Zehn Thesen zum Rechtspopulismus der Gegenwart

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
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"Deutschland ist von der Zielbestimmung des Grundgesetzes in Art. 20.1, ein Sozialstaat sein zu wollen, weiter entfernt denn je. Politiker/innen sollten also ganz vorsichtig sein, wenn sie über „die da unten“ reden"

Mit dem Rechtspopulismus wurden seine demokratischen Widersacher/innen lange Zeit relativ leicht fertig. Doch die alten Methoden greifen nicht mehr. Zehn Thesen zum besseren Verständnis der neuen Konfrontation.

1. Im Umgang mit der eigenen Geschichte hat die Bundesrepublik international einen sehr guten Ruf.

„Die Deutschen sind das einzige Volk“, hat Avi Primor vor 20 Jahren gesagt, „das Denkmäler zur Erinnerung an die eigenen Verbrechen aufgestellt hat.“ Nach einem politisch-moralisch schwierigen Neubeginn in der Adenauer-Zeit hat sich ein Konsens in der Kleinhaltung des Neonazismus durchgesetzt, der auf einer bewährten Mischung aus strafrechtlicher Bekämpfung, öffentlicher Ächtung, Erinnerungskultur, medialer Ausgrenzung, geschichtlicher Bildung und demokratischer Erziehung besteht.

Grundgesetz und Strafgesetzbuch enthalten dazu so viele Vorschriften wie in keinem anderen Land Europas. Dass wir damit die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Koalitionsfreiheit beschränken, nehmen wir billigend in Kauf. Das ist unser Konzept der „wehrhaften Demokratie“ als Vermächtnis des Untergangs der Weimarer Republik.

2. Der Rechtspopulismus lässt sich nicht mit denselben Methoden bekämpfen wie der Rechtsextremismus.

Es ist denkfaul, dem Rechtspopulismus zu unterstellen, er sei in seinem Wesenskern ein Rechtsextremismus; denn das macht uns hilflos in der Erkenntnis seiner Spezifika. „Klappe zu, Affe tot“ geht nicht. Wir haben eine Verantwortung für den inneren Frieden in der gesamten Gesellschaft und müssen daher eine Strategie verfolgen, die zur Rezivilisierung radikaler Milieus beiträgt - und nicht, durch Stigmatisierung („Das sind doch alles Nazis!“), zu einer weiteren Radikalisierung. Wenn man alle in einen Sack steckt und draufschlägt, ist das unzivilisiert und kontraproduktiv.

Selbst wenn die NPD verboten wird, ist das Problem des Rechtspopulismus keineswegs gelöst. Im Gegenteil: wenn ihre intelligenten Kader in das Pegida- und AfD-Milieu einsickern, wird der Rechtspopulismus nicht nur radikal angereichert, sondern bekommt auch strategische Verstärkung. Aus der Verständigung zwischen Neonazismus, Rechtspopulismus und Rechtskonservatismus könnte eine neue Formation entstehen.

Auf die AfD mit denselben Methoden zu reagieren wie auf die NPD, ist nicht besonders erfolgversprechend. Malu Dreyers Weigerung, sich der Fernsehdebatte mit der AfD zu stellen, konnte sehr leicht als Feigheit und Versuch wahrgenommen werden, die AfD-Argumente unterdrücken zu wollen. Dieses Verhalten der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz hat vermutlich der AfD weitere Wähler zugetrieben. Die „außerparlamentarische Opposition“ der sechziger Jahre ist an ganz ähnlichen Ausgrenzungsversuchen erstarkt, und wir Grünen haben sogar eigene Erfahrungen mit diesen Methoden aus unseren ersten Tagen in den bundesdeutschen Parlamenten; Erfahrungen, die uns damals nur angespornt haben.

An eine Partei wie die Grünen, die in diversen Landesregierungen sitzt und somit auch Teil der Exekutive ist, ist die Frage zu richten, ob sie die Repressionsstrategie, die einst so erfolgreich gegen die alten und die neuen Nazis war, auch gegen die AfD praktizieren möchte. Dann müsste sie erklären, wie sie unser „politisches“ Strafrecht soweit verschärfen will, dass AfD-Äußerungen damit verfolgt werden könnten. Das ist jedoch für diese liberale Partei einfach unvorstellbar.

Es bleibt also nur die zweite große Strategie, der Straßenkampf. Die Demonstrationszyklen, die wir derzeit erleben, haben schon einen Aufstellungscharakter angenommen. Der Volkszorn hüben und drüben muss durch Polizeikräfte in Schranken gehalten werden. Es ist die Frage, ob sich die Grünen die Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft ernstlich so vorstellen. Die Landtagswahlen dieser Monate tragen auf jeden Fall dazu bei, dass diejenigen, die sich bisher nur über den Polizeikordon hinweg angebrüllt haben, nun doch im Parlament miteinander reden. Daher ja auch der Name dieser Institution. Am Miteinander-Reden werden wir also sowieso nicht vorbeikommen.

3.Beispiel Frankreich: Ein politisch versierter Rechtspopulismus im Aufwind.

Die derzeit erfolgreichste Variante des Rechtspopulismus in Europa ist die des Front National in Frankreich. Marine le Pen hat ihren Vater, den Gründer und Auschwitzleugner, kaltgestellt und betreibt mit hochmoderner Politikberatung die „dédémonisation“ der Partei. Nicht wenige ehemalige linksliberale Politiker und Intellektuelle fasziniert das. Als ehemalige Sozialanwältin mit migranter Klientel ist sie mit allen Wassern gewaschen und kennt sowohl die altlinken Diskurse als auch die totalitäre Versuchung in ihrer eigenen Partei. Sie ist so mächtig, dass sie intern die den Wahlerfolg gefährdenden Extreme niederhalten und nach außen eine bürgerliche Normalität zur Schau tragen kann. Eine verkorkste Innen- und Sozialpolitik von Sozialisten und Bürgerlichen spielt ihr in die Hände.

Was dem Front National aber noch viel mehr in die Hände spielt, ist die reale Lebenserfahrung von Hunderttausenden von Franzosen angesichts nicht mehr funktionierender Lebensverhältnisse. Die beängstigende Entwicklung einer diskursiven Hegemoniefähigkeit von Marine le Pen und den Polit-Profis in ihrer Umgebung wird von altlinken Debatten-Beteiligten inzwischen mit dem Eingeständnis quittiert, man habe die Schlacht mit den „Néo-Réactionnaires“ verloren. Zu diesen werden Leute wie Alain Finkielkraut gerechnet, der sich dagegen mit der Klarstellung wehrt, er sei kein Reaktionär, denn er finde die bestehende Republik gut und wolle sie verteidigen.

Wenn man sich diese Auseinandersetzung ein wenig anschaut, erkennt man, das der linke Diskurs einfach hilflos auf die laufende gesellschaftliche Modernisierung setzt, während diejenigen, die als Ketzer wider die Achtundsechziger-Dogmen auftreten, Fragen anschneiden, die die Identifikation mit der Republik und ihrem verfassten Wertekern betreffen. Der Pariser Politologe und Ideenforscher Prof. Daniel Lindenberg, der schon 2002 ein Buch über die „neuen Reaktionäre“ veröffentlicht hatte, stellt in dieser Zeitungs-Debatte (Le Monde 19.01.2016 DÉBATS: Les „néoréacs“ ont-ils gagné?) die These auf, dass die ehemaligen Linksintellektuellen heute einen anti-modernen Diskurs vorantrieben, der die Nation durch „unassimilierbare Barbaren“ bedroht sehe; damit seien, so Lindenberg, aus der Sicht der „néoréacs“ auch Sprache, Laizität und das sichere Leben bedroht. Dieser Diskurs jedoch bereite dem Front National den Weg.

4. Mit dem Dahinscheiden der letzten Holocaust-Überlebenden wird der Nationalsozialismus zu einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte.

Gerade der Konservatismus in der öffentlichen Thematisierung des NS und des Holocaust droht die Erinnerungskultur zur bloßen Denkmalspflege zu machen. Es gibt hier einen hohen Anteil von Ritualen und Floskeln, die der jungen Generation gegenüber eine Vermittlung schwermachen. Die Thematisierung des NS erweist sich in der präventiven Ansprache potenziell gefährdeter junger Leute als weniger wirkungsvoll als früher. Das hat zwei Gründe. Erstens ist das Geschehene für sie „weit weg“. Zweitens haben sich die Agitationsmuster auch der Rechtsextremisten selber verändert. Neben dem bekannten völkisch-biologistischen Rassismus kommen Bekundungen eines „Ethnopluralismus“ zum Tragen, die strafrechtlich wesentlich weniger angreifbar sind.

In der pädagogischen Arbeit und im Wahlkampf habe ich häufiger erlebt, dass der Hinweis auf Hitler an den jungen Rechten von heute abperlt. „Der ist doch lange schon tot“, hieß es dann. In einer Schulklasse brechen bei der Thematisierung des NS zwar eventuell noch Fronten auf; aber die Bezugnahme im einen oder anderen Sinne lässt hinsichtlich der Bewertung der Bundesrepublik alles offen. Umgekehrt zeigt eine scharfe Gegnerschaft zu unserem Staat überhaupt nicht, wo jemand steht. In der Schroffheit der Ablehnung sind sich junge Antifa-Leute häufig mit jungen Rechten einig.

Ich habe als Politiklehrer selbst erlebt, dass NPD-Songs wie „Fuck the U.S.A.“ von Antifa-Jugendlichen so lange beifällig gehört wurden, bis die Strophe kam, wo der Text auf das „Deutschtum“ orientiert. Es kann also sein, dass ein rein historischer Unterricht über den NS keinen Beitrag zur Identifikation mit den Werten des Grundgesetzes, der rechtsstaatlichen Ordnung und der demokratischen Gesellschaft der Bundesrepublik liefert. Lehrkräfte, die selber eine große innere Distanz zu diesem Staat haben, werden den Aufbau einer solchen Identifikation wahrscheinlich nicht leisten, sondern die politische Skepsis ihrer Schüler eher verstärken. Wir können uns also einen Geschichtsunterricht vorstellen, der über den Nationalsozialismus aufklärt, aber dennoch kein wirklicher Beitrag zur Demokratieerziehung oder -bildung ist.

5. Über dem demokratischen Europa ziehen dunkle Wolken auf.

Der letzte Bericht des Generalsekretärs des Council of Europe zeichnet ein betrübliches Bild von den Unzulänglichkeiten und der Degeneration der Demokratie in den 47 Mitgliedstaaten (State of democracy, human rights and the rule of law in Europe: A shared responsibility for democratic security in Europe. Report by the Secretary General of the Council of Europe, 2015). Neu ist, dass wir es offenbar in einigen Regierungen selbst mit Extremisten und erklärten Sympathisanten großer Diktaturen zu tun haben - eine pikante Herausforderung für die Europäische Union, der sie sich zumindest im Augenblick nicht gewachsen zeigt.

Im gesellschaftlichen Zusammenleben könnten sich durch die Einwanderung aus Bürgerkriegsgebieten die bei uns ansässige Demokratiefeindlichkeit und die neu hinzukommende Diktaturbiographie begegnen. Dass die beiden - miteinander oder gegeneinander - keinen Schaden anrichten, ist eine Herausforderung für unsere gesellschaftliche Strategie. Allerdings kommen zu uns nun auch sehr viele Menschen, die von Autokratie und barbarischer Unterdrückung die Nase voll haben und wissen wollen, wie ein humanes Zusammenleben funktioniert. Ich habe vor Jahren junge Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan und Sierra-Leone unterrichtet, die die Grundgesetzartikel begierig aufsogen und ganz genau wissen wollten, wie Demokratie funktioniert.

Die Grünen müssen sich also für die Einflussnahme auf Prozesse interessieren, die jenseits ihres vertrauten Feldes liegen. Sie müssten sich auch von ihren mürrischen Vorbehalten gegenüber „der“ Gesellschaft emanzipieren. Anstatt die neu Ankommenden am Kai sofort über die Ungerechtigkeiten des Aufnahmelandes zu informieren, müssten sie ihnen Mut machen, sich in der neu gewonnenen Freiheit zurechtzufinden, und ihnen die Chancen aufzeigen, in der neuen Heimat glücklich zu werden. Wenn am Kai hingegen eine depressive antiwestliche Skepsis wartet, ist das für die Ankommenden sicherlich kein Trost. Schon gar nicht ist es eine „Willkommenskultur“.

6. Die sich modernisierende CDU öffnet rechts von sich eine leere Spielfläche.

„Der Parteimann“, so lautet ein Aphorismus bei Nietzsche, „darf nicht zu intelligent sein. Denn sonst denkt er sich durch seine Partei schnell hindurch.“ Wenn wir also dumm sind und nur mechanisch die altbekannte Parteienkonkurrenz zum Klappern bringen, dann freuen wir uns über die Schwierigkeiten von Angela Merkel, deren Politik in der internationalen Berichterstattung teilweise schon in der Vergangenheitsform abgehandelt wird. Wenn wir nicht so dumm sind - und da freue ich mich über einige Worte von Spitzengrünen - empfinden wir die Situation als ein gemeinsames Dilemma von Frau Merkel und uns. Aber der Druck im Kessel wächst, und es ist nicht verkehrt, den Parteinachwuchs jetzt schon einmal zu trainieren für das konfliktreiche Gespräch mit sehr schwierigen Menschen. Dazu braucht man Bildung, Rhetorik, gute Nerven, eine realistische Gefahreneinschätzung - und vor allem eines: Freude am Streit.

7. Politik bleibt immer auch die Kunst, mit dem Anderen zu reden.

„Les Politiques“, das waren jene klugen französischen Anwälte, Kaufleute und gebildeten Menschen, die Frankreich den Weg aus blutigen Religionskriegen bahnten. Aus dem grünen Friedensideal ergibt sich die Verpflichtung auf eine Politik der gesellschaftlichen Verständigung. Also hingehen und auch dort reden, wo es unbequem ist. Nichts ist abgeschmackter als das Reden „über“ andere. Allerdings muss man in der direkten Konfrontation auch Argumente haben. Höcke bei Jauch - das war ein Lehrstück der verpassten Argumentationschancen. Ein Talkmaster, eine Politikredakteurin und zwei Minister greifen die politischen Leckerbissen „blonde deutsche Frau“, „tausendjähriges Deutschland“ und Schwarz-Rot-Gold als mitgebrachtes Taschentuch nicht auf, weil es ihnen an Sicherheit in der Bezugnahme auf historische Anspielungen oder Symbole fehlt.

Was viel schwerer wiegt, ist, wenn demokratische Politiker die Keule des moralischen Anstands schwingen; und bitter ist es, wenn die politische Klasse über die „kleinen Leute“, die bei Pegida herumstehen oder mitlaufen, herzieht. Was wir da erlebt haben, waren unnötige und törichte Beiträge zur Radikalisierung. Demokratische Politik kommuniziert immer, auch in schwierigen Lagen, eine positive Vision des Zusammenlebens - auch mit denjenigen, die sauer sind, verbittert, sich unverstanden fühlen und nicht einbezogen.

Es gibt keinen Grund, hochnäsig zu sein. Deutschland ist von der Staatszielbestimmung des Grundgesetzes in Art. 20.1, ein Sozialstaat sein zu wollen, weiter entfernt denn je. Seine Politiker sollten also ganz vorsichtig sein, wenn sie über „die da unten“ reden. Was passieren kann, wenn sie das nicht tun, hat der Choleriker Nicholas Sarkozy im Gerangel mit einem Bürger vorgemacht. Sein „Casse-toi, pauvre con!“ (etwa zu übersetzen mit: „Verpiss dich, du Blödhammel!“) ist inzwischen auf T-Shirts zum selbstironischen Ausweis der Ausgegrenzten geworden - und zur ätzenden Kritik an einer sich nur noch inzestuös reproduzierenden politischen Klasse.

8. Kluge demokratische Politik distanziert sich öffentlich vom demokratischen Populismus.

Im Umgang mit „Pegida“ haben auch bei uns einige demokratische Politiker ein Tabu verletzt und zur Hass-Sprache gegriffen („Pack“ usw.). Es sind prominente Amtsinhaber, die auch früher schon durch schlechte Erziehung aufgefallen sind. Sie treten mit anderen ihresgleichen in Bewertungskonkurrenz um den schärfsten Ausdruck. (Für Kanzlerin Merkel spricht, dass sie sich selber eine eiserne Sprachdisziplin auferlegt und ihr solche Entgleisungen nie passieren.)

Keine populistische Politik zu machen, ist eigentlich das Markenzeichen der Grünen. Deshalb ist die Schüchternheit, nicht zu kommentieren, wenn bei Partnern die Dinge aus dem Ruder laufen, eine verpasste Chance, mit der Öffentlichkeit darüber in einen Dialog einzutreten, wie wir mit dem neuen Phänomen umgehen sollten. Die eigentümliche politische Blässe der Grünen besteht darin, dass sie sich in solchen Situationen viel zu sehr zurückhalten.

9. In Zeiten der Angriffe auf das Prinzip des Art. 3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz) sind Parteien, die in die Besonderung verliebt sind, schlecht zu Fuß.

Mein Schreibprogramm ist so blöd, dass es mir das Wort "Besonderung" unterkringelt. Was ich damit meine, ist jedoch leicht erklärt. Die grünen-historische Referenz der gesellschaftlichen Minderheiten (s. unsere Programme der Gründungszeit), die Fixierung auf Gender- und Herkunftspolitik, die Parteinahme für vom Staat bedrängte spezifische Interessengruppen und der als argumentative Grundströmung immer durchlaufende Benachteiligungsdiskurs machen es einer Partei wie den Grünen schwer, sich positiv auf das Staatsganze und die freie Gesellschaft insgesamt zu beziehen.

Gerade der Anspruch, Geschlecht, Ethnie, Religion und Herkunft dem Verfassungsprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu unterwerfen, findet daher in die grüne Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit kaum Eingang. Die Grünen haben sich deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung viel stärker als sie wollten zu einer Klientelpartei entwickelt, die für die Allgemeinheit nicht zuständig ist.

Das ist in Zeiten, in denen totalitäre Strömungen zum Generalangriff auf die Freiheit blasen, ein existenzieller strategischer Nachteil. Die Grünen müssen sich fragen, ob sie in ihren Beiträgen zur Information der Öffentlichkeit und zur politischen Bildung die Möglichkeit bieten, sich in die Demokratie zu verlieben - wie es jemand in einer grünen-internen Hamburger Gesprächsrunde ausdrückte. Dazu brauchen sie einen Entwurf des pluralen Zusammenlebens in Absehung von Herkunftsbesonderheiten. Sie sind so gebildet und so privilegiert, dass sie eine besondere Verantwortung haben; denn was jetzt schäumend und tobend in den politischen Raum zurückkommt, sind die bereits vor Jahren abgeschriebenen, resigniert zurückgelassenen Nichtwähler.

Wenn eine besonders radikale Sprecherin der Pegidisten nun zu hören ist mit dem Ruf nach einer Revolution, dann müssen sich die Grünen darauf zurückbesinnen, dass sie selber zumindest das Produkt einer großen Protestbewegung in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen sind, die sich als revolutionär verstanden oder zumindest als solche dekoriert hat. Eigentlich müssten sie aufgrund ihrer Biographie besser als andere in der Lage sein, mit einem revolutionären Potenzial umzugehen. Doch leider sind sie dazu viel zu geschichtslos.

10. Totalitäre Mythen wuchern dort, wo demokratische Erzählungen fehlen.

Der massenwirksamen Faszination von Reichsvisionen, Gottesstaaten oder ähnlichen Utopien lässt sich nur begegnen, wenn die Umworbenen über eine demokratische Identität verfügen. Diese basiert nicht nur auf einem Set von demokratischen Handlungskompetenzen, sondern auch auf einer emotionalen Bindung an die Verfassungswerte und auf einer Verinnerlichung der Geschichte dieser Republik. Ohne eine „innere Republik“ als ganz persönliches Staatsverständnis geht es nicht.

Wir schauen jedoch leider in einen Abgrund an politisch-historischer Unbildung in der PISA-Schule, beim Lehrernachwuchs und bei der politischen Klasse. Auch die meisten grünen Führungskräfte scheuen grundsätzliche Statements zu Freiheit, Staat, Gesellschaft und Lebensstil. Man macht halt so seine Politik im Hier und Jetzt, und bis auf die großen Berufungen im thematischen Zusammenhang des NS reflektiert man öffentlich keine politische Geschichte im Hinblick auf die in ihr enthaltenen Lehren. Die Geschichte vor 1968? Nie erörtert. Die Jahre des Außenministers Fischer? In parteikollektiver Amnesie mit ihm verschwunden und nie aufgearbeitet. Nur was die Breite der Fahrradwege angeht, hat man sehr genaue Vorstellungen und kann darüber stundenlang räsonieren.

Ein Mensch, in dessen Schulzeit das Porträt des politischen Führers in jedem Klassenzimmer hing, wird uns deshalb, eingewandert in die Bundesrepublik, vielleicht die Frage stellen, an wem oder was wir uns orientieren. Natürlich würde uns Deutschen beim Thema Führer ganz viel einfallen. Aber wenn wir fertig wären, würde er eventuell nachfragen, ob es für uns nicht doch so etwas wie ein politisches Credo gebe (auch wenn er es nicht so ausdrücken würde). Wenn wir dann irgendetwas Kommunalpolitisches vor uns hinstammeln würden, würde er uns womöglich mit der Frage behilflich sein, was das denn für ein Land sei, in dem er gelandet ist. Wie beim „Kleinen Prinzen“ von Saint-Exupéry könnte ich dieses Gespräch hier weiter ausmalen.

Ich glaube, ich brauche es nicht zu tun, weil klar geworden ist, dass die Ankunft so vieler Neu-Europäerinnen und Neu-Europäer eine wunderbare Gelegenheit sein wird, sich Fragen zu stellen, die wir uns schon lange nicht mehr gestellt haben. Bei meiner eigenen Partei habe ich den Eindruck, dass sie derart in ihrem Pragmatismus untergegangen ist, dass sie ein solches Gespräch in den Bereich des Transzendentalen verbannen würde.

Aber es könnte ja sein, dass wir ein demokratisches Charisma benötigen, das auf einem aufgeklärten Geschichtsbewusstsein fußt, wenn denn die Erschütterungen unseres politischen Systems so groß werden sollten, dass sich die Berliner Republik in eine Dresdner Republik zu verwandeln droht.