Kein Krieg aus dem Nichts

Ukrainischer Soldat in der Nähe von Sloviansk
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Aggressionen wie gegen Georgien und die Ukraine könnten sich wiederholen und stärker werden, wenn der Westen keine entsprechende Antwort findet

Expert/innen aus Deutschland und Russland diskutierten in der Heinrich-Böll-Stiftung über die innenpolitischen Entwicklungen in Russland, die zur Krise mit der Ukraine führten. Und vor welchen Herausforderungen jetzt der Westen steht.

Der unerklärte Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Wendepunkt in der europäischen Politik. Die Krise ist ein Bruch, aber sie ist kein Ereignis aus dem Nichts, sondern steht in einer Folge von Entwicklungen in Russland, die spätestens seit 2007 sichtbar waren. Nötig ist deshalb eine neue Außenpolitik für Osteuropa und Russland. Doch ob die Mitgliedsstaaten der EU den Willen aufbringen werden, ihre Werte, Normen und Prinzipien gegen die russische Führung um Präsident Wladimir Putin durchzusetzen, ist offen.

Dies sind wesentliche Ergebnisse der Diskussion "Russland auf dem Weg in die Isolation?" vom 24. und 25. September in der Heinrich-Böll-Stiftung. Das Fachgespräch fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Russische Alternativen" in Kooperation mit der Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde statt.

 

Russland auf dem Weg in die Isolation - Heinrich-Böll-Stiftung

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Lew Gudkow, Direktor des Forschungszentrums Lewada in Moskau, beschrieb, wie sich die Stimmung in Russland seit Januar dieses Jahres tiefgehend veränderte. Grund sei der Beginn einer massiven Propagandawelle der staatlichen und regierungsnahen Medien in Zusammenhang mit den Protesten in der benachbarten Ukraine gegen Präsident Wiktor Janukowitsch. Die Annexion der Krim bescherte Putin ein enormes Wachstum seiner Zustimmungsraten auf bis zu 87 Prozent. Schon einmal hatte er es mit ähnlichen Mitteln geschafft, die Stimmung zu seinen Gunsten zu drehen: während des Georgien-Krieges 2008. Die Ausrichtung gegen einen äußeren Feind habe dazu geführt, dass die Gesellschaft  zusammengerückt sei, so Gudkow.

Putin verwendet die aggressive Rhetorik gegen die angeblichen "Faschisten in der Ukraine" und die Positionierung gegen den Westen als Machtinstrument zur Bewahrung der Kontrolle im Inland. Die Annexion der Krim dient ihm als wichtigstes Legitimationselement seiner inzwischen 15 Jahre währenden Herrschaft. Die Bevölkerung sieht es als größten Verdienst Putins an, dass und wie er den Großmachtanspruch Russlands in der Welt vertritt und durchsetzt.

Einfluss von rechts außen

Der außenpolitische Kurs Putins lenkt die russische Bevölkerung von einer latenten Systemkrise ab, die Gudkow bereits 2007 konstatierte. Als sich die Regierung aus den sozialen Programmen verabschiedet habe, sei die Unzufriedenheit in der Bevölkerung gestiegen. Das Volk sei der Herrschaft Putins mit ihrer Korruption und Bürokratie müde geworden. Viele Menschen am unteren Rand der Gesellschaft hätten sich zudem ungeschützt gefühlt. In der Folge sei eine ultranationalistische und xenophobe Gegenbewegung entstanden. Die Zahl der interethnisch motivierten Gewalttaten sei im Herbst 2013 auf den höchsten Stand der vergangenen 25 Jahre gestiegen.

Diese Stimmung fand ihren Niederschlag in den Machtstrukturen der Elite. Rechtsextreme und nationalistische Politiker gewannen seit 2012 auf Kosten der rationaler kalkulierenden Wirtschaftseliten an Einfluss. Mit einem Antikorruptionsprogramm und einer Initiative gegen Offshore-Geschäfte fing der Kreml den Unmut der Bevölkerung auf. Auch gegenüber den Silowiki verloren die Geschäftseliten an Macht. Zugleich nehmen Konkurrenzkämpfe innerhalb der einzelnen Machtgruppen zu.

Wie lange die nationalistisch-patriotische Stimmung dominieren wird und deren Verfechter die Oberhand behalten, hängt auch davon ab, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung auf die Stimmung in der Bevölkerung niederschlagen wird. Absehbar ist, dass Putin die 2011/12 begonnene Zementierung seiner Macht fortsetzen wird. Gudkow warnte, Russland entwickele sich von einem autoritären zu einem diktatorischen Regime.

Der Bewegungsspielraum für unabhängige Organisationen und Medien ist bereits auf ein Minimum gesunken. Unabhängige Journalist/-innen bewegen sich bei ihrer Arbeit permanent am Rande der Illegalität. Professioneller Journalismus kann wegen ausgehender Werbeeinnahmen und sinkender Publikumszahlen nicht als Geschäftsmodell überleben. Stattdessen wurden regierungsnahe Oligarchen dazu angehalten, die letzten unabhängigen Medien zu übernehmen und deren Berichterstattung zu beeinflussen. Die staatlichen und regierungsnahen Medien sind zu reinen Propagandainstrumenten verkommen.

Putins Ziele

Zur Aufrechterhaltung seiner Macht wird Putin weiter auf einen aggressiven außenpolitischen Kurs setzen, erwartet Gudkow. Aggressionen wie gegen Georgien und die Ukraine könnten sich wiederholen und stärker werden, wenn der Westen keine entsprechende Antwort finde. Europa müsse auf Prinzipien, Werten und einer moralischen Klarheit bestehen. Denn Putin glaube nur an das Recht des Stärkeren und betrachte jeden Kompromiss als Zeichen der Schwäche.

Die unabhängige Expertin Maria Lipman verwies darauf, dass Putin zwei strategische Ziele verfolgt: Keine Einmischung in innere Angelegenheiten Russlands durch andere Staaten und die Achtung der Souveränität Russlands, die allerdings die als Interessenssphäre deklarierten Ex-Sowjetrepubliken in der Nachbarschaft Russlands einschließt. Putin wolle eine Aufteilung Europas in Interessenssphären nachholen, die aus seiner Sicht nach dem Ende des Kalten Krieges versäumt worden sei.

Lipman erinnerte daran, Putin habe bereits bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 dem Westen vorgeworfen, eine rote Linie überschritten zu haben, wogegen er nun vorgehen werde. Aus diesem Blickwinkel sei die russische Reaktion auf die Entwicklungen in Zusammenhang mit der geplanten Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine absehbar gewesen. Im Westen sei man jedoch immer davon ausgegangen, dass Russland nichts in der Hand habe, um diese Drohungen wahr zu machen. Auch hätten sich insbesondere die USA durch ihre Außenpolitik in den vergangenen Jahren anfechtbar gemacht. Anders als zum Ende der Sowjetunion sähen die Menschen in Russland auch keine Alternative mehr im Westen. Im Hinblick auf die Entwicklungen der vergangenen Monate warf Lipman die Frage auf, ob Europa sich und die Ukraine schützen könne. Sie äußerte Zweifel, ob der Westen Russland zwingen kann, Teil der moderneren und menschlicheren Welt zu werden.

Die Abgeordnete der Grünen im Bundestag, Marieluise Beck, forderte einen realistischen Blick auf Russland. Man dürfe sich nicht mehr der Illusion einer Partnerschaft hingeben, die es schon seit Jahren nicht mehr gebe. Die EU habe die Assoziierungsabkommen mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft mit der ihr typischen technokratischen Blindheit vorangetrieben, ohne mögliche Reaktionen Russlands vorherzusehen und sich darauf vorzubereiten. Dabei habe es "politische Wetterleuchten" wie den Georgien-Krieg gegeben.

Forderung nach einer neuen Osteuropa-Politik

Beck warnte, nach einer Atempause könne Putin fortfahren und die Gebiete über Odessa bis Transnistrien einnehmen. Derzeit seien Truppenbewegungen auf der Krim festzustellen. Darüber müsse offen geredet werden. Es dürfe nicht als "schwarze Fantasie" verdrängt werden. Beck stimmte mit Andreas Schockenhoff, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, darin überein, dass eine neue Osteuropa-Politik notwendig sei. Im Mittelpunkt sollten jene Länder stehen, die sich der EU weiter annähern wollen. Während sich Schockenhoff optimistisch über die Aussichten eines Strategiewechsels der EU auch in Richtung Russlands gab, zweifelte Beck, dass die Bereitschaft dazu in Deutschland und in der EU vorhanden sei. Man halte noch zu sehr an der Äquidistanz zwischen Angreifer und Angegriffenem fest. Auch zeichneten sich im Hinblick auf die Ukraine diplomatische Absetzbewegungen ab. Dies sei empörend und das falsche Signal an Putin.

Unterschiedliche Auffassungen wurden darüber geäußert, wie die Sanktionspolitik ausgerichtet werden soll. Von russischer Seite hieß es, Sanktionen sollten explizit gegen jene Eliten verhängt werden, die das russische Volk ausraubten und das Geld im Westen anlegten. Sie dürften aber nicht als Strafe für die russische Außenpolitik verhängt werden. Das russische Volk verstehe nicht, warum die Mistral-Schiffe nicht an Russland ausgeliefert würden. Andere deutsche und russische Teilnehmer unterstrichen dagegen, dass Sanktionen gerade als Reaktion auf die Krim-Annexion und das Vorgehen in der Ostukraine verhängt werden mussten. Der Preis für den Bruch internationalen Rechts müsse für Putin und die ihn stützende Elite so hoch werden, dass sich die Kosten-Nutzen-Kalkulation verändere.
Es wurde auch die Forderung laut, der russischen Bevölkerung die Sanktionspolitik besser zu erklären. Jedoch wurde darauf hingewiesen, dass es dazu kaum noch Möglichkeiten gibt. Auslandssendern werde misstraut, ebenso wie ausländischen Organisationen und Finanzierung russischer Organisationen aus dem Ausland. Das Gesetz über "Ausländische Agenten" habe in der russischen Bevölkerung seine volle Wirkung entfaltet.