Leben an der Grenze - der Gewalt den Boden entziehen

Trauernde Frau
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Bislang hat der Staat keine Strategie entwickelt, um die Hinterbliebenen in Ciudad Juárez zu unterstützen

50 Morde pro Monat zählten die Behörden in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez dieses Jahr – deutlich weniger als im Jahr 2010. Das wird als Erfolg gewertet, doch es bleibt eine erschreckend hohe Zahl.

Während die Gewalt in vielen Teilen Mexikos weiter steigt, ist die Mordrate in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez zuletzt merklich zurückgegangen. Doch es wird viel zu wenig getan, um die Schäden zu beheben, die dieser Krieg an der Gesellschaft angerichtet hat. Ein Unterlassen, das noch langfristige Folgen für die mexikanische Gesellschaft haben wird, fürchtet die Südlink-Kolumnistin Lourdes Cárdenas:

Bis vor Kurzem galt Ciudad Juárez als die gefährlichste Stadt der Welt. Zwischen 2008 und 2012 wurden in dem an der Grenze zwischen dem US-amerikanischen Texas und dem mexikanischen Chihuahua gelegenen Ort mehr als 10.000 Menschen ermordet. Und das nicht nur durch den Kampf zweier Drogenkartelle um Absatzmärkte, sondern auch durch den Krieg der Regierung gegen den Drogenhandel.

Allein im Jahr 2010, als die Gewalt ihren Höhepunkt erreichte, kamen fast 3.000 Menschen gewaltsam ums Leben. Mehr als 10.000 Geschäfte schlossen aus Angst vor Drohungen und Schutzgelderpressung. Juárez erschien wie eine Geisterstadt, in der sich die Angst in alle Poren einnistete.

Heute präsentiert sich die Stadt anders. Geschäfte haben wieder eröffnet, das Nachtleben wird bunter, die Klagen über Schutzgelderpressung sind weniger geworden und die Anzahl der Morde ist deutlich zurückgegangen. Für diese Entwicklung gibt es zahlreiche Erklärungen. Sie reichen von neuen Ermittlungs- und Justizstrategien bis hin zu möglichen Verhandlungen zwischen dem Juárez- und dem Sinaloa-Kartell über die Aufteilung des Territoriums oder den Sieg eines der beiden Kartelle über das andere.

Tatsache ist, dass die Behörden dieses Jahr bisher durchschnittlich 50 Morde monatlich gezählt haben. Eine Zahl, die sie als relativ „normal“ ansehen für eine Stadt mit 1,2 Millionen Einwohner/innen, die von extremer Armut und sozialer Desintegration geprägt ist und die an die USA grenzt, den größten Drogenkonsumenten der Welt. Im Vergleich: 2010 waren es durchschnittlich 250 Morde im Monat.

Die Wunden sind nicht verheilt

Gewiss, Ciudad Juárez ist nicht mehr die „Mordhauptstadt der Welt“. Aber die Wunden, die dieser Krieg hinterlassen hat, sind noch nicht verheilt. Und niemand weiß, wie lange dieser relative Frieden anhalten wird. Das gelegentliche Auftauchen einer Leiche mit Folterspuren oder eines mit Gnadenschuss „Hingerichteten“ lassen die in der Psyche der Einwohner/innen tief verwurzelte Angst wieder aufleben. Für den Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Gustavo de la Rosa ist Juárez eine „emotional kranke“ Stadt, die noch viele Jahre brauche, um geheilt zu werden. Vorausgesetzt, die Gewalt bricht nicht wieder aus.

Können die Traumata der vielen Kriege, die Mexiko in Folge des Drogenhandels, der Korruption und der Straflosigkeit erlebt, überwunden werden? Können sich die Eltern, Geschwister und Kinder von Menschen, die zerstückelt und auf mehrere Plastiktüten aufgeteilt in unterschiedlichen Stadtteilen gefunden werden, jemals von dem Schmerz und der Ungewissheit erholen? Können die Wut, der Terror und der Schmerz, die sich angesammelt haben, langfristig eine positive Kraft entfalten? Und dies in einer Gesellschaft, in der die am stärksten von der Gewalt Betroffenen häufig jene sind, die am wenigsten haben und die von der Gesellschaft am wenigsten wahrgenommen werden?

Auf all diese Fragen habe ich keine Antworten. Während ich dies schreibe, muss ich immer wieder an die 43 aus einfachen Verhältnissen stammenden Studenten denken, die in Iguala, im südöstlichen Bundesstaat Guerrero, „verschwunden“ sind und die höchstwahrscheinlich brutal ermordet wurden. Die städtische Polizei hatte sie im Auftrag des Bürgermeisters verhaftet und an die „Guerreros Unidos“ übergeben.

Inzwischen haben zwei verhaftete Bandenmitglieder ausgesagt, sie hätten die Studenten getötet und verbrannt. Wenige Tage nach ihrem Verschwinden hatten die Behörden bereits ein Massengrab mit den verkohlten Resten von 28 anderen Personen gefunden. Die Regierung führte Gentests durch und kam zu dem Schluss, dass es sich nicht um die verschwundenen Studierenden handelte. Zu wem, verdammt nochmal, gehören die Knochen aus diesem Massengrab denn dann?

Ich schweife nicht vom Thema ab, wenn ich in dieser Kolumne über Iguala schreibe. Vielmehr ist es die natürliche Folge, wenn man über die Gewalt in der Grenzregion und ihre Folgen für das ganze Land nachdenkt. Denn während in Ciudad Juárez relativer Friede herrscht, verblutet ein ganzes Land. Als Mexikos Einwohner/innen sind wir alle auf die eine oder andere Weise von dieser Gewalt betroffen.

Mehrfach habe ich in dieser Kolumne geschrieben, die Grenze sei eine Art Laboratorium für viele der sozialen Phänomene Mexikos. In diesem Sinne sagt das Trauma der Gesellschaft von Ciudad Juárez und die Art und Weise wie diesem begegnet wird, viel darüber aus, was den Rest des Landes erwartet. Vor allem die Generation, die als Zeuge oder Opfer dieser Gewalt aufgewachsen ist.

Die Waisen bleiben allein

Der Drogenkrieg hat zwischen 20.000 und 30.000 Kinder und Jugendliche zu Waisen gemacht. Nur die allerwenigsten haben psychologische Hilfe erhalten. Die Kinder und Gewaltopfer zu vergessen bedeutet, dass die offene Wunde weiter wächst. Es bedeutet, wegzusehen und nicht zu versuchen, die Schäden, die dieser Krieg angerichtet hat, zu beheben.

Die Stadtregierung von Ciudad Juárez, die sich vor der Welt damit rühmt, die Mordrate verringert zu haben, müsste auch eine Strategie zum Umgang mit den Opfern vorstellen. Vor allem aber sollte die Regierung nicht nur kurzfristig denken, sondern Strategien entwickeln, die ein Wiederaufflammen der Gewalt verhindern und erneut die Jugendlichen erfasst, die keine Bildungs- oder Arbeitsmöglichkeiten haben.

Viele Ursachen, die der Gewalt den Boden bereitet haben, wie extreme Armut, soziale Marginalisierung und Arbeitslosigkeit, sind für diese Stadt weiterhin charakteristisch. Jeder Tag erinnert uns das daran, dass die Kinder und Jugendlichen für das organisierte Verbrechen Kanonenfutter und letzten Endes die ersten Opfer eines Krieges sind, der heute die gesamte mexikanische Gesellschaft traumatisiert.

Aus dem Spanischen von Tobias Lambert.

Diese Kolumne erscheint in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Magazin Südlink; Herausgeber: INKOTA-netzwerk.