Volksentscheid zum Tempelhofer Feld: Lernt Berlin eine neue Beteiligungskultur?

Was sind die Lehren aus dem Volksentscheid zum Tempelhofer Feld? Dass es in Berlin zu derart fulminanten Volksentscheiden kommt, ist auch ein Resultat einer stark entwicklungsbedürftigen Beteiligungskultur.

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Aufkleber "100% Tempelhofer Feld"

Der Berliner Volksentscheid zum Tempelhofer Feld, der zeitgleich mit der Wahl zum Europäische Parlament (EP) stattgefunden hatte (25. Mai), war ein Paukenschlag, der auf die entwicklungsbedürftige politische Kultur der Metropole hinweist. Während die große Koalition aus SPD und CDU vergiftet wirkt, breitet sich die Erkenntnis aus, dass Berlin weniger einen neuen Masterplan für das Feld braucht, sondern vielmehr einen Masterplan für eine Kultur der deliberativen Bürgerbeteiligung und für eine Kultur des wechselseitigen Lernens in Sachen öffentlicher Dialog zwischen Bürger/innen, Verwaltung und Stadtpolitik. Es sieht so aus, als sei der Paukenschlag gehört und verstanden worden: Macht sich Berlin auf den Weg zu einer neuen Beteiligungskultur?

Die Berliner SPD-Regierung ist angeschlagen, weil ihr Kalkül so gründlich schiefgegangen ist. Die zeitgleiche Abstimmung über das EP und den Volksentscheid „100% Tempelhof“ hat eben nicht dazu beigetragen, das Quorum zugunsten einer Zustimmung zum Senatsentwurf zu überspringen. Das Quorum wurde locker geschafft, allerdings sehr eindeutig in allen Bezirken zugunsten der Initiative „100% Tempelhof“. Der Senatsentwurf ist mit großer Mehrheit abgelehnt. Tatsächlich erwägt derzeit niemand nachzuprüfen, ob das Landesparlament eine Möglichkeit hätte, den per Volksentscheid beschlossenen Gesetzentwurf „nachzubessern“, denn infolge der parlamentsinternen Vorgeschichte sind die Fraktionen zerstritten – obwohl Konsens bestehen dürfte, dass nun parteipolitisch eigentlich niemand so recht gewonnen hat.

Die Grünen freuen sich, dass die Senatspläne gestoppt worden sind, sind sich aber ihrer prekären Situation durchaus bewusst. Sie wollen eine behutsame, ökologisch und sozial korrekte Randbebauung an der Neuköllner und Autobahn-Seite, aber auf keinen Fall den Wowereit-Masterplan. Mit ihrem durchaus mutigen Vorstoß, anschließend an die erste Phase (erfolgreiches Volksbegehren) einen „Dritten Weg“ für Tempelhof auszuhandeln und der 100%-Initiative einen überparteilichen Vorschlag gegenüber zu stellen, scheiterten sie an den Betonköpfen bei SPD und CDU. Speziell der Stadtentwicklungssenator, Michael Müller, hatte zu diesen gar nicht gehört, steht aber jetzt in der Koalition als verantwortlicher Verlierer da. Ein Kompromiss kam nicht auf den Weg – woraufhin die Grünen sich per Landesparteitagsbeschluss darauf verständigten, die 100%-Initiative zu unterstützen und zugleich zu publizieren, dass und wie sie bauen lassen wollen. Gerade die Reformer innerhalb der SPD - die intern ganz sicher unter Druck seitens des Loyalitätsgebots gegenüber OB Wowereit standen, den die Grünen direkt angegriffen hatten: „Würden Sie diesem Mann noch einen Flughafen anvertrauen?“ - fühlen sich jetzt von den Grünen in die Pfanne gehauen. Kurzfristig: Kein Ausweg in Sicht. Stillstand - nicht zwangsläufig wegen des rechtlichen Kerns des Volksentscheids, sondern wegen der verfahrenen politischen Konstellation, in der er erfolgreich zu Ende ging.

Das Ganze ist ein Lehrstück für zweierlei: Für Stärken und Schwächen des Instruments „Volksentscheid“ und für den großen Entwicklungsbedarf der Stadt Berlin im Hinblick auf eine Kultur von Beteiligung und Stadtentwicklung im öffentlichen Dialog. In einer Situation, in der sich viele Leute weniger an Parteien binden, sich aber dafür temporär-projekthaft für konkrete Themen und Probleme engagieren, ist ein hoher Mitsprachebedarf und –anspruch gegeben. Initiativen für Volksbegehren und Volksentscheide – für „Volksgesetzgebung“ - vermögen auch all die Protestler zu mobilisieren, die der Politik eins auf die Mütze geben wollen.

Allerdings ist das Instrument selbst auch unflexibel. Einmal an den Start gebracht, kann der zur Abstimmung stehende Text nicht mehr verändert werden, selbst wenn die Initiator/innen im Verlauf der Straßendebatten Nachbesserungsbedarf entwickeln sollten. Ist die erste Stufe des Volksbegehrens gelungen, muss die zweite Phase – der Volksentscheid – mit dem unveränderten Initiativtext durchgeführt werden. Am Ende steht eine Ja/Nein-Abstimmung: Ein Stop für ein verfahrenes Projekt, Zeit für ein Memorandum. Allerdings kein Platz für die Entwicklung und Aushandlung von Kompromissen, für die Entfaltung von guten Ideen, wie mit dem zur Debatte stehenden Problem innovativ umgegangen werden könnte. Am Ende gibt’s Sieger und Verlierer nach Punkten, wie bei einer Wahl per Stimmabgabe üblich, aber eben nicht unbedingt eine neue Lösung.

Dass es in Berlin zu derart fulminanten Volksentscheiden kommt, ist auch ein Resultat einer stark entwicklungsbedürftigen Beteiligungskultur. Vor drei Jahren brachte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin eine schöne Initiative an den Start: das Berliner „Handbuch zur Partizipation“. Erstellt von erfahrenen Stadtentwickler/innen, sammelt es zahlreiche Gute-Praxis-Beispiele auf Bezirksebene für gelungene Prozesse von Bürger/innengesprächen, Beteiligungsverfahren und Abstimmungsprozessen, kommunalen Leitbildern und Richtlinien. Allerdings bleibt offen, welche Konsequenzen auf Ebene der Landesregierung gezogen werden.

Die Bundeshauptstadt Berlin hat eine Beauftragte für bürgerschaftliches Engagement, aber keine Richtlinie zu einer partizipationsorientierten Politik, keinen politisch-öffentlichen Diskussionsprozess über einen Weg dahin, und keine Beschlusslage dazu, wie gesamtstädtisch mit einem angewachsenen Beteiligungsbegehren umgegangen werden soll und wie die Stadt die kreativen Potentiale nutzen will, die sich hier artikulieren. Ein Volksentscheid mag Sinn machen als Abschluss einer Meinungsbildung – wo er sie ersetzt, taugt er eben vor allem als besagter Paukenschlag.

Der hat nun immerhin dazu geführt, dass nicht nur die Grünen, sondern auch SPD und CDU öffentlich darüber diskutieren, dass Bürger/innenbeteiligung in Berlin reformiert werden solle. Als Eintagsfliege oder taktisches Mittel zur Absicherung etwa der Olympiabewerbung taugt sowas allerdings nicht: Bürger/innenbeteiligung braucht Verabredungen und verläßliche Regeln auf Dauer. Städte wie Heidelberg, Mannheim, Leipzig oder Bonn können hierfür bereits Vorbilder liefern.

Heinrich-Böll-Stiftung, BiwAK eV und Stiftung Mitarbeit organisierten am 20. Juni 2014 die Tagung „Stadt beteiligt. Wie gute Beteiligung verankert wird“. Die Doku ist hier zu finden.

» Tagungsdokumentation