspruchnahme von Grundsicherung verbundene Bedürftigkeitsprüfung setzt die Offenlegung der Einkommens- und Vermögenssituation auf Haushaltsbasis voraus. Der Gleich­behandlungsgrundsatz erfordert, dass sich auch ältere und alte Antragsteller/innen der Bedürftig­keits­prüfung unterziehen. Darauf zu verzichten und die Grundsicherung auch Nichtbedürftigen zuzubilligen, würde die Ausgabenlast unvertretbar steigern und der wünschenswerten Anhebung der Regel­sätze zuwiderlaufen.

Die Grundsicherung gewährleistet die Deckung des individuellen Bedarfs auf Haushaltsbasis, d.h. mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der primären (in der Regel familialen) Solidarbeziehungen.

Deshalb werden neben Vermögen und Einkommen der Antragsteller/innen auch das Vermögen und die Einkommen von Ehe- und Lebenspartner/innen berücksichtigt. Die Ausweitung der Prüfung auf die primären Solidarbeziehungen ist insofern gerechtfertigt, als sich die Mitglieder in einer ihr Gesamt­einkommen berücksichtigenden Weise zu arrangieren pflegen. Ein Verzicht auf den Haushalts­bezug käme einer generösen Subvention der am weitesten verbreiteten Solidarform Familie gleich und hätte die relative Schlechterstellung von Alleinlebenden zur Folge.
 

8.) Das Verfahren der Beantragung und Bewilligung von Grundsicherung im Alter ist nach Kriterien der bürgernahen Modernisierung öffentlicher Dienstleistungen gründlich zu reformieren.

Die mit der Grundsicherung im Alter beabsichtigte Entstigmatisierung der staatlichen Fürsorge­leistungen ist in der Öffentlichkeit nur unvollkommen wahrgenommen worden. Nach verschiedenen Berechnungen verzichten rund 40 Prozent der 65 Jahre alten und älteren Berechtigten auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche.

Selbst wenn ein Teil der Verzichtenden nur Anspruch auf einen relativ geringen Betrag besitzt, scheint der Umfang der „verdeckten“ Armut nach wie vor unvertretbar groß. In Anbetracht so vieler alter Menschen, die auf die Wahrnehmung ihres Bürgerrechts verzichten oder dieses aus Furcht vor Stigmatisierung ungenutzt lassen, kann die Grundsicherung im Alter (noch) nicht als funktionierendes Instrument zur Vermeidung von Altersarmut gelten. Sie bedarf vielmehr einer gründlichen öffentlichkeitswirksamen Reform. Gleichzeitig verdienen die Bedingungen, die zur Stigmatisierung des Grundsicherungsbezugs führen bzw. diese begünstigen, sorgfältige Aufklä­rung.

Statt der GRV die Aufgabe der Armutsvermeidung zu übertragen, ist die Bewilligungspraxis beim  Bezug von Grundsicherung im Alter zu reformieren. Erforderlich ist der klientenorientierte Ausbau der Informations- und Beratungsfunktionen anhand zweier Schwerpunktziele: erstens, die Bekanntheit und Zugänglichkeit zu erhöhen, und zweitens, die Bedürftigkeitsprüfung von allen unnötig diskriminierenden Elementen zu bereinigen. Die Prüfung der Haushaltssituation ist sowohl zuverlässig und fair als auch individuell nachvollziehbar und sozial akzeptabel zu gestalten, um verbreiteten Vorurteilen wirksam zu begegnen. Dabei ist auf zeitgemäße Formen der «aufsuchen­den Sozialarbeit» zurückzugreifen, die Einschaltung von Ombudsleuten und Beauftragten für (erbetene) Hausbesuche zu ermöglichen und zur Inanspruchnahme von Begleitpersonen für Behördengänge zu ermutigen.
 

9.) Die betriebliche Altersvorsorge (BAV) darf nicht weiter zu Lasten der GRV gefördert werden.

Die betriebliche Altersvorsorge trägt für über 50 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäf­tigten zur Schließung von Versorgungslücken und zur Sicherung des Lebensstandards im Alter bei. Ihre kollektivvertragliche Gestaltung ermöglicht oft günstigere Vertragsbedingungen als sie bei der privaten Altersvorsorge gegeben sind. Sie wird seit 2002 durch die von Sozialabgaben befreite Entgeltumwandlung gefördert.

Allerdings verursacht die beitragsfreie Entgeltumwandlung in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) Mindereinnahmen im Umfang von jährlich ca. 1,5 Milliarden Euro. Deshalb sollten die zugunsten der BAV umgewandelten Entgeltanteile künftig wieder der Rentenversiche­rungs­pflicht unterliegen. Die Mindereinnahmen bei den übrigen Zweigen der Sozialversicherung sollen aus Steuermitteln ausgeglichen werden. Außerdem ist Vorkehrung zu treffen, dass die den Arbeitgeber/innen zufallenden Vorteile der Förderung tatsächlich in die betriebliche Altersvorsorge fließen.
 

10.) Die Riester-Rente ist im Hinblick auf erheblich verbesserte Markttransparenz, gesicherte Mindestrenditen und erhöhte Anlagesicherheit zu reformieren.

Eine verbraucherpolitisch orientierte Reform des Marktes für Riester-Produkte ist dringend erforderlich. Die Anbieter müssen verpflichtet werden, vor Vertragsabschluss detaillierte, stan­dardisierte Informationen bereitzustellen und solche auch für Verbrauchertests zugänglich zu machen. Der Aufbau eines öffentlichen Registers der „Riester-Konditionen und –Verträge“ ist zu ermöglichen. Des Weiteren sind die Verbraucherzentralen zu beauftragen, eine anbieterunab­hängige Altersvorsorgeberatung aufzubauen. Ein Kriterium der Zertifizierung von Riester-Produk­ten soll die Deckelung der Gesamtkosten und der Kosten eines Vertragswechsels sein. Auch ist den Anbietern zur Auflage zu machen, eine Basis-Riester-Rente mit gesetzlich vorgeschriebenen Kalkulationsvorgaben anzubieten.

Sollte sich die Versicherungswirtschaft den notwendigen Reformen verweigern, ist ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand geboten. Das schließt die Gründung eines semistaatlichen Instituts im Rang der Deutschen Rentenversicherung ein, das – nach schwedischem Vorbild – optimierte und staatlich garantierte Versicherungsverträge auf den Markt bringt. Darüber hinaus ist die Einführung des „Vorsorgekontos“ zu erwägen, das den Sparer/innen die Optimierung ihrer individu­ellen Verträge ermöglicht und ihnen die Abschluss‑, Provisions- und Wechselkosten des Vertrags­managements erspart.

  Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 12
  Sicherheit und Fairness in der alternden Gesellschaft
  Bericht der Demografie-Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung
  Von Andrea Fischer, Frank Nullmeier, Dieter Rulff, Wolfgang Schroeder, Peter Sellin und Helmut Wiesenthal
  Im Auftrag und herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, Oktober 2013, 84 Seiten