„Die Länder haben Spielräume – aber sie müssen sie auch nutzen“

Hannes Schammann ist Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim
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Hannes Schammann ist Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim und Mitglied der Kommission "Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik" der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Bundesländer spielen in der Flüchtlingspolitik eine häufig unterschätzte Rolle. Über Chancen und Grenzen des Föderalismus sprach Günter Piening mit dem Migrationsforscher Hannes Schammann.

Günter Piening: Der Bund ist für die Migrationspolitik zuständig, die Kommunen für die praktische Integration. Wo ist im deutschen Föderalismus der Platz der Bundesländer?

Hannes Schammann: Vieles, was die Kommunen tun, haben die Länder delegiert. Die Länder können in einigen Bereichen sehr genau vorschreiben, wie welche Aufgaben auszuführen sind. Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) etwa ist ein Bundesgesetz, das durch die Länder umgesetzt werden muss. Hier nutzen sie ihre Spielräume unterschiedlich. Schleswig-Holstein hat durch Erlasse festgelegt, dass es in einer existenzsichernden, wohlfahrtsstaatlichen Art umgesetzt werden soll, während Bayern einen großen Teil der Flüchtlingsunterbringung selbst übernimmt und den Vorrang von Sachleistungen durchsetzt. Gerade in solchen primär integrationspolitischen Handlungsfeldern im Flüchtlingsbereich gibt es große Spielräume. 

Aber auch in der eigentlichen Migrationspolitik und im Aufenthaltsrecht haben die Länder Kompetenzen. Das Land kann – sozusagen am Bund vorbei - über die Härtefallkommission humanitäre Aufenthaltstitel vergeben oder – in Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern (BMI) - ganzen Gruppen eine Bleibeperspektive verschaffen. Große Spielräume haben die lokalen Behörden, wenn es darum geht, Abschiebungshindernisse zu bewerten und Duldungen auszusprechen. Im Zusammenspiel zwischen Ländern und Kommunen gibt es viele Entscheidungen, die migrationspolitisch wirken.

Lassen sich in den Länderpolitiken parteipolitische Handschriften erkennen? Oder entwickeln sich Positionen quer zu den klassischen Lagern?

Es gibt starke Unterschiede – etwa zwischen der erwähnten wohlfahrtsstaatlich-liberalen Prägung der Flüchtlingspolitik in Schleswig-Holstein und der eher ordnungsrechtlich-restriktiven Prägung der Flüchtlingspolitik in Bayern. Das sind Prägungen, die über Jahre oder Jahrzehnte gewachsen sind, und die sich dann auch in Parteipositionen wiederfinden. Ob sich dieses durch einen Regierungswechsel schnell ändert, wage ich zu bezweifeln, zumal die Konfliktlinien auch in den Parteien verlaufen, wie wir an den Diskussionen in der CDU/CSU, aber auch bei den Grünen sehen.

Das Beharrungsvermögen gewachsener Strukturen erleben wir derzeit z.B. in Niedersachsen, wo auf der Landesebene ein Politikwechsel proklamiert wurde, aber auf der lokalen Ebene vielfach keine Änderungen nötig erfolgten oder der neue Kurs längst eingeschlagen war. In Bayern stößt die proklamierte repressive Landespolitik auf lokale Akteurskonstellationen, die innovative Lösungen entwickeln – z.B. beim Schulbesuch von jugendlichen Flüchtlingen oder bei innovativen Unterbringungsformen, wie dem Grandhotel Cosmopolis in Augsburg. Wir sehen hier seitens des Landes ein lautstarkes Bekenntnis zu einer repressiven Politik – und gleichzeitig sehr pragmatische und „integrationswillige“ Politik vor Ort. 

Auch wenn wir keine hinreichende Forschung dazu haben, würde ich die Hypothese wagen, dass die gewachsenen Strukturen für die Prägung der Flüchtlingspolitik eines Bundeslandes oder einer Kommune zumindest genau so bedeutsam sind wie die parteipolitische Konstellation.

Die Länder haben in der Vergangenheit Spielräume genutzt und unterschiedliche Politiken entwickelt. Stehen wir jetzt vor einer Situation, in der durch die Gesetzesnovellierungen im Aufenthalts- und Leistungsrecht der Bund diese kleinen Fortschritte einkassiert und die Standards nach unten vereinheitlicht?

Von einer Vereinheitlichung kann noch keine Rede sein. Auch die Novelle des AsylbLG beispielsweise spricht von Priorisierungen, nicht von klaren Festlegungen. Gerade das Ziel dieses Gesetzes bleibt weiterhin unklar: Ist es ein Migrationssteuerungsgesetz oder ist es ein Existenzsicherungsgesetz? All das schafft Spielräume für weitergehende Diskussionen, wie sich ein Land die Flüchtlingspolitik vorstellt.

Könnte man daraus Kernthesen für eine gute Länderpraxis ableiten?

Erstens: Wichtig ist, dass sich die Länder ihrer Spielräume bewusst sind und sich nicht hinter dem Argument verstecken, sie hätten keine.
Zweitens: Man muss eine gesellschaftliche Diskussion darüber führen, welches inhaltliche Ziel mit der eigenen Flüchtlingspolitik verbunden ist. Sieht man sie eher als Integrationspolitik und ermöglicht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; oder sieht man sich in einer migrationssteuernden Funktion und versucht, „den Hahn zu zu drehen“.

Aber wo finden diese Grundsatzdiskussionen statt? Alle Länder sind im Krisenmodus, und unterschiedliche politische Perspektiven sind kaum noch zu erkennen…

Es gibt diese Unterschiede noch, aber es sind Ergebnisse von Diskussionen, die in der Vergangenheit geführt wurden. Momentan haben wir in der Tat keine neuen politischen Grundsatzdebatten, es regiert der Notstand. Deshalb geht es in den Bund-Länder-Auseinandersetzungen auch meist nur um Finanzen, um Finanzen und noch mal um Finanzen. Es geht nicht darum, wie wir halbwegs gleichartige Lebensverhältnisse für Flüchtlinge im Bundesgebiet schaffen, ob und wie wir von guter Praxis lernen können. Die gibt es ja durchaus – z.B. die Berufsschulpflicht in Bayern oder die Gesundheitskarte in einigen Bundesländern.

Der Wettbewerb um gute Lösungen, dieses Ideal des deutschen Föderalismus, ist zu einem Wettbewerb nach unten, zur Absenkungen von Standards, geworden.

Der föderale Wettbewerb funktioniert in der Flüchtlingspolitik nur sehr eingeschränkt. Wettbewerb braucht Sanktionsmechanismen. Aber wer sanktioniert eigentlich? Die Flüchtlinge selbst können es nicht - sie werden verteilt. Freizügigkeit wäre die Voraussetzung, damit der föderale Wettbewerb positive harmonisierende Wirkung zeigt.

Dafür müsste die Verteilung nach dem Königssteiner Schlüssel aufgegeben werden.

Ja. Neben Freizügigkeit bräuchte es lokale Entscheidungsspielräume – z.B. für einen schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt. Länder und Kommunen müssten Aufenthaltstitel vergeben können, damit es attraktiv für sie wäre, die Menschen anzulocken, ihnen eine Perspektive zu geben. Dennoch: Ob ein solcher Wettbewerb funktionieren und ausschließlich positive Effekte haben würde, ist durchaus zweifelhaft.

Für eine Arbeitsmarktintegration von Asylsuchenden gibt es heute, im Unterschied zu den 90ern, durchaus verbesserte Möglichkeiten.

Es ist in der Tat interessant zu beobachten, wie über die letzten Jahre in ein humanitäres Verfahren nutzenorientierte Selektionskriterien eingebracht werden und die Potenziale der Flüchtlinge in der öffentlichen Debatte herausgehoben werden. Diese Diskursverschränkung von Asyl und Arbeitsmigration ist durch die Übernahme der Leitung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durch den Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit organisatorisch manifest geworden.

Die Nicht-Bleibeberechtigten haben nichts davon, ihnen weht der Wind umso härter ins Gesicht...

Selbst die Nicht-Bleibeberechtigten profitieren manchmal von der neuen Durchlässigkeit zwischen Arbeitsmarkt und Asyl. In Niedersachsen gibt es beispielsweise einen Erlass, dass nicht-bleibeberechtigte Jugendliche während ihrer Ausbildung nicht abgeschoben werden dürfen. Auf der individuellen Ebene kann die Diskursverschränkung also positiv sein. Auf der Metaebene könnte es jedoch problematisch werden, wenn wir das humanitäre Argument verlernen und nur noch über Nutzen reden. Das ist eine Entwicklung, die das Asylrecht mehr aushöhlt als es eine Abschaffung des Artikels 16a Grundgesetz tun würde.

Viele sehen in dieser Entwicklung einen Indikator dafür, dass das alte klassische, auf Individualprüfung basierende Flüchtlingsrecht nicht mehr zu halten ist?

Wir hatten immer Mixed-Migration. Das Flüchtlingsrecht war und ist auch ein Ventil, wenn die anderen Migrationssysteme nicht mehr funktionieren. Wir haben eine Krise des Migrationssystems, nicht des Flüchtlingsrechts. Es ist doch absurd: Menschen machen sich illegal auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer, obwohl sie über die inzwischen auch in Deutschland äußerst liberalen Fachkräfteregeln legal einwandern könnten. Aber sie bekommen keinen Termin bei der Botschaft, um ein Visum zu beantragen! Wenn wir es schaffen, die Instrumente des Migrationssystems funktionstüchtig zu bekommen, müssen wir auch nichts am Flüchtlingsrecht ändern.

Da böte doch gerade der Kontrollverlust staatlicher Steuerung, den wir im Moment erleben, eine gute Chance für eine grundsätzliche Neuaufstellung. Wenn in einer von gewaltigen Unterschieden in den Lebenschancen geprägten globalisierten Welt die klassische Einwanderungs- und Aufnahmesteuerung nicht mehr zu halten ist - was wäre eine Alternative?

Großartige Frage. Grundsätzlich liegt in der Erkenntnis, dass man Migration nicht komplett kontrollieren kann, natürlich eine Chance. Doch die Erkenntnis ist nicht neu. IOM und die Grenzschutzagentur FRONTEX sprechen inzwischen vom Migrationsmanagement, man versucht, das nicht völlig Kontrollierbare „managable“ zu machen, etwa durch Kennzahlen, die als Frühwarnsystem dienen können. Aber das bleiben letztlich die alten Steuerungsphantasien, funktionieren tut's kaum.

Alle diese Versuche und Debatten verfangen sich letztlich in dem, was der amerikanische Migrationsforscher James F. Hollifield bereits in den Neunzigern das „liberale Paradoxon“ der Migrationspolitik nannte: Auf der einen Seite müssen liberale Demokratien für eine Öffnung von Grenzen sein. Sie sind in einer globalisierten Welt auf Migration angewiesen und sie haben in ihren Verfassungen einen eingewebten Liberalismus. Der grundgesetzlich verbriefte Schutz der Familie etwa impliziert Familiennachzug. Gleichzeitig funktioniert liberale Demokratie aber nur, wenn wir geschlossene Gesellschaften haben. Nur so sind bislang liberale Rechtsgrundsätze, sind soziale Sicherungssysteme auf Dauer haltbar.

Wenn wir also gleichzeitig für und gegen die Öffnung der Grenzen sind, zeigt das nur, dass wir Kinder liberaler Demokratien sind. Im Grunde geht es in den meisten Überlegungen zu einer Neuordnung der Migrationspolitik darum, das Leben im liberalen Paradoxon einigermaßen erträglich zu gestalten.

Man könnte aber auch radikaler denken. Was würde passieren, wenn die Grenzen fallen würden? Wenn die Regularien der europäischen Freizügigkeit, die in Europa ganz gut funktionieren, weltweit gedacht würden? Welche globalen Regeln bräuchte es und wie würden sich die weltweit durchsetzen lassen? Vielleicht ist es an der Zeit, Utopien realistisch zu diskutieren.

Zur Person
Hannes Schammann ist Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre in der migrations- und integrationspolitischen Praxis: als Projektleiter für Migration und Integration bei der Robert Bosch Stiftung, als Referent für Grundsatzfragen der Integration beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und als Koordinator für Integrationsprojekte bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Ev. Jugendsozialarbeit. Wissenschaftlich beschäftigt er sich aus vorwiegend institutionenzentrierter Perspektive mit Fragen der Migrations-, Integrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland.