Indiens lebendige Demokratie

Seit ich im Mai angefangen habe, diesen Blog zu schreiben, habe ich die Stärke der indischen Demokratie zu schätzen gelernt. Als ich zunächst die gesamtindischen Wahlen, dann die Wahlen in verschiedenen Bundesstaaten verfolgte, wurde mir die Macht der indischen Wähler bewusst, die Tatsache, dass sie ihr eigenes Schicksal friedlich und demokratisch bestimmen können. Klischees wie ballot not bullet – Wahlen anstatt Waffen – erscheinen mir plötzlich gar nicht mehr so klischeehaft und die indische Demokratie ist trotz ihrer Probleme ein Leuchtturm, der in eine Region hinausstrahlt, in der unsere Nachbarn immer noch versuchen, die Demokratie zu institutionalisieren und sie dauerhaft zu etablieren.

Wegweisende Wahlen

Die indische Politik hat ein turbulentes Jahr erlebt. Die Wahlen des Jahres 2014 gelten weithin als die „wegweisendsten Wahlen“ seit 1977, als die Congress-Partei zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 auf Bundesebene Wahlen verlor. Jetzt hat nach zwanzig Jahren eine Partei, die BJP, eine deutliche Mehrheit in allgemeinen Wahlen errungen und dieses Ergebnis wird als ein unmissverständliches Zeichen eines „ehrgeizigen“ Indien interpretiert, das Wachstum, Entwicklung und Arbeitsplätze will, und nicht mehr die Floskeln, mit denen man die Menschen jahrzehntelang abgespeist hat. Nach der Wahl der BJP, so die allgemeine Erwartung, werde die Politik von Premierminister Modi die sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen in Indien verbessern. Angesichts der scharfen und oft polarisierenden Wahlkampagne fragte man sich auch, wie die Regierung die Interessen all der verschiedenen Gemeinschaften und Bundesstaaten in Indien unter einen Hut bringen werde.

Wahlen in Jammu und Kashmir

Seit der Unabhängigkeit Indiens ist Jammu und Kashmir eine unruhige und umkämpfte Region. Sie hat interne und externe Probleme: eine separatistische Bewegung im Inneren und nach außen den Grenzstreit mit Pakistan. Indien hat drei Kriege mit Pakistan um J&K geführt. Während die indische Regierung und die Menschen in J&K den demokratischen Prozess der Wahlen weiterführen möchten, versuchen die Separatisten, dies durch Terroranschläge zu sabotieren. Die Instabilität des Staats wirkt sich auch auf die wirtschaftliche Entwicklung aus und verschlimmert die Rückständigkeit des Staats. Daher sind die Wahlen in J&K in diesem Monat einmal mehr ein Kampf zwischen der Macht des Wahlzettels und der Macht des Gewehrs. Die hohe Wahlbeteiligung hat jedoch gezeigt, dass die Menschen an dem demokratischen Prozess teilnehmen wollen, trotz des Aufrufs der Separatisten zum Wahlboykott. Laut eines Artikels im Hindu „verzeichnete Jammu und Kashmir am Sonntag eine Wahlbeteiligung von 49 Prozent in 18 Wahlkreisen, zum großen Teil trotz des Boykottaufrufs der Separatisten.“[1] Über die Rekordwahlbeteiligung schreibt NDTV:

„Nach langen Schlangen und lebhaftem Wahlgeschehen den ganzen Tag verzeichnete Jammu und Kashmir eine Rekordwahlbeteiligung von 71,28 Prozent in der ersten Phase der Parlamentswahlen, die höchste seit 25 Jahren. Viele Menschen warteten auch nach der offiziellen Schließung der Wahllokale um 16 Uhr noch darauf, ihre Stimme abgeben zu können.[2]

Jeder Chief Minister trägt eine hohe Verantwortung, das trifft aber ganz besonders auf den Chief Minister von J&K zu, der die besonderen Probleme seines Staats angehen muss. Der Economist schreibt über den aktuellen Chief Minister von J&K:

„Historisch stärker ist die Abdullah-Dynastie mit ihrer National Conference. Diesen Monat wird sie eine Tracht Prügel beziehen. Omar Abdullah, konzilianter Chief Minister der dritten Generation, hat den Kontakt zur Realität und quasi die Kontrolle über die Regierung verloren. Gewalttätige Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der Polizei in den Sommern 2008 bis 2010 haben ihn ohnmächtig aussehen lassen; allein im Jahr 2010 hat die Polizei mehr als 110 Jugendliche getötet. Die zunehmende Korruption hat den Unmut der Öffentlichkeit über Abdullah nur gesteigert.“[3]

Daher werden diese Wahlen auch zeigen, ob die Menschen eine effektive Regierung wollen, die die Herausforderungen, vor denen der Staat steht, angehen kann. Der Staat wird seit Jahrzehnten abwechselnd von zwei Dynastien regiert, den Abdullahs und den Muftis. Die BJP, die in J&K noch nicht einmal eine Nebenrolle gespielt hat, sieht eine – wenn auch kleine – Tür, durch die sie treten könnte. Die Economic Times befasste sich mit der Politik der BJP in Kashmir:

„Die BJP hat heute ein ‚Visionsdokument‘ für Jammu und Kashmir vorgestellt, das aufzeigt, wie eine holistische Entwicklung eine friedliche und progressive Region schafft. Eine der vorgeschlagenen Initiativen sieht die ‚gerechte und ehrenhafte‘ Umsiedlung der Kashmiri Pandits vor. ‚Unsere Vision ist es, den Staat Jammu und Kashmir durch eine ganzheitliche und integrierte Entwicklung aller drei Regionen, einschließlich Jammu, Kashmir und Ladakh, zu einem friedlichen und progressiven Staat der indischen Union zu machen“, sagte Avinash Rai Khanna, BJP-Abgeordneter  heute im Rahmen einer Pressekonferenz zur Veröffentlichung des Visionsdokuments. Die Partei hat versprochen, die ‚gerechte und ehrenhafte‘ Umsiedlung der Kashmiri Pandit im Kashmir-Tal sicher und unter Wahrung der Würde der Menschen einzuleiten.“[4]

Indiens Säkularismus

Bei etwa 1,2 Milliarden Einwohnern, von denen rund 20 Prozent Minderheiten angehören, ist es eine der schwierigsten Aufgaben der Regierung sicherzustellen, dass die Interessen der verschiedenen Minderheiten berücksichtigt werden. Die Autoren der indischen Verfassung haben die Probleme vorausgesehen, die sich aus dieser Gemengelage ergeben würden, und Indien zu einem säkularen Staat gemacht und den Minderheiten verschiedene Rechte verliehen. Die Herausforderung, die die BJP jetzt meistern muss, besteht darin, die eigene rechte Ideologie, die hindutva fordert (laut Encyclopedia Britannica die Definition der indischen Kultur nach hinduistischen Werten) mit den Bedürfnissen der Minoritäten so in Einklang zu bringen, dass das Sozialgefüge und der gesellschaftliche Zusammenhalt des Landes nicht zerstört werden. Einige der BJP nahe stehenden Organisationen, zum Beispiel RSS und VHP, vertreten jedoch eine radikalere Position und in den Medien ist bereits von „Zwangskonvertierungen“ zu lesen. So sollen kürzlich 200 Menschen in Uttar Pradesh von der RSS (eine politische Organisation, die hindutva fordert) zum Hinduismus zwangskonvertiert worden sein. Nachdem dies bekannt wurde, hat Venkiah Naidu (Bundesminister für parlamentarische Angelegenheiten) ein Anti-Konvertierungsgesetz im Parlament vorgelegt. Führende Sozialwissenschaftler gaben jedoch zu bedenken, dass ein solches Gesetz wahrscheinlich nur bedingt wirkungsvoll sei und hohes Missbrauchspotenzial habe. Dazu schreibt das Free Press Journal:

„Anti-Konvertierungsgesetze sollten gründlich diskutiert und nicht im Schnellverfahren verabschiedet werden, nur um politisches Bonuspunkte zu sammeln oder politisches Kapital aus den jüngsten Ereignissen im Land zu schlagen. Es muss auch sichergestellt werden, dass keine religiöse Gemeinschaft durch ein solches Gesetz benachteiligt wird, da es dazu führen kann, dass eine Religion Anhänger verliert, wo doch gerade die Absicht dieses Gesetzes ist, die Anzahl der Anhänger jeder Religion nicht zu verändern. Es könnte auch zu Spannungen unter anderen Gemeinschaften führen und der Gemeinschaft, der aus dem Gesetz ein Vorteil erwächst, ein negatives Image verleihen.“[5]

Wachstum, Entwicklung und die indische Wirtschaft

In der zweiten Amtszeit der Vorgängerregierung ist die indische Wirtschaft geschrumpft, die Konjunktur hat einen Abschwung erlebt. Das war einer der wesentlichen Gründe für die Niederlage der Congress-Partei und den Sieg der BJP. Daher muss die BJP-Regierung nun die Stabilisierung der Wirtschaft des Landes erreichen. Durch seine Politik und seine hervorragende Verwaltung konnte Narendra Modi die Wirtschaft von Gujarat enorm stärken, und auf diese Erfolgsgeschichte verwies der Wahlkampf-Slogan der BJP: better days are coming. Bereits jetzt wird über Modis Leistung geurteilt, auch wenn man zugeben muss, dass das Projekt noch nicht abgeschlossen ist. Live Mint kritisierte Modis Politik:

„Zwei Dinge hat man Modi in den vergangenen Monaten vorgeworfen und beide verdienen eine genauere Betrachtung. Erstens: Einige von Modis Unterstützern beklagen, die Verwaltungsentscheidungen seien nicht die radikalen Strukturreformen, die Indien benötigt, um die Voraussetzungen für erneutes hohes Wirtschaftswachstum zu  schaffen. Modis Kritiker dagegen sagen, die Entscheidungen seien lediglich Erweiterungen des Verwaltungsprogramms der Vorgängerregierung und weit entfernt von den großspurigen Ankündigungen, die Modi gemacht habe, um Wählerstimmen zu gewinnen. In einem interessanten Rollentausch forderte der ehemalige Finanzminister P. Chidambaram bei einer Veranstaltung letzte Woche mutige Reformen, während der aktuelle Finanzminister Arun Jaitley meinte, Reformen seien die Kunst des Möglichen.”[6]

Bis jetzt war die Regierung was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft nur teilweise erfolgreich und es gibt noch eine lange Liste von Problemen, die die Regierung anpacken muss. Die Ausarbeitung und Umsetzung einer wirtschaftspolitischen Strategie sind zweifellos äußerst wichtige Projekte, doch der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Entwicklung der Minderheiten sind ebenso wichtig. Nur so können wir eine allseitige Entwicklung der Nation als Ganzes gewährleisten.

 

[1] The Hindu, „Voters Defy Poll Boycott in the Valley”, 5. Dezember 2014

[2] NDTV, „Jammu and Kashmir Has Record Voter Turnout: 10 Developments”, 25. November 2014

[3] The Economist, „Modi’s Northern Light“, 13. Dezember 2014

[4] The Economic Times, „BJP releases ‘vision document’ for peaceful, developed Jammu and Kashmir”, 27. November 2014

[5] Abhishek Vissapragada, „Anti-Conversion Laws: Helpful or Detrimental?”, 12. Dezember 2014, Free Press Journal

[6] Niranjan Rajadhyaksha, „All Eyes on Economic Reforms Agenda of Narendra Modi Government”, 11. November 2014, Live Mint