Wie Wladimir Putin aus den Fehlern seiner Vorgänger lernt

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Putin ist für sein Interesse an der Geschichte Russlands bekannt. Hier redet er kurz nach der Enthüllung einer Puschkin-Statue in Südkorea

Der russische Präsident hat die Idee, es besser als Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow und Gorbatschow zu machen. Doch was heißt das eigentlich?

Präsident Wladimir Putin ist für sein Interesse an der Geschichte Russlands bekannt. Wie viele andere in Russland auch, versteht er, dass unsere Geschichte, insbesondere deren letzte hundert Jahre, voller Fehler und Verbrechen ist. Doch beunruhigen ihn nicht jene Verbrechen, die aus Sicht der Gesellschaft wichtig sind, sondern diejenigen, die beim „Blick aus dem Kreml“ wesentlich sind.

„Die größten Verbrecher in unserer Geschichte waren jene Schwächlinge, die die Macht haben fahren lassen: Zar Nikolaus II. und Michail Gorbatschow, der es zugelassen hat, dass anschließend Hysteriker und Irrsinnige die Macht ergriffen“, gibt der britische Journalist Ben Judah im Nachrichtenmagazin Newsweek ein Gespräch mit Putin aus dem Frühjahr 2012 wieder, von dem ihm jemand aus der näheren Umgebung Putins berichtet hat. „Jene Höflinge des Zaren, die bei diesem Gespräch zugegen waren, behaupten, der Präsident habe versprochen, das niemals zu tun“.

Weder Nikolaus II. noch Gorbatschow zu sein, ist durchaus ein Programm. Es beinhaltet beispielsweise, die Fehler dieser beiden Führer nicht zu wiederholen, die versucht hatten, den Zugang zu hochprozentigem Alkohol zu beschränken. Im Februar dieses Jahres wurde der Mindestpreis für Wodka herabgesetzt. Beim Blick von unten, aus Sicht der Gesellschaft, ist die Verfügbarkeit von Wodka eine Frage der Gesundheit. Beim Blick von oben ist es ein Instrument und eine Frage der Kontrolle.

Die Vergangenheit kann in unterschiedliche Richtungen neu bewertet werden. Der Kreml betreibt diese Umdeutung allerdings in einer Richtung, die jener genau entgegengesetzt ist, wie sie beispielsweise in Deutschland oder Polen verfolgt wird. Das neue Profil des Museums „Perm-36“ ist ein Symbol für diesen Ansatz.

Es wäre merkwürdig, einen Politikansatz, der auf einem wachsamen Verhältnis zu den Lehren der Geschichte gründet, auf nur zwei Führer der Vergangenheit beschränken. Selbst Stalin hat Fehler gemacht. Beim „Direkten Draht“ [einem alljährlichen Livegespräch mit dem Fernsehvolk; d. Red.] sprach Putin 2009 davon, dass die Stalinzeit „nicht als Ganzes bewertet werden sollte“: Es habe einerseits die Industrialisierung gegeben und andererseits massenhafte Gesetzesbrüche. Die Korrektur des Fehlers aus der Vergangenheit bestünde hier darin, dass man ohne Massenmorde auskäme, indem man nicht viele Opfer schafft, sondern sich auf nur einzelne beschränkt. Diese Logik schließt nicht aus, sie legt vielmehr nahe, dass Feinde „punktuell“ beseitigt werden; daran zu denken kommt man nach der Ermordung Boris Nemzows nicht umhin.

Keine Helden, keine Exzesse

Beim Umgang mit der Opposition und mit Dissidenten ist ebenfalls das Bestreben zu spüren, Lehren aus den Exzessen der Vergangenheit zu ziehen: Die Regierung ist bemüht keine Helden zu erzeugen und Menschen nicht für Politik zu bestrafen, sondern für unterschiedliche gewöhnliche Verbrechen, beispielsweise Diebstahl oder Betrug.

Auch in der Haltung zur Intelligenzija gibt es Veränderungen. Denen, die das wünschen, die Möglichkeit zu geben, alles zu lesen und sagen, was sie wollen, ist durchaus vernünftig – natürlich innerhalb streng abgesteckter Grenzen. Noch wichtiger ist es, jenen, die mit der politischen und wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind, die Möglichkeit zum Reisen und Auswandern zu geben, denn das verringert den Druck im System. Stalin hatte Bedenken, den Nationalismus voll auf die Tagesordnung zu setzen; auch an diesem Fehler wird gearbeitet.

Ein weiterer Fehler ist der Kampf gegen die Religion gewesen. Die Kirchenpolitik der vergangenen 15 Jahre ist der Versuch, hieraus die Lehren zu ziehen: Beim Blick aus dem Kreml ist klar, was für ein wirksames Instrument eine regierungsnahe und patriotisch gesonnene Kirche ist. Die Religion zurückzubringen, ist ein durchaus vernünftiger Schritt, wenn man aus dem Kreml schaut. Natürlich soll das unter der Obhut des Staates erfolgen, ein Schritt, den ja auch Stalin 1943 unternommen hat; die heutige Politik setzt das im Grunde fort.

Erkennbar ist auch, dass an den Fehlern von Chruschtschow gearbeitet wird. Die Krim, die der Ukraine genommen wurde, ist nicht der einzige Schritt in diese Richtung. Unter Chruschtschow hat die UdSSR mehrfach die heftige Konfrontation mit dem Westen gesucht, eine Konfrontation, die beide Seiten dazu brachte, den Finger auf den Atomknopf zu legen (Berlinkrise und Kubakrise). Die Lehre, die Putin hier gezogen hat, besteht wohl darin, keine Schritte zu unternehmen, die dann zurückgenommen werden müssen, wie beispielsweise beim Abzug der Raketen aus Kuba. Dieser Logik zufolge ist ein Rückzug aus der Ukraine unmöglich.

In der Außenpolitik kann insgesamt von einer Korrektur der Ansätze vergangener Führer gesprochen werden. Zumindest ist hier ein Verzicht auf die für die Vorgänger unausweichlichen ideologischen Beschränkungen bei der Unterstützung subversiver Kräfte in anderen Ländern festzustellen. Für das heutige Moskau ist jedermann wertvoll, der mit den westlichen Institutionen und dem westlichen Mainstream unzufrieden ist: radikale Linke und radikale Rechte wie auch separatistisch eingestellte Parteien und Organisationen. Wozu versuchen, der Welt irgendeine Idee zu verkaufen, wenn man bei seinem Vorgehen andere Ideologien und Wahrheiten untergraben kann?

Alles ist relativ

Es gibt keine Objektivität, keine Wahrheit, alles ist relativ, es gibt lediglich Interpretationen und Infotainment – so lassen sich die Erklärungen der Profis bei den staatlichen Medien Russlands zusammenfassen. Bei den auf die Außenwelt ausgerichteten Medien ist folgende wesentliche Korrektur zu erkennen: Es wird nicht erzählt, wie gut Russland aussieht. Im Fokus steht, wie schlecht der Westen aussieht; das ist sehr viel leichter und effektiver.

Man könnte sagen, das Manko der sowjetischen Modernisierung bestand darin, dass der Staat die persönlichen Rechte auf Autonomie, Freiheit und Eigentum prinzipiell verweigerte. Eine Bewegung in Richtung Anerkennung dieser Rechte wäre jedoch ein „westlicher“ Weg. Im heutigen Russland haben wir es mit der Verweigerung von Wettbewerb nach westlichen Regeln zu tun, mit der Schaffung eines Kapitalismus mobilisierter Eigentümer, mit Mobilisierung in der Wirtschaft und in der Sozialpolitik insgesamt, mit einer Verweigerung von Rechtsstaatlichkeit und der völligen Ablehnung autonomer Institutionen.

Letztendlich werden nur die Ergebnisse des sowjetischen Experiments verfestigt, und es wird lediglich der Versuch unternommen, sie dem Verstand näher zu bringen. Somit steht vor uns die Idee, „besser“ zu sein, besser als Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Gorbatschow.

Das widerspricht übrigens keineswegs dem Umstand, dass der Kreml über keinen vollwertigen langfristigen und positiven Entwicklungsplan verfügt. Eigentlich ist der Verzicht auf einen solchen Plan (in Form einer allgemeinen Ideologie) ebenfalls ein Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit. Ein virtueller „Plan“ verwirklicht sich einfach selbst; er verwirklicht sich als eine Reihe von Versuchen, bei den Mitteln klüger zu sein, bei den Details, bei der Spielführung. Politische „schwarze Magie“ erwächst aus der Vertiefung in die russische Geschichte und deren Rezeption „mit den Augen des Zaren“, aus einem fehlenden Verständnis für die Welt und einer Angst vor ihr. Das ist ein Weg in den finsteren Keller der Geschichte.

Dieser Artikel erschien zuerst am  06. 03. 2015 in Wedomosti № 3785.  Übersetzung: Hartmut Schröder