Das große Sterben kleiner Städte und die soziale Segregation

Schrumpfende Städte haben Probleme. Sie bedeuten häufig Armut, Arbeitslosigkeit und Bildungsferne. Wachsende Großstädte erzeugen andere Probleme: steigende Mieten, steigende Boden- und Eigentumspreise, soziale Verdrängung.

Blick auf Halle-Neustadt aus der 20ten Etage
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Blick auf Halle-Neustadt aus der 20ten Etage

Halle an der Saale zum Beispiel. Im Plattenbaubezirk Halle-Neustadt, der auch HaNeu genannt wird, stehen ganze Häuserblocks leer. Wie schwarze Ungetüme thronen die dunklen Hochhäuser zwischen beleuchteten. Eingeschlagene Fensterscheiben, Graffitis. Geistergebäude. Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt ist die ostdeutsche Großstadt mit der höchsten Leerstandsquote, knapp 14 Prozent. Die Zahl droht zu steigen.

Jetzt will die Hallesche Wohnungsgesellschaft in der Südstadt und im Norden Häuser abreißen, darunter mehrere Elfgeschosser. Mehr als 12.000 Wohnungen sind in der Stadt in den vergangenen Jahren bereits „rückgebaut“ worden. Halle hat ein Problem: Aus dem einstigen bedeutenden Chemiestandort ist seit der Wende eine schrumpfende Stadt geworden. Lebten 1990 noch etwa 310.000 Menschen dort, sind es derzeit rund 231.000. In zwei Jahren werden es 208.000 sein, prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung. Und im Jahr 2020 gerade mal 200.000 sein.

Schrumpfende Regionen sind ein Problem, findet die grüne Bundestagsabgeordnete Katja Dörner. Damit einher gingen „ein demographischer Wandel und eine soziale Segregation“, sagt sie. Betroffene Orte und Regionen werden älter, und sie verlieren Bildungs- und Einkommensschichten. In Halle-Neustadt ist das gut zu beobachten: Hier leben vor allem Arme, Alte und Arbeitslose. Zwischen ihnen ein paar Studierende, die den kurzen Weg zum Weinberg-Campus für Naturwissenschaften schätzen. Die Plattenbausiedlung, die in der DDR rasch für Arbeiter und ihre Familien hochgezogen wurde, hat einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Früher wurde die Innenstadt zum „Slum“, wie Udo Ludwig, Professor am Institut für Wirtschaftsforschung Halle, sagt: „Heute ist es umgekehrt.“

Drei Viertel aller Gemeinden in Deutschland schrumpfen. Im Osten seit dem Mauerfall, im Westen geht es jetzt los. Das Ruhrgebiet beispielsweise verliert so viele Einwohner wie keine andere westdeutsche Region. Städte wie Recklinghausen, Duisburg und Hagen müssen sich mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen wie Halle.

Manfred Kühn hat dafür eine Bezeichnung gefunden: „Schrumpfung als demographischer Wandel“. Damit meint der Leiter der Forschungsabteilung „Regenerierung von Städten“ am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin, dass das Kleinerwerden und sogar Verschwinden ganzer Orte gleichermaßen Bedrohung und Chance ist.

Die Risiken bestehen in der sozialen und finanziellen Verarmung und in einer neuen Bildungsferne und Dequalifizierung. In Stendal in der Altmark in Sachsen-Anhalt sind in den vergangenen Jahren ganze Armutsgebiete entstanden, sagt Kühn. Solche Ecken sind schnell verschrien, niemand will mehr dort leben. Manche Orte werden dieses Image nicht mehr oder nur schwer wieder los.  Sangerhausen ist so ein Fall. „Die Stadt war lange Zeit als Stadt der Arbeitslosen verrufen“, sagt Kühn.

Vor allem Städte mit altindustriellem Charakter leiden darunter, dass die Menschen wegziehen und dadurch die die Wirtschaftsleistung und die Attraktivität der Orte sinken. Im brandenburgischen Wittenberge kämpft die Stadtverwaltung seit Jahren dagegen an. Sie baut den Hafen aus, möbelt aufwändig alte Backsteinhäuser an der Elbe, die durch den Ort fließt, auf, sie baut barrierefreie Wohnungen. Doch das nutzt alles nichts. Wittenberge wirkt selbst bei Sonnenschein wie die stadtgewordene Depression: Ganze Straßenzüge sind leergefegt, obwohl die Häuser tiptop saniert sind. Es gibt ein mittelgroßes Kino, italienische und asiatische Restaurants, Ärzte, Geschäfte. Doch die Jungen ziehen weg, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. Wittenberge gilt als eine der Städte Deutschlands mit der höchsten Alterstruktur.

Schrumpfung hat aber auch positive Seiten. In Halle versuchen Vermieter und Immobilienverwaltungen Interessent/innen zu ködern, indem diese für die ersten Wochen mietfrei wohnen können. Nur die Betriebskosten seien zu zahlen. Ein „Paradies für Mieter“ nennt Kühn das.

Manchmal ziehen Abbruchviertel Studierende und Künstler/innen an, die den morbiden Charme des Verfalls als Kulisse nutzen. Der Architekt Wolfgang Kil erkennt darin einen „Luxus der Leere“, für Kühn sind deren Nutzer/innen „Raumpioniere“.

In Halle versuchen Politiker/innen, Stadtplaner/iInnen und Ökonom/innen den „Luxus der Leere“ bewusst zu nutzen und umzugestalten. In Halle-Neustadt entstehen Parks, Skatertreffs, großzügige Grünanlagen. In ganz Ostdeutschland investierten Bund und Länder in den vergangenen sieben Jahren rund 2,5 Milliarden Euro in das Programm „Stadtumbau Ost“. Damit sollten die „Attraktivität ostdeutscher Städte und Gemeinden als Orte des Lebens und Arbeitens“ gesichert und erhöht werden. Konkret heißt das: Den Gemeinden soll geholfen werden, sich gesundzuschrumpfen. Die Idee dahinter war, dass dieser Prozess von „außen nach innen“ verlaufen sollte: Die Plattenbauten an den Stadträndern sollten abgerissen, historische Stadtkerne saniert werden.

Doch vielerorts kam es genau anders herum. Da bleiben die Platten stehen, weil die Kommunen diese in den Neunzigern aufwändig saniert hatten. In Chemnitz beispielsweise, einer alten Industriestadt in Sachsen, wurden dagegen in der Innenstadt Gründerzeithäuser und zum Teil unter Denkmalschutz stehende Altbauten abgerissen.

Deutschland wird einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2009 bis zum Jahr 2030 etwa 3,7 Prozent seiner jetzigen Bevölkerung verloren haben. Das ist so viel wie die komplette Einwohnerzahl von München und Hamburg zusammen genommen. „Das ist schwierig“, sagt Petra Klug, bei der Bertelsmann-Stiftung Projektmanagerin des Programms „Lebens Werte Kommune“. „Die Kommunen müssen ja planen.“ Orte brauchen, damit sie attraktiv und lebenswert sind, ein Minimum an Infrastruktur: Ärzte, Kitas, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten.

Wie kompliziert das mit der Planung jetzt mitunter schon ist, hat Katja Dörner im Sommer bei einer „Kita-Tour“ durch Nordrhein-Westfalen erlebt. Seit klar war, dass der Kita-Rechtsanspruch für unter Dreijährige kommt, haben manche Kommunen langfristig Einrichtungen gebaut. Anderen Kommunen sei erst aufgefallen, dass sie etwas tun müssen, als der Rechtsanspruch im Sommer in Kraft trat.

Wem dann vor Ort nicht geholfen werden kann, beispielsweise mit einem Kitaplatz, zieht weg. Wohin? Meist in große Städte. Das hat Folgen. In Ballungszentren wie München, Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main fehlen Wohnungen, sind die Unis überfüllt und Jobs knapp. Wer trotzdem hier wohnen will oder muss, weil er hier arbeitet, zieht gezwungenermaßen an die Peripherie. Die Mieten sind zu teuer, Wohneigentum unbezahlbar. Also wieder raus aus der Stadt. Aber immer noch weit genug weg von den schrumpfenden Orten. Die Wege zur Arbeit werden länger, die soziale Mischung der Gesellschaft in den Wohnvierteln wird aufgelöst.