Die Geschichte vom finnischen Filmemacher, der seinen neuen Film in Russland drehte

Arriving with a train from Russia in Helsinki

Wir alle wissen, dass unser Denken von heute unser Leben von morgen bestimmt. Aber auch das Gegenteil trifft zu! Die Vorstellung, die wir von unserer Zukunft haben, hat Einfluss darauf, was wir heute tun.

Im Jahr 2007 drehte ein britisch-finnischer Filmemacher mit dem Namen eines englischen Dichters, John Webster, einen ironischen Dokumentarfilm über das Experiment, seine ganze Familie auf eine Öl-Diät zu setzen („Recipes for Disaster“/auf Deutsch 2009 unter dem Titel „Kein Öl mehr – Übung für den Ernstfall“ erschienen). Es war das erste Filmexperiment dieser Art und wurde später mit verschiedenen Familien in mehreren Ländern vor laufender Kamera wiederholt. Der Film war in ganz Finnland zu sehen. Die arme Frau des enthusiastischen Regisseurs wurde fast zu einer Nationalheldin, und die Idee, diesen Film in Moskau zu zeigen, legte den Grundstein für das jährlich stattfindende Green Documentary Film Festival.

Die Geschichte der finnischen Familie war aber mit dem Abspann des Films noch längst nicht beendet. Fast unmittelbar, nachdem der erste Film im Kasten war, begann Webster schon an Ideen für weitere Filme zu feilen – dieses Mal ohne hausgemachte Zahnpaste und selbsterzeugte Elektrizität. Statt die Emissionen und Müllmengen seiner jetzigen Familie zu errechnen, bewegte er sich in eine hypothetische Zukunft. Damit widmet er den neuen Film seiner Ur-Ur-Enkeltochter.

Wie stellt man sich die Zukunft vor? Wie wird die Welt unsere Kinder aussehen? Und die Welt unserer Enkelkinder? Und die unserer Urenkel? Rechnet man alle möglichen Daten hoch – vom Anstieg des Meeresspiegels und der Übersäuerung der Ozeane, über Temperaturen, Luftverschmutzung, das Schmelzen der Eiskappen, die zunehmende Öl- und Gasförderung bis hin zum Bevölkerungswachstum und der Zahl der produzierten Autos – und verfolgt man zudem noch die Nachrichten, kann man eigentlich keine optimistischen Bilder im Kopf haben.

Gleichzeitig ist sich Webster bewusst, dass wir nicht mit dem Finger schnipsen und sofort unsere industrielle und post-industrielle Welt verändern können. Man kann nicht von einem Moment zum anderen Fabriken schließen, die Kohle-, Öl- und Gasförderung sauberer und ungefährlicher machen und die Urbanisierung mit ihren Autos, Fernsehgeräten und Klimaanlagen verlangsamen. Das ist eine ziemlich traurige und unerfreuliche Situation für jeden verantwortungsbewussten und aktiven Umweltschützer. Man kennt alle Gefahren, kann aber kaum etwas dagegen tun. Genau deshalb hat Webster sein Langzeitprojekt einer filmischen Rechtfertigung für seine eigene Ur-Ur-Enkelin auf den Weg gebracht.

Kohle-„Berg“ in Helsinki

Die Idee, in Russland zu filmen, kam ihm bei dem riesigen „Berg“ Kohle mitten im Stadtzentrum von Helsinki. Trotz zahlreicher großartiger grüner Aspekte seiner Umwelt nutzt Helsinki zur Wärmeerzeugung immer noch russische Kohle aus dem Kuzbass und wird dies auch bis 2050 weiterhin tun (zu dem Zeitpunkt will die Stadt dann vollständig auf alternative Energieträger umstellen). Aber jetzt kommt die Steinkohle noch per Zug aus Russland und liegt unter freiem Himmel für jedermann sichtbar mitten in der Stadt. Bisher hat das noch niemand angeprangert – niemand außer Webster.

„Ich möchte der Reise der Kohle vom Kuzbass nach Helsinki folgen“, sagt Webster, als er mir begeistert seinen komplizierten Plan zu erklären versucht. „Wir werden in Betrieb befindliche Zechen filmen und mit Bergarbeitern, Sprengmeistern, dem Bürgermeister von Nowokusnezk und anderen reden. Und wir werden mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren! Unterwegs werden wir vier Tage lang mit unseren Mitreisenden über die Zukunft sprechen!“

Ich kam nicht umhin, mich diesem Projekt anzuschließen, obwohl ich es von Anfang an etwas fragwürdig fand und leise Zweifel hegte, als wir damit begannen, uns um unser Fahrkarten dritter Klasse zu kümmern.

„Was genau willst du die Leute über die Zukunft fragen?“, wollte ich wissen.

„Na, du weißt schon: Was sie über die Erderwärmung und den Klimawandel denken, ob sie sich den zukünftigen Generationen gegenüber verantwortlich fühlen, was sie tun, um eine ökologische Katastrophe abzuwenden“, lautete Johns zuversichtliche Antwort.

Dann erinnerte ich mich plötzlich an eine Bewerbung bei irgendeinem Umweltforum. Bei einer der Auswahlfragen musste ich detailliert beschreiben, welche Umweltprobleme sich in meinem Land am stärksten bemerkbar machen würden. Ich hatte keine Ahnung und begann, meine Freunde vom WWF und Greenpeace anzurufen. Am Ende antwortete ich: „Keine.“

Deshalb konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie wir Leute dazu kriegen würden, Fragen über den globalen Klimawandel zu beantworten. Wir beschlossen also, den Leuten nicht so direkte Fragen zu stellen, sondern zunächst allgemeiner zu reden – über ihre Großeltern, über die Welt, in der sie lebten, über ihre Vorstellungen von der Zukunft (Achtung: hier versuchten wir die Frage so zu formulieren, dass wir nicht schon eine mögliche Antwort miterwähnten) und über die möglichen Probleme, vor denen unsere Kinder einst stehen könnten.

John wischte meine Bedenken vom Tisch und lud die fast 100 Kilo schwere Ausrüstung in den Zug von Moskau nach Irkutsk. Zwischen all den Taschen war eine besonders wichtige: die mit Wodka und Schokolode aus Finnland. Zu unserem Team gehörten auch eine berühmte Kamerafrau, eine mit allen möglichen Mikrofonteilen ausgestattete Tonmeisterin und ein Produktionsleiter. Irgendwie waren wir die bunten Hunde in diesem Zug.

Lasst uns in Frieden leben

Ich nehme es gleich vorweg: Während dieses dreiwöchigen Aufenthalts in Sibirien äußerte absolut niemand Webster gegenüber irgendwelche Sorgen über den Klimawandel. „Ich glaube das einfach nicht“, grinste John über sich selbst. „Ich bin hergekommen, um einen Film über die Erderwärmung und den Klimawandel zu drehen, aber niemand nimmt diese Wörter auch nur in den Mund!“

Das erschwerte natürlich ungemein ein Gespräch über die Zukunft. Die Leute hatten Spaß daran, sich an ihre Vorfahren zu erinnern, aber wenn die Sprache auf die nächste Generation kam, verschwand alles außer den schon vorhandenen Kindern in einem mystischen Nebel. Ganz zu schweigen davon, wie schockierend es für einen Skandinavier mit hoher Lebenserwartung war, von einer ganzen Männerrunde, die alle knapp über 50 Jahre alt waren, zu hören, dass sie sich schon fast an ihrem Lebensende wähnten und dass sie nun gar nicht mehr über die Zukunft nachzudenken bräuchten.

Michail, der angefangen hatte, Pfirsichbäume in seinem Garten zu pflanzen, als er in Rente ging, wartete mit einer überraschenden Erklärung auf: „Warum ich Pfirsichbäume pflanze? Na ja, weil ich sie eben mag. Ich wollte schon immer Pfirsichbäume haben. Was? Für meine Enkel? Nein, was sollen die denn mit meinen Pfirsichbäumen? Die sind nur für mich.”

Ohne (ökologische) Suggestivfragen nannten unsere Mitreisenden mehrheitlich nur eine Sorge in Bezug auf ihre Zukunft: Krieg. Sie alle zitierten diese Zeile aus einem alten russischen Lied: „Lass uns in Frieden leben, schick uns keinen Krieg.“

Alles andere werden wir überleben; denn alles andere ist halb so schlimm. Wasser und Wälder? Wir haben jede Menge Wasser und jede Menge Wälder! Warum sollten wir uns darüber Sorgen machen? Wir werden immer Taiga haben, wir werden immer Kohle haben und auch das Wasser wird uns nie ausgehen. Wenn die Luft ein bisschen schmutziger wird, installieren wir eben Luftreiniger in unseren Wohnungen.

Und als unglaubliches Kontrastprogramm rauschten ständig bis zum Rand mit Kohle, Holz und Öl gefüllte Züge in Gegenrichtung an uns vorbei – Tag und Nacht. Ich hatte keine Ahnung, wie viele dieser Züge durch Sibirien fahren. Kurz danach sollte uns der Bürgermeister von Nowokusnezk erzählen, dass allein in seiner Region 10.000 Waggons pro Tag beladen werden. Pro Tag!

(Übrigens zählte uns der Bürgermeister alle möglichen Vorteile und Aspekte der großartigen Zukunft der dortigen Kohle-Industrie auf. John stellte ihm plötzlich die Frage: „Können Sie sich vorstellen, dass es auch anders kommen könnte? Wenn beispielsweise Finnland oder auch einige andere europäische Länder bald keine Kohle mehr kaufen – dann gibt es keine Nachfrage mehr.“ Ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, blickte ihm der Bürgermeister in die Augen und entgegnete absolut zuversichtlich: „Das wird nicht passieren. Hier wird sich noch laaaange Zeit nichts ändern.“)

In der kleinen Bergbaustadt Osinniki in der Nähe von Nowokusnezk sprachen wir mit jungen Männern, deren Eltern und Großeltern schon in der Zeche gearbeitet hatten und deren Kinder das vermutlich auch tun würden, wie die Männer hofften. Und jedes Mal, wenn John darüber sprach, dass er sich verantwortlich dafür fühle, dass seine Ur-Ur-Enkeln glücklich auf einem sauberen und schönen Planeten Erde würde leben können, grinsten sie und schlugen ihm auf die Schulter: „Keine Sorge, Chef, alles wird gut. Wir schaffen das schon. Du musst nicht alles alleine machen.“

Kritischer Moment?

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Umweltbewegung waren diese Worte zu vernehmen: „Jetzt ist der kritische Moment.“ Das heißt, dass wir genau jetzt den Gang der Dinge ändern und die Menge der Substanzen reduzieren müssen, die wir in die Atmosphäre abgeben. Genau jetzt. Sonst ist es zu spät. Sonst wären die Konsequenzen unabsehbar.

Obwohl dem Klimawandel von den Politikern nie diese „Dringlichkeit“ bescheinigt wird, fließt immer mehr Geld in (größen- und risikomäßig) unglaubliche geotechnische Projekte, wie beispielsweise den Plan, eine Barriere aus künstlichen Wolken zwischen der Erde und der Sonne zu schaffen. Noch beliebter sind Pläne, den Planeten Erde tatsächlich zu verlassen. Aber spiegelt sich darin nicht dieselbe panische Stimmung wider, die bei Ökologen schon seit Jahren zu spüren ist?

Die Frage ist, wie vielen Menschen nicht nur bewusst ist, dass wir sofort handeln müssten, sondern wie viele erkennen auch, was mit dem Land, der Luft und dem Wasser um uns herum passiert. Was sollen wir von dieser Reise nach Sibirien und den Menschen halten, denen wir dort begegneten? Was ist das? Ignoranz? Optimismus? Fatalismus? Gleichgültigkeit? Und wer würde je nach Auswegen suchen, wenn diese gefühlsmäßigen „Hochs“ und „Tiefs“ das Verhalten unserer Gesellschaften bestimmen?

Anastasia Laukkanen leitet das International Green Documentary Film Festival ECOCUP. Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zum Klimagipfel COP 21 in Paris.