Pflegebedürftigkeit ist ein Armutsrisiko

Ältere Frau mit Regenschirm

Peter Sellin: Wie geht NRW mit dem Pflegenotstand um?

Barbara Steffens: In Nordrhein-Westfalen ist die Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger Menschen zurzeit noch durch ein breites Angebot stationärer Einrichtungen, ambulanter Dienste sowie durch das außerordentliche Engagement pflegender Angehöriger gesichert. Einen „Pflegenotstand“ haben wir daher noch nicht. Aber wir müssen an vielen Stellen die Versorgungsstrukturen verbessern.

Mit einer grundlegenden Reform des Landespflegerechts und des Wohn- und Teilhabegesetzes versuchen wir bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen auch im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit weitgehend selbstbestimmt leben können. Der Schlüssel für die Zukunft der Pflege liegt im im Quartier, also in der vertrauten, häuslichen Umgebung. Denn die meisten Menschen möchten in ihrem Stadtteil oder Dorf bleiben, auch wenn sie Pflege und Unterstützung benötigen. Deshalb setzen wir statt auf weitere stationäre Einrichtungen auf eine deutliche Stärkung der ambulanten- und niedrigschwelligen Angebote, auf bessere Unterstützung der Angehörigen und auf mehr Prävention. Denn Prävention kann Pflege verzögern, Lebensqualität verlängern, und Kosten sparen. Experten bestätigen, dass mit einer Verschiebung des Eintrittes in die Pflegebedürftigkeit - alleine um einen Monat - in Nordrhein-Westfalen pro Jahr jeweils 50 Millionen Euro eingespart könnten.

Mit dem "Masterplan Quartier" unterstützt das Land die Kommunen bei der altengerechten Entwicklung ihrer Wohnquartiere (www.aq-nrw.de). Mit unseren derzeitigen Strukturen werden wir die zunehmende Zahl der Pflegebedürftigen aller Voraussicht nach, weder finanziell noch personell bewältigen können, schon alleine deshalb werden wir auf Quartiersstrukturen vor Ort zunehmend angewiesen sein.

Eine wichtige Weichenstellung gegen den drohenden Fachkräftemangel haben wir in Nordrhein-Westfalen mit der Einführung der Umlagefinanzierung in der Altenpflegeausbildung geschafft. Gegen den bundesweiten Trend konnten wir innerhalb von zwei Jahren 45 Prozent mehr Auszubildende für den Beruf der Altenpflegefachkraft gewinnen. Dadurch, dass alle in der Pflege tätigen Einrichtungen nun in einen Ausbildungsfonds einzahlen, wurden neue berufliche Perspektiven für insgesamt 14.500 landesgeförderte Altenpflegeschülerinnen und –schüler geschaffen. Die Maßnahmen im Ausbildungsbereich können aber nur dauerhaft erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, die Attraktivität des Pflegeberufs weiter zu steigern.

Im Arbeitsalltag der Pflegekräfte können leistungsgerechte und wertschätzende Bezahlung sowie verbesserte Arbeitsbedingungen den Personalmangel entschärfen. Dazu gehören mehr Gesundheitsschutz, familienfreundlichere Arbeitszeitmodelle und insgesamt ein moderneres Personalmanagement. Und genau hier sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und der Bund in der Pflicht, denn die maßgeblichen Rahmenbedingungen der Pflege sind bundesrechtlich geregelt. Die Bundesregierung muss mit den Ländern gemeinsam neue tragfähige Konzepte für die Gesellschaft der Zukunft entwickeln und eine wirkliche Pflegereform voranbringen. Alleine können Länder und Kommunen das nicht schaffen. Dazu brauchen wir auch veränderte Personalstrukturen z.B. mit Multiprofessionellen Teams. Hierzu, aber auch als Aufstiegsmöglichkeiten haben wir auch in der Pflege akademische Ausbildungsangebote geschaffen. Auch in diesem Bereich setzen wir in NRW Maßstäbe: Mit sieben Hochschulen und elf Modellstudiengänge in den Pflege- und Gesundheitsfachberufen sind wir Vorreiter in der Ausbildung von qualifiziertem Pflegepersonal.

Welchen Umfang und Qualität hat Care Migration im Bereich der Pflege in privaten Haushalten, im ambulanten und stationären Bereich?

Hierzu liegen uns keine Zahlen vor. Insbesondere im Bereich der Privathaushalte ist die heutige Situation von „Care Migration“ mehr als bedenklich. Es kann nicht angehen, dass auf der einen Seite beispielsweise Pflegeheime an überbordender Bürokratie leiden und gleichzeitig ein rechtsfreier Graubereich in der 24-Stunden-Pflege entsteht. Hier müssen wir Transparenz schaffen und vor allem in unserem Versorgungssystem solche Angebote schaffen, dass niemand mehr auf rechtlich bedenkliche Beschäftigungsverhältnisse angewiesen ist. Gemeinsam mit der Verbraucherzentrale versuchen wir, die Menschen hinsichtlich unverzichtbarer, rechtlicher Vorgaben wie dem Arbeitsschutz etc. aufzuklären. Das kann aber nur der Anfang sein.

Welche neuen Chancen ergeben sich aus der Freizügigkeit im Rahmen des EU-Binnenmarkts für die Linderung des Pflegenotstands?

Für den Moment mag die Zuwanderung ausländischer Pflege- und Hilfskräfte als Rettungsanker erscheinen, aber sie kann nicht die Lösung für die vor uns liegenden Aufgaben sein. Eine aktive Anwerbung von ausländischen Pflegekräften, um die Defizite unserer eigenen Pflege-, Ausbildungs- und Beschäftigungspolitik auszugleichen, lehne ich derzeit ab. Der Erfolg unserer Ausbildungsumlage zeigt, dass wir durchaus im eigenen Land noch viel Potential haben. Darum müssen wir uns kümmern, statt ohne Rücksicht auf die sozialen und familiären Strukturen in den Heimatländern der ausländischen Pflegekräfte, den scheinbar einfacheren Weg der Auslandsakquise zu gehen. Für besonders gefährlich halte ich die bei dieser Debatte gern erhobene Forderung nach Absenkung der geforderten Sprachkompetenzen.

Welche politischen Vorschläge und finanziellen Anstrengungen unternimmt NRW, um eine quantitative und qualitative Reform der Ausbildung der Pflegeberufe (Pflegeberufegesetz) voranzubringen?

Seit dem Regierungswechsel 2010 wurden die Landeszuschüsse in der Altenpflegeausbildung von 39,2 auf 54,8 Millionen Euro gesteigert. Mit diesem Geld finanzieren wir praktisch sämtliche nicht von der Bundesagentur für Arbeit geförderten Schulplätze. Inhaltlich begleiten wir die Reform der Pflegeberufe eher konstruktiv kritisch. Unabhängig von den bisher in meinen Augen völlig ungelösten Fragen der Angleichung der Finanzierungs- und Schulsysteme zwischen Alten- und Krankenpflege, werden wir sehr genau darauf achten müssen, dass bei der geplanten Generalisierung die besonderen Kompetenzen der verschiedenen Berufe nicht verloren gehen. Denn bisher ist die Ausbildung in der Altenpflege für junge Menschen eine Alternative zur stärker medizinisch ausgerichteten Krankenpflegeausbildung.

Wird NRW das Vorhaben der großen Koalition im Koalitionsvertrag finanziell mit unterstützen das Schulgeld im Bereich der Altenpflegeausbildung abzuschaffen?

Wir halten Schulgeld in der Altenpflegeausbildung nicht für den richtigen Weg. Für NRW ist das bereits kein heute Thema mehr, denn aufgrund der umfassenden Landesförderung der Fachkraftausbildung gibt es in Nordrhein-Westfalen schon seit Jahren kein Schulgeld im Bereich der Altenpflegeausbildung. Mit der weit übertroffenen Steigerung der Ausbildungszahlen durch die Ausbildungsumlage, die sämtliche Erwartungen übertroffen hat, können wir ein Vorbild für andere Bundesländer sein.

Wer übernimmt Verantwortung für eine menschenwürdige Pflege – die Einzelnen, Wohngemeinschaften, Nachbarschaften oder die ambulanten und stationären Angebote finanziert durch die gesetzliche Pflegeversicherung?

Wenn es uns nicht gelingt, alle genannten Akteurinnen und Akteure und damit unsere Gesellschaft als Ganzes in die Verantwortung für eine menschenwürdige Versorgung und Pflege zu nehmen, werden wir scheitern. Ich bin davon überzeugt, dass in der Pflege nur ein Mix aus verschiedenen ambulanten und stationären Angeboten den unterschiedlichen Lebensentwürfen der Menschen und ihren gesundheitlichen, emotionalen und kulturellen Verschiedenheiten gerecht wird.

Um auch im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit wirklich selbstbestimmt leben zu können, müssen die Menschen die Wahl haben. Ob sie zum Beispiel in einer Senioren-WG oder einem Pflegeheim wohnen möchten oder in der eigenen Wohnung. Um ein solches Wahlrecht abzusichern, brauchen wir deutlich mehr quartiersorientierte und ambulante Betreuungsangebote. Und die bestehenden stationären Angebote müssen wir qualitativ weiterentwickeln, etwa im Hinblick auf eine deutliche Steigerung der Einzelzimmerquote. Auch stationäre Angebote werden aber ein Baustein der Versorgungsstruktur der Zukunft sein.

Wie werden die Pläne der großen Koalition im Bereich Pflege eingeschätzt?

Ich hätte mir im Koalitionsvertrag ein deutlich stärkeres Signal für die rasche Umsetzung einer wirklich umfassenden Pflegereform gewünscht. Und auch nach den ersten Wochen der neuen Regierung habe ich große Zweifel, ob wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und die nachfolgenden strukturellen Verbesserungen, auf die so viele Pflegebedürftige und Pflegekräfte seit langem warten, wirklich in absehbarer Zeit bekommen werden.

Ich befürchte, dass sehr schnell die vereinbarten Beitragserhöhungen den Rahmen für die Reformen vorgeben werden und nicht die tatsächlichen Bedarfe der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräfte. Als Landesministerin werde ich mich daher wie bisher dafür einsetzen, wirklich diese Menschen in den Mittelpunkt der Pflegepolitik auch auf Bundesebene zu stellen.

Was für Anforderungen stellen sich an eine gerechte Pflegepolitik?

Eine gerechte Pflegepolitik muss mit Blick auf die Pflegekräfte eine leistungsgerechte Bezahlung sicherstellen bzw. den Tarifpartnern durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Pflegeversicherung entsprechende Vergütungsvereinbarungen ermöglichen. Und mit Blick auf die Pflegebedürftigen müssen die Unterstützungs- und Hilfeleistungen an ihren individuellen Bedürfnissen und Bedarfen und denen ihrer Angehörigen ausgerichtet sein.

Pflegebedürftigkeit ist in den vergangenen Jahren immer mehr zum Armutsrisiko geworden. Hier muss durch eine Anpassung und Dynamisierung der Versicherungsleistungen dringend gegengesteuert werden. Auch dem Inklusionsgedanken muss endlich Rechnung getragen werden, in dem die Ungerechtigkeit, dass Menschen mit einer Behinderung immer noch eine gleichberechtigte Leistungsinanspruchnahme in der Pflegeversicherung vorenthalten wird, beseitigt wird. Und um die Kosten der Pflege auf alle Schultern gerecht zu verteilen, brauchen wir die Bürgerversicherung.

Insgesamt ist es wichtig, dass die Frage, wie wir im Alter leben wollen, breiter als bisher diskutiert wird. Das Thema muss stärker in den Köpfen ankommen, auch bei den 30-, 40- und 50-Jährigen. Wir müssen heute die Grundlagen dafür schaffen, damit das Glück der längeren Lebenserwartung auch eine Verlängerung der Lebensqualität bedeutet. Einer so wohlhabenden Gesellschaft wie unserer mit einer so leistungsstarken Volkswirtschaft sollte dies gelingen.

 

Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen) ist Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter in Nordrhein-Westfalen.