Deutsche Außenpolitik: Auf dem Weg zu mehr Verantwortung?

Von links nach rechts: Beata Pęksa, François Heisbourg, Cathryn Cluever, Heinrich August Winkler, Cem Özdemir, Ralf Fücks
Teaser Bild Untertitel
v.l.n.r: Beata Pęksa, François Heisbourg, Cathryn Cluever, Heinrich August Winkler, Cem Özdemir, Ralf Fücks

Bundespräsident Gauck hat sich am 14. Juni in einem Interview erneut für eine entschiedenere deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ausgesprochen und damit wie schon nach seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Januar kontroverse Reaktion ausgelöst. Zustimmung und Ablehnung kreisten damals wie heute um die Frage, ob die Bundeswehr sich künftig häufiger an humanitären Einsätzen  zur internationalen Konfliktbewältigung beteiligen sollte. Diese militärische Dimension des Themas wurde auch während der Auftaktveranstaltung der zweitägigen 15. Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung am 19. Juni ausgiebig diskutiert, die Podiumsdiskussion ließ jedoch schnell deutlich werden, dass es sich hier nur um ein Teilproblem der deutschen Außenpolitik handelt. Die Bundesrepublik müsse künftig mit einem klaren Bekenntnis zum westlichen Bündnis nicht nur militärisch handlungsfähiger werden, sondern ihren gesamten außenpolitischen Werkzeugkasten sehr viel engagierter nutzen, so die einhellige Meinung der Podiumsgäste aus Deutschland, Polen, Frankreich und den USA. Diese Forderung wurde in der Diskussion an diesem Abend nicht nur mit der heutigen machtpolitischen Position, sondern auch mit der historisch und moralisch begründeten Verantwortung des Landes begründet.

Deutsche Außenpolitik zwischen Kosovo und Libyen

Der Historiker Prof. Dr. Heinrich August Winkler verknüpfte den Leitbegriff der Tagung, die Verantwortung der deutschen Außenpolitik, in seinem einleitenden Referat eng mit der westdeutschen Politik der Westbindung.

Bis in die erste Hälfte des 20 Jahrhunderts hinein hätten die deutschen Eliten die politischen Werte der Aufklärung kategorisch abgelehnt. Erst in den 1950er Jahren habe die Bundesrepublik die zunächst höchst umstrittene Bindung an das westliche Bündnis politisch durchgesetzt. In den folgenden Jahren sei diese Politik dann innenpolitisch immer stärker akzeptiert worden, ein Prozess der Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens, die z.B. von Jürgen Habermas als ein zentrales Merkmal der deutschen Entwicklung nach 1945 charakterisiert worden sei.

Außenpolitisch war diese Periode bis 1990 von einer "komfortablen Sonderrolle" geprägt, wie Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, in seiner Eröffnung des Podiumsgesprächs erläuterte. Mit der Sicherheitsgarantie der NATO und der Erfahrung der deutschen Geschichte im Rücken konzentrierte sich die Bundesrepublik international fast ausschließlich auf  wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Welthandel. Die einzige außenpolitische Initiative dieser Jahre sei die Entspannungspolitik von Bundeskanzler Willy Brandt gewesen, dessen Fokus auf Friedenssicherung, Dialog und Kooperation das außenpolitische Denken der Republik bis heute präge.

Mit der Erlangung der vollen staatlichen Souveränität 1990 sei diese Periode allerdings zu Ende gegangen, stellte Fücks fest. Die Bundesrepublik habe seitdem immer wieder ungewohnte und "bittere" außenpolitische Entscheidungen treffen müssen und dabei ihre "außenpolitische Unschuld verloren". Ein Höhepunkt dieser Entwicklung sei die Beteiligung am NATO-Einsatz in Kosovo 1999 gewesen, dem nicht nur die Christdemokraten, sondern auch die SPD und die Grünen zugestimmt hätten. Die Bedeutung dieser Entscheidung  wurde auch von Heinrich August Winkler hervorgehoben, da hier die deutsche Vergangenheit des 20. Jahrhunderts durch Außenminister Fischer zum ersten Mal nicht zur Ablehnung, sondern zur Begründung der deutschen Teilnahme an einem Militäreinsatz im Ausland angeführt worden sei ("Nie wieder Auschwitz").

Seit dieser einschneidenden Entscheidung von 1999 mehrten sich allerdings die Zeichen, dass der "progressiven" Entwicklung der deutschen Außenpolitik eine erneute "Regression" (Fücks) folgen könnte, wie an diesem Abend nicht nur Ralf Fücks und Heinrich August Winkler, sondern auch Dr. François Heisbourg von der "Foundation for Strategic Research" in Paris konstatierte. Aus französischer Perspektive sei die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovoeinsatz besonders bemerkenswert gewesen, da Deutschland zum ersten Mal militärisch "rohe Gewalt" ("brute Force") eingesetzt habe, ohne ein klares UN-Mandat zu haben. Seitdem entwickle sich die deutsche Außenpolitik allerdings wieder "rückwärts". Bereits am Afghanistaneinsatz habe sich die Bundesregierung nur mit Vorbehalten beteiligt. Deutschland habe zudem eine bedauerliche Verweigerungshaltung gegen eine strategische Kooperation mit Großbritannien im früheren Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS an den Tag gelegt und damit eine große Chance verstreichen lassen. Die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung des UN-Sicherheitsrates über einen humanitären Militäreinsatz im libyschen Bürgerkrieg 2011 sei deshalb auch keine Ausnahme, sondern vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die Heisbourg folgendermaßen zusammenfasste: "It's pretty pathetic."

Einen "pazifistischen Sonderweg" darf es nicht geben

Hintergrund der von allen Podiumsgästen beklagten Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik ist ein deutlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung. Ralf Fücks zufolge sprechen sich heute Umfragen zufolge etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen und nur 37 Prozent für ein stärkeres deutsches Engagement im internationalen Krisenmanagement aus. Dieses Verhältnis habe sich seit 1994 nahezu umgekehrt. Allerdings seien die Zeiten vorbei, in denen der "deutsche Michel" angesichts entfernter Konflikte "gemütlich sein Bier trinken konnte", so Fücks. Die heutigen Krisen ließen sich in einer immer enger verwobenen Welt nicht mehr ignorieren. Der UN-Sicherheitsrat werde durch die wachsende Polarisierung zwischen USA und Russland zunehmend blockiert. Auch die USA stießen als internationale Ordnungsmacht immer häufiger auf politische, finanzielle und militärische Grenzen. Das entstehende sicherheitspolitische Vakuum in Ländern wie Syrien oder Irak gefährde nicht nur unsere Sicherheit, es werfe auch die Frage auf, ob wir künftig tatsächlich in einer Welt leben wollten, in der anstelle des Völkerrechts und demokratischer Werte nur noch das Recht des Stärkeren herrsche, so Fücks. Es gehe in den heutigen Konflikten auch um die Gestaltung der normativen Grundlagen der künftigen internationalen Ordnung. Die Frage nach der außenpolitischen Verantwortung habe also eine Tragweite, die in Deutschland nicht angemessen wahrgenommen werde.

Die außenpolitischen Umfragen in der deutschen Bevölkerung wirkten auch auf Heinrich August Winkler "erschreckend", da sie von den westlichen Verbündeten nicht nur als neuer "pazifistischer Sonderweg", sondern als Ausdruck eines wachsenden Zweifels an der Westbindung interpretiert werden könnten. Die deutsche Ablehnung des Irak-Krieges sei ein wichtiger Akt der "Emanzipation" von einem Amerika gewesen, das unter George W. Bush die eigenen Werte fundamental in Frage gestellt habe. Das transatlantische Bündnis dürfe deshalb aber nicht in Frage gestellt werden. Meinungsverschiedenheiten seien Ausdruck einer gemeinsamen Streitkultur, so Winkler. Das große Ziel des "normativen Projekts des Westens" müsse weiterhin die Durchsetzung von weltweit geltenden Menschenrechten bleiben. Als relativ junge westliche Demokratie müsse sich Deutschland hier weiter beweisen.

Die Tagungsgäste wiesen darauf hin, dass die Kluft zwischen den "Berlinern" und einem großen Teil der Bevölkerung in außenpolitischen Fragen offenkundig anwachse. Nach Ansicht von Cathryn Clüver, Direktorin des "Future of Diplomacy Project" an der Harvard Kennedy School, müsste sich die deutsche Öffentlichkeit häufiger darüber im Klaren sein, dass viele außenpolitische Themen eine sicherheitspolitische Dimension im Inland hätten, wie z.B. die aktuellen Warnungen vor radikalislamischen Rückkehrern aus dem Syrienkrieg bestätigten.

Die von vielen Referenten beklagten Umfrageergebnisse sollten Winfried Nachtwei zufolge nicht verzerrt wiedergegeben werden. Tatsächlich würden sich viele Deutsche nicht einfach für ein "Raushalten" entscheiden, sondern ihre Zustimmung zur "Einmischung" von konkreten Zielen und Maßnahmen abhängig machen, erklärte der grüne Sicherheits- und Abrüstungsexperte in seinem Beitrag der offenen Publikumsdiskussion. In militärischen Fragen hänge die Einschätzung nicht zuletzt auch von den Erfolgsaussichten ab. Deutsche "Verantwortung" dürfe aber nicht auf das Militärische reduziert werden, wie es in der sicherheitspolitischen Community besonders gerne geschehe. In vielen zivilen Bereichen im internationalen Krisenengagement habe sich Deutschland auch im Vergleich mit anderen als zuverlässiger Partner erwiesen, da gebe es durchaus Grund für Stolz, so Nachtwei.

Dass sich die Debatte über eine größere internationale Verantwortung Deutschlands immer wieder an möglichen Einsätzen der Bundeswehr entzündet, war nach Ansicht von François Heisbourg durchaus verständlich. Bei Entscheidungen über die Beteiligung an militärischen Konflikten gehe es unmittelbar um Leben und Tod. Ausgeübte oder eben ausbleibende Solidarität zwischen Verbündeten habe deshalb ein besonderes Gewicht. Die Erfahrung zeige außerdem, dass militärische Gewalt bzw. ihre Androhung diplomatische Initiativen zur friedlichen Konfliktlösung manchmal erst ermöglichen. Das Militär müsse deshalb immer ein zumindest virtueller Bestandteil der außenpolitischen "Toolbox" bleiben. Zugleich stehe außer Frage, dass militärische Gewalt nur in sehr wenigen Fällen und nur zur Lösung sehr eng gefasster Ziele geeignet sei. Die französische Intervention in Mali sei zum Beispiel mit der fest umrissenen Absicht erfolgt, die unmittelbar drohende Entstehung eines radikalislamischen "Dschihadistan" zu verhindern, erklärte Heisbourg. Dies sei ohne Zweifel gelungen, die tiefer liegenden Probleme des Landes und der Region ließen sich allerdings nur durch anschließende politische und wirtschaftliche Initiativen lösen.  Die Europäische Union habe hierfür eigentlich das perfekte "Toolkit", ihre Strategiepapiere für die Region glichen in der Realität aber eher politischen "Wunschlisten". Ausgerechnet die Sowjetunion habe demonstriert, wie es besser geht: Von den frühen 1970er bis zur Mitte der 1990er Jahre seien jährlich etwa 2.000 afghanische Experten in sowjetischen Hochschulen ausgebildet worden, deren Fachkenntnisse den afghanischen Staatsdienst zum Teil bis heute prägten. Es sei "beschämend" festzustellen, dass sich die EU an dieser erfolgreichen Strategie der Sowjets ein Beispiel nehmen sollte, so Heisbourg.

Die deutsche Außenpolitik braucht ein Gesamtkonzept

Für die europäischen Mängel bei der Entwicklung effektiver Entwicklungsstrategien für Länder wie Mali oder Afghanistan machte François Heisbourg in der Diskussion auch Deutschland mitverantwortlich. Der im internationalen Vergleich geringe Umfang der deutschen Entwicklungshilfe sei noch unverständlicher als die Ablehnung von neuen Bundeswehreinsätzen. Diese Kritik wurde von Cathryn Clüver noch deutlicher formuliert. Die Bundesrepublik habe jahrelang "unglaublich stark" von den Vorzügen einer eng miteinander verbundenen Welt profitiert. Die deutsche Zurückhaltung in der internationalen Politik bei gleichzeitigen Rekordhochs deutscher Waffenexporte in zum Teil fragwürdige Länder wirke auf Verbündete wie die USA vor allem widersprüchlich.

Clüver erklärte, dass die außenpolitisch pragmatisch denkende Obama-Regierung auch künftig nicht mit Bundeswehreinsätzen rechnen wird, die über die Beschränkungen des Grundgesetzes hinausgehen. Erwartet werde allerdings, dass die deutsche Außenpolitik neben Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auch ein der internationalen Bedeutung des Landes entsprechendes Führungsverhalten ("Leadership") an den Tag lege. Die Übernahme zusätzlicher Verantwortung erfordere ein neues integratives Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland sollte sich nicht nur über die eigenen Interessen, sondern auch über die zusammenhängende Wirkung seiner außenpolitischen Instrumente im Klaren sein, zu denen neben der Diplomatie und der Entwicklungspolitik auch die Verteidigungspolitik gehöre, so Clüver.

Der Testfall Ukraine

Die Entscheidung der Bundesregierung gegen eine Beteiligung am Libyeneinsatz vor drei Jahren war nach Ansicht aller anwesenden Experten auch deshalb so "undurchdacht" (Winkler), weil sich Deutschland gegenüber den westlichen Bündnispartnern USA, Frankreich und Großbritannien isoliert habe. Ralf Fücks zufolge verstünden die Verbündeten nicht mehr, warum sich Deutschland bei "harten Fragen internationaler Ordnungspolitik" heraushalten wolle. Er zitierte den polnischen Außenminister Sikorski, der im Zuge der Eurokrise gesagt hatte: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit". Sikorskis Kollegin Beata Pęksa vom polnischen Außenministerium in Warschau meinte, dass sich die globale Sicherheitsordnung heute in einem historischen Umbruch befinde, den Deutschland z.B. durch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mitgestalten sollte. Ein kategorischer Verzicht auf militärisches Eingreifen in humanitären Krisen sei dagegen mit einer "unterlassenen Hilfeleistung" zu vergleichen, die im zivilen Leben zu Recht strafbar sei.

In der aktuellen Ukraine-Krise stehe nicht nur die internationale Verantwortung, sondern auch die Bündnispflicht Deutschlands auf dem Prüfstand, so Beata Pęksa. Ralf Fücks berichtete über einen Besuch in Polen, bei dem quer über das politische Spektrum "erhebliche Irritation" darüber geherrscht habe, dass die zeitweise Verlegung von zusätzlichen  NATO-Truppen an die polnische Ostgrenze in der deutschen Debatte als "Säbelrasseln" abgetan werde. Pęksa meinte, dass der Westen historisch und moralisch verpflichtet sei, die Länder in Ost- und Südosteuropa vor einer möglichen russischen Bedrohung zu schützen. Deutschland dürfe Polen nicht daran hindern, sich selbst zu verteidigen und Russland durch eine Verlegung von NATO-Truppen wirksam "abzuschrecken". Es sei kaum zu verstehen, dass Deutschland diese militärischen Maßnahmen ablehne und zugleich harte Sanktionen gegen Russland verhindere, um die russisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen nicht zu schädigen.

Alle Podiumsgäste waren sich darin einig, dass die überwältigende Verantwortung für die Eskalation der Krise in der Ukraine bei Präsident Putin zu suchen sei. Ralf Fücks warf Putin vor, mit eigentlich längst vergessenen Methoden zu versuchen, das "russische Imperium" als "zutiefst autoritäre Macht" neu zu errichten. Putin sehe Russland als politische und kulturelle Gegenmacht zur USA und habe den Weg der Partnerschaft mit der EU endgültig aufgegeben. Der Westen sollte darauf mit Entschlossenheit und Einigkeit reagieren, so die einhellige Forderung. Länder wie die Ukraine sollten François Heisbourg zufolge ähnlich wie das neutrale Schweden und Finnland im Kalten Krieg behandelt werden und wirtschaftliche sowie militärische Unterstützung erhalten.

Die Notwendigkeit eines geeinten Auftretens der EU-Mitgliedstaaten in der Außen- und Energiepolitik war für den Grünen-Parteivorsitzenden Cem Özdemir eine der wichtigsten Lehren aus der Ukraine-Krise. Wenn der russische Energieriese Gazprom gezwungen wäre, nur noch mit Brüssel zu verhandeln, könnte Russland die EU-Mitglieder nicht länger gegeneinander ausspielen. Gerade in Deutschland könne Gazprom bislang nach Belieben "schalten und walten", eine strategische Handlungsfreiheit, die der Bundeswirtschaftsminister mit Hilfe des Außenwirtschaftsgesetzes schnell beenden sollte, so Özdemir. Er beklagte, dass es in Deutschland bei vielen immer noch die "Sehnsucht" gebe, sich in Konflikten auf eine "dritte Seite" zu stellen. Der Fall Ukraine habe demonstriert, dass dies nicht länger möglich sei: Passivität bedeute letztlich, Partei für Russland zu ergreifen.

Video-Mitschnitt der Veranstaltung

 

Auf dem Weg zu mehr Verantwortung? - Auftaktveranstaltung zur 15. Außenpolitischen Jahrestagung - Heinrich-Böll-Stiftung

video-thumbnailDirekt auf YouTube ansehen